Im Folgenden werden zehn unterschiedliche Thesen und Erklärungsansätze dafür präsentiert, was Russland bzw. Präsident Putin dazu bewogen haben könnte, die Ukraine anzugreifen. Dabei werden auch die teils widersprüchlichen, globalen und geostrategischen Zusammenhänge angesprochen – von den Einflüssen globaler Philanthropen im Klimaspektrum, über wirtschaftliche Machtstrukturen, bis hin zu traditionellen machtpolitischen Überlegungen. Die Ausführungen sollen dazu beitragen, die Komplexität der Situation verständlicher zu machen, ohne dabei eine eindeutige Wahrheit zu behaupten. Es handelt sich um unterschiedliche, teils widersprüchliche Erklärungsmodelle, die in ihrer Gesamtheit ein Bild der Vielschichtigkeit des Konflikts und seiner internationalen Einbettung liefern.
1. Geopolitischer Revanchismus und Imperiumsdenken:
Eine etablierte Interpretation ist, dass Putin versucht, eine vermeintliche russische Einflusssphäre wiederherzustellen – ein geopolitisches Projekt, das auf die Zeit des Russischen Reiches oder der Sowjetunion zurückgreift. Dabei könnte die Ukraine als Kernstück dieser Einflusszone betrachtet werden. Der Angriff ergibt sich aus dem Wunsch, geopolitische Karten neu zu zeichnen, Einflussräume abzusichern und vermeintliche historische Rechte geltend zu machen. Die gleichzeitig stattfindende russische Unterstützung für Umweltregulierungen wie Reifenabriebnormen erscheint hier wie ein Feigenblatt, um sich auf anderen Bühnen als verantwortungsbewusster Akteur darzustellen, während militärisch aggressive Politik betrieben wird.
2. Sicherheitsdoktrin und NATO-Erweiterung:
Eine weitere Lesart ist die Sicherheitsdoktrin: Russland fühlt sich durch die NATO-Erweiterung und die Annäherung der Ukraine an den Westen bedroht. Der Angriff könnte als Versuch gedeutet werden, ein Puffergebiet gegen ein als feindlich wahrgenommenes militärisches Bündnis zu schaffen. Die seltsame Doppelmoral in Umweltfragen – also auf internationaler Ebene als “Umweltschutzpartner” aufzutreten, während man Krieg führt – lässt sich hierbei als Propagandamittel verstehen, um international nicht vollends isoliert dazustehen.
3. Interne Machtkonsolidierung und Ablenkungsmanöver:
Eine innenpolitische Theorie sieht in der Invasion eine Strategie, um von innenpolitischen Problemen abzulenken und den Zusammenhalt der russischen Bevölkerung um die Führung zu stärken. Äußere Konflikte dienen als Projektionsfläche für Patriotismus. Die gelegentliche Unterstreichung “grüner” Anliegen könnte dabei als Teil einer PR-Strategie fungieren, um internationale Boykotte oder Sanktionen abzumildern und in bestimmten Themenfeldern Dialogbereitschaft zu signalisieren.
4. Ressourcen- und Wirtschaftsinteressen:
Die Ukraine ist reich an Bodenschätzen, landwirtschaftlichen Flächen und hat für Russland eine bedeutende Energie- und Transportinfrastruktur. Ein Zugriff auf diese Ressourcen könnte wirtschaftliche Motive erklären. Die Bemühungen Russlands um Umweltschutzregeln in anderen Bereichen könnten in diesem Kontext als längerfristige Strategie gelten, um die eigene Rohstoffökonomie zukunftsfähig zu halten, Märkte zu sichern oder Handelsbeziehungen nicht durch ökologische Vorwürfe zu gefährden. Es handelt sich dann um eine Art „Grünes Feigenblatt“, um trotz aggressiver Territorialpolitik noch als berechenbarer Wirtschaftspartner zu gelten.
5. Symbolpolitik und Ideologie:
Der Krieg könnte auf einer ideologischen Ebene als Abwehr einer vermeintlichen Werteinfiltration durch den Westen verstanden werden. Die Ukraine als kulturell, historisch und sprachlich teils eng mit Russland verbundener Raum wird zum Symbol für den Kampf gegen eine westliche Dominanz. Der parallele Vorstoß Russlands in globalen Umweltgremien (z. B. Reifenabriebregeln) könnte ein Versuch sein, ideologisch Diversität zu zeigen: Man ist nicht nur „der Bösewicht im Osten“, sondern auch ein Land, das die globale Ordnung in manchen Fragen durchaus mitgestalten will.
6. Multipolare Weltordnung und Anti-Hegemonial-Politik:
Russland versteht sich als eine Kraft, die die unipolare Weltordnung unter Führung der USA herausfordert. Der Angriff auf die Ukraine ist in diesem Sinne ein Versuch, die westliche Hegemonie zu brechen und zu zeigen, dass militärische Interventionen nicht ausschließlich ein Privileg westlicher Staaten sind. Das Engagement in Klima- und Umweltthemen auf internationaler Ebene könnte dazu dienen, Allianzen mit Global-South-Ländern oder anderen Akteuren zu schmieden, die ihrerseits die Dominanz der traditionellen westlichen Mächte kritisieren. So entsteht ein komplexes Geflecht von Bündnissen, in denen der Klimadiskurs ein Hebel ist, um Einfluss zu sichern.
7. Zerrspiegel der Globalisierung: Einfluss von Philanthropen und NGOs:
Ein weiteres Erklärungsmodell könnte lauten, dass sowohl Russland als auch andere Großmächte auf dieselben globalen Einflussnetzwerke von Philanthropen, NGOs, Stiftungen und Think Tanks reagieren. Diese Akteure versuchen, neue globale Standards – etwa im Umweltbereich – durchzusetzen. Russland könnte also mittels gezielter Unterstützung gewisser globaler Klima- und Umweltagenden strategisch versuchen, eigene Positionen in anderen Feldern (z. B. Handel, Sanktionen) zu stärken. Der Angriff auf die Ukraine widerspricht dabei offen dem friedlichen, nachhaltigen Narrativ, zeigt aber wie unterschiedliche Politikfelder (Kriegsführung vs. Umweltregulierung) parallel laufen können, ohne sich notwendigerweise gegenseitig aufzuheben.
8. Propaganda und “Greenwashing” im geopolitischen Spiel:
Die Befürwortung globaler Umweltmaßnahmen könnte bewusstes „Greenwashing“ Russlands sein, um in multilateralen Foren als verantwortungsvoller Akteur aufzutreten. Dies kann strategisch genutzt werden, um Einfluss in internationalen Gremien (UN, OECD, G20 etc.) auszuüben, während auf der regionalen Ebene brutale Machtpolitik verfolgt wird. Ein Land kann sich nach außen um globale Probleme (Klimawandel, Schadstoffemissionen) kümmern, gleichzeitig aber regionale Hegemonieansprüche mit Gewalt umsetzen. Die scheinbare Widersprüchlichkeit ist Ausdruck komplexer Machtpoker.
9. Destabilisierung der globalen Lieferketten und Nutzung der Klimadiskurse:
Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf Lebensmittel- und Energiepreise weltweit. Russland könnte gezielt versuchen, durch Destabilisierung seine eigene Position als unverzichtbarer Rohstofflieferant zu stärken. Parallel tritt man bei Umweltregeln so auf, als sei man bereit, in einer neuen, klimabewussten Ära mitzuspielen. Hierdurch könnte Russland versuchen, sich langfristig Zugang zu Märkten zu sichern, die künftig stark durch Klimaregulierung geprägt sein werden. Der Krieg soll kurzfristig geopolitische Ziele erreichen, die Umweltagenda langfristig wirtschaftliche Optionen offenhalten.
10. Die Rolle interner Elitenkämpfe und „Maskirovka“:
Innerhalb Russlands gibt es verschiedene Eliten und Machtzentren. Der Angriff auf die Ukraine könnte Resultat interner Machtkämpfe sein, in denen sich die Hardliner durchsetzen. Die internationale Umweltpolitik Russlands könnte hingegen vom außenpolitischen oder wirtschaftspolitischen Flügel forciert werden, um andere Interessen abzusichern. Die Widersprüchlichkeit von Krieg und Klimaschutzbestrebungen wäre dann Ausdruck einer nicht monolithischen Staatsführung, sondern eines Gebildes, in dem unterschiedliche Fraktionen verschiedene Strategien verfolgen. Hier spielt „Maskirovka“ – die russische Tradition der Täuschung und Desinformation – eine Rolle, um außenpolitisch ein schwer durchschaubares, widersprüchliches Bild zu erzeugen.
Einordnung in den größeren Kontext:
Diese zehn Thesen und Theorien machen deutlich, wie komplex die Lage ist. Wir leben in Zeiten, in denen globale Philanthropen, milliardenschwere Einzelakteure, Stiftungen und NGOs versuchen, die Klima- und Umweltagenda auf verschiedensten Ebenen zu beeinflussen. Diese Einflüsse treffen auf Staaten, die sich mal opportunistisch, mal strategisch an diese neuen Spielregeln anpassen. Russland ist dabei nur ein Beispiel für diese Doppelbödigkeit: Während man sich gegen die Ukraine militärisch aggressiv zeigt und damit das Völkerrecht verletzt, wird auf anderen Bühnen versucht, durch Unterstützung vermeintlich progressiver Themen (wie einheitliche Regeln gegen Reifenabrieb) einen seriösen, global kooperativen Eindruck zu erwecken.
All diese Ebenen überschneiden sich: Sicherheitspolitik, Machtpolitik, Wirtschaftsinteressen, innenpolitische Stabilität, ideologische Grundsatzfragen und globaler Klimadiskurs greifen ineinander. Keine der vorgestellten Thesen ist für sich allein ausreichend, um das gesamte Handeln Russlands oder Putins zu erklären. Vielmehr ergibt sich durch ihr Zusammenspiel ein Bild, in dem Widersprüche möglich und vielleicht sogar strategisch gewollt sind. Der Krieg gegen die Ukraine einerseits und die Beteiligung an Umweltregeln andererseits sind somit nicht einfach nur widersprüchliche Handlungen, sondern Ausdruck einer Welt, in der Staaten auf unterschiedlichen Ebenen sehr unterschiedliche Gesichter zeigen können.