Im Zusammenhang mit der Börse wird immer wieder darauf hingewiesen, wie stark menschliche Grundantriebe – manchmal auch als „Ur-Antriebe“ oder „archaische“/„fundamentale“ Motive bezeichnet – das Marktgeschehen beeinflussen. Diese Triebkräfte sind keineswegs neu, sondern begleiten uns im Grunde seit Jahrhunderten und haben sich im Kern kaum verändert. Sie beeinflussen nicht nur unsere alltäglichen Entscheidungen, sondern auch unser Verhalten als Anleger.
1. Was sind diese „Ur-Antriebe“ oder Grundmotive?
Die exakten Definitionen variieren je nach psychologischem Modell, aber häufig werden ähnliche Motive genannt. Ein mögliches Raster könnte diese zentralen Triebkräfte umfassen:
1. Sicherheit (Selbsterhaltung/Furcht)
• Ur-Antrieb, Gefahren zu vermeiden (in der Börsensprache: „Verlustaversion“).
• Furcht ist ein starkes Motiv. Wenn Kurse einbrechen, übersteuert oft die Angst vor weiterem Verlust jede rationale Überlegung.
2. Gier/Belohnung (Wunsch nach Vermehrung)
• Streben nach Gewinn und finanzieller Verbesserung.
• An der Börse spiegelt sich das unter anderem in Spekulationsblasen, wenn Anleger sich von massiven Kursgewinnen mitreißen lassen.
3. Anerkennung/Status
• Der Wunsch, in einer Gruppe als kompetent oder erfolgreich wahrgenommen zu werden.
• Börsianer berichten häufig, dass sie sich ungern als „Verlierer“ outen oder Angst davor haben, „die Rallye zu verpassen“. Statusdenken kann daher Herdenverhalten fördern (alle springen auf einen Trend, um „dabei zu sein“).
4. Neugier und Spieltrieb
• Menschen haben von Natur aus den Drang, Neues zu entdecken und Risiken einzugehen (bis zu einem gewissen Grad).
• Das Spekulieren mit Aktien kann für manche Menschen auch eine Form des „Spiels“ oder der intellektuellen Herausforderung sein.
5. Zugehörigkeit/Gruppendenken
• Der Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein und Bestätigung für die eigenen Entscheidungen zu erhalten („Social Proof“).
• An der Börse zeigt sich das in der Tendenz, Meinungen und Handlungen der Masse (oder bestimmter Gurus) zu übernehmen, statt auf die eigene Analyse zu vertrauen.
Je nach psychologischem Konzept finden sich noch weitere Motive (z.B. Wunsch nach Autonomie, Selbstverwirklichung etc.). Für die Börse sind jedoch besonders Angst/Furcht und Gier die oft angesprochenen Treiber, da sie unmittelbar spürbar sind und in Kursbewegungen münden.
2. Wie wirken diese Ur-Antriebe an der Börse?
Anleger treffen selten Entscheidungen rein rational – trotz aller Charts, Kennzahlen und Algorithmen. Letztlich spielen immer Emotionen eine Rolle. Diese Grundmotive führen zu verschiedenen Mustern:
1. Herdenverhalten
• Menschen neigen dazu, das Verhalten anderer zu kopieren, wenn sie unsicher sind („Vielleicht wissen die anderen mehr“). In aufstrebenden Märkten führt dies zu Übertreibungen (Blasen), in fallenden Märkten zu Panikverkäufen.
2. Dispositionseffekt
• Verluste werden nur ungern realisiert (Angst vor dem Eingeständnis eines Fehlers), während Gewinne zu früh mitgenommen werden (Freude über einen schnellen Gewinn).
3. Overconfidence (Übermäßiges Selbstvertrauen)
• Wenn es gut läuft, wird oft das eigene Können überschätzt. Das kann zu überzogenen Risiken führen.
4. Loss Aversion (Verlustaversion)
• Der Schmerz eines Verlusts wiegt psychologisch stärker als die Freude über einen gleich hohen Gewinn. Das erklärt, warum Anleger im Zweifel lieber in vermeintlich „sichere Häfen“ wie Gold oder Staatsanleihen flüchten und Risiken meiden.
3. Wie kann man diese Kenntnisse für sich nutzen?
Wenn man verstanden hat, welche Grundantriebe in uns wirken, kann man bewusster agieren und Strategien entwickeln, die diese verzerrenden Einflüsse abfedern – oder sie sogar für sich nutzen.
1. Bewusstsein schaffen und Regeln setzen
• Sich klarmachen, dass man als Anleger genauso anfällig für Angst und Gier ist wie alle anderen.
• Feste Regeln definieren (z.B. maximale Verlustgrenze, klarer Ausstiegsplan bei Gewinnzielen). So kann man Emotionen etwas aushebeln.
2. Gegen den Strom denken (Contrarian-Ansatz)
• Wenn die Mehrheit vor Panik flüchtet, bieten sich oft Kaufgelegenheiten.
• Läuft ein Markt heiß und alle steigen euphorisch ein, kann es sinnvoll sein, vorsichtiger zu werden oder Gewinne mitzunehmen.
3. Langfristige Perspektive bewahren
• Sich nicht von kurzfristigen Schwankungen nervös machen lassen.
• Statt aus Angst oder Gier impulsiv zu handeln, helfen langfristige Strategien (z.B. Value Investing, Trendfolge mit Disziplin etc.).
4. Diversifikation
• Da Angst sich schnell auf ein einziges, konzentriertes Investment auswirkt, hilft Verteilung des Kapitals auf verschiedene Anlagen, um Emotionen zu beruhigen.
5. Automatisierte Strategien oder Checklisten
• Um emotionale Kurzschlussreaktionen zu minimieren, nutzen viele Profis systematische Ansätze oder Checklisten (z.B. Fundamental- oder technische Signale).
• Eine feste „Handelsroutine“ kann verhindern, dass man im emotionalen Ausnahmezustand falsche Entscheidungen trifft.
6. Psychologische Studien nutzen
• Es gibt seit Jahrzehnten fundierte Forschung (Behavioral Finance), die typische Anlegerfehler (Biases) aufzeigt.
• Wer weiß, wie andere auf gewisse Marktveränderungen reagieren, kann versuchen, den „Massenimpuls“ in der Preisbildung zu antizipieren oder zu vermeiden, selbst hineingezogen zu werden.
Fazit
Die „Ur-Antriebe“ des Menschen – speziell Furcht, Gier, Streben nach Anerkennung und Zugehörigkeit – sind auch an der Börse enorm wirksam. Erst ihr Zusammenspiel mit rationalen Marktmechanismen erzeugt Phasen der Übertreibung, Kursrallyes und dramatische Einbrüche. Wer die psychologischen Grundlagen kennt, kann versuchen, sein eigenes Verhalten zu steuern oder sogar davon zu profitieren, dass andere sich massenhaft von diesen Trieben leiten lassen.
Grundprinzip: Langfristig erfolgreich sind oft jene, die ihre Emotionen (Angst und Gier) gut im Griff haben, antizyklisch denken, feste Handelsregeln aufstellen und sich nicht vom allgemeinen Herdentrieb leiten lassen. Damit lassen sich diese seit Jahrhunderten gültigen Ur-Antriebe – obwohl sie tief in uns verankert sind – zum eigenen Vorteil nutzen, anstatt ihnen blind zu unterliegen.