Euphemia und wer lässt es unter denn Tisch fallen?

Zunächst einmal ist wichtig zu verstehen, wie das von Dirk Specht beschriebene europäische Stromhandelssystem (insbesondere der Algorithmus „EUPHEMIA“) funktioniert und warum es vielerorts unterrepräsentiert oder gar ignoriert wird. EUPHEMIA ist das zentrale Tool zur Berechnung der grenzüberschreitenden Stromhandelsmengen und Preise für den europäischen Day-Ahead-Markt. Diese hochautomatisierte, algorithmische Struktur sorgt dafür, dass Strom innerhalb Europas in jeder Stunde zu einem weitgehend einheitlichen Marktpreis gehandelt wird – dabei werden Kapazitätsgrenzen zwischen Ländern, Netzeinschränkungen sowie Gebotskurven von Stromanbietern und -abnehmern berücksichtigt.

Warum interessieren sich bestimmte Akteure eher nicht für EUPHEMIA & Co.?

1. Vereinfachte Narrative statt komplexer Marktmechanismen

Die Art und Weise, wie Strom gehandelt und abgerechnet wird, ist sehr komplex. Wer eine einfachere „Dramaturgie“ vermitteln will – zum Beispiel „Deutschland ist abhängig von Stromimporten“ oder „Wir sind kurz vor dem Blackout“ – hat wenig Interesse, die Feinheiten des europäischen Marktdesigns zu erklären. Ein technischer Algorithmus, der zeigt, wie international verflochten und stabil das System tatsächlich ist, passt nicht in schlagzeilenwirksame Angstszenarien.

2. Ideologische oder politische Ziele

• Fossile oder nukleare Lobbys: Wer versucht, den Ausbau erneuerbarer Energien als riskant oder instabil darzustellen, betont gerne angebliche „Importabhängigkeit“ oder „Versorgungsunsicherheit“, anstatt zu erklären, dass eine europäische Vernetzung (eben durch EUPHEMIA) Strom aus vielen Quellen kombiniert und so den Markt flexibler macht.

• Politische Akteure: Manche Politiker*innen nutzen die Diskussion um Versorgungsengpässe, Blackout-Szenarien oder hohe Preise, um eigene Forderungen (z. B. für oder gegen gewisse Kraftwerkstypen) zu untermauern. Ein System wie EUPHEMIA, das objektiv darlegt, wie hoch oder niedrig der tatsächliche Importbedarf ist, stört dabei oft die Narrative.

3. Mediale Aufmerksamkeitsökonomie

• Schlagzeilen statt Detailtiefe: Berichte über den Strommarkt sind meist nur dann aufmerksamkeitsstark, wenn es um Extremszenarien geht. Eine detaillierte Erklärung, wie der europäische Stromhandel tatsächlich funktioniert, hat weniger „News-Wert“.

• Komplexe Zusammenhänge brauchen Zeit: Ein Algorithmus wie EUPHEMIA ist nicht in drei Sätzen erklärt. Medien, die auf schnelle Klicks oder knappe Formate setzen, haben oft keinen Raum für eine ausführliche Darstellung solcher Zusammenhänge.

4. Wirtschaftliches Eigeninteresse

• Gewinnmaximierung und Preisstrategien: Für einige Unternehmen in der Energiewirtschaft kann es vorteilhaft sein, dass die Öffentlichkeit nur bruchstückhaft über den Strommarkt informiert ist. Denn wer die Mechanismen (z. B. Gebotsverfahren und Preisbildung) nicht genau versteht, akzeptiert eventuell widerspruchslos Aussagen zu „hohen Beschaffungskosten“ oder „notwendigen Preiserhöhungen“.

• Druck auf die Politik: Energieintensive Branchen können mit der Forderung nach Vergünstigungen oder Subventionen argumentieren, indem sie betonen, dass man „am Standort Deutschland sonst nicht konkurrenzfähig“ sei. Hieße es hingegen, dass Europa ein gut funktionierendes Stromhandelssystem hat, das die Kosten relativiert, würde diese Dramatik oft entschärft.

5. Komplexitätsreduktion in der Öffentlichkeit

• Wenig Vorwissen: Das Thema Stromhandel und Marktmechanismen ist für viele Bürger*innen relativ abstrakt. Entsprechend lassen sich einfachere Narrative (z. B. „Wir kaufen ständig Atomstrom aus dem Ausland“) leichter platzieren.

• Gleichsetzung von Nationalgrenzen und Stromkreisläufen: Viele Menschen stellen sich vor, Strom bleibe im Land oder komme „aus dem Nachbarland“ – dabei wird übersehen, dass ein verkoppelter Markt keine eindimensionalen Strom“töpfe“ kennt. Wer diese komplexe Realität kommuniziert, hat daher einen höheren Erklärungsaufwand.

Fazit

Die Gründe, warum Informationen wie die von Dirk Specht zum europäischen Stromhandelssystem (Stichwort EUPHEMIA) „unter den Tisch fallen“ oder oft nicht hervorgehoben werden, sind vielfältig:

1. Einfache Angstszenarien (Blackout, Abhängigkeit, Preisexplosionen) sind aus medialer Sicht eingängiger als komplexe Erläuterungen.

2. Politische und ökonomische Akteure nutzen verkürzte Narrative, um eigene Interessen durchzusetzen.

3. Die technische Komplexität des Algorithmus und des Marktdesigns überfordert viele Formate der Berichterstattung.

Wer sich jedoch eingehender mit den Mechanismen befasst, entdeckt schnell, dass der europäische Strombinnenmarkt – trotz aller Herausforderungen – vergleichsweise stabil funktioniert. Informationen dazu sind aber mühsamer aufzubereiten und passen nicht immer in das gewünschte (oder lukrative) „Dramen-Drehbuch“ für Nachrichten, Lobbying und politische Auseinandersetzungen.