
Zusammenfassung des Buches „Das Deutsche Demokratische Reich“ von Volker Weiß – mit besonderem Fokus auf die Nutzung von Narrativen, Social Media, die Doppelgänger-Kampagne, YouTube-Kommentare und digitale Reichweite:
1. Narrative als politisches Werkzeug
Im Zentrum des Buchs steht die Analyse rechter Geschichts- und Identitätspolitik. Narrative – also sinnstiftende Erzählungen – sind dabei das zentrale Werkzeug. Rechte Akteure rekonstruieren Vergangenheit gezielt, um eigene Weltbilder zu legitimieren. Besonders beliebt sind dabei Synekdochen: Einzelaspekte – etwa autoritäre Elemente der DDR oder konservative Ideale der Sowjetunion – werden als pars pro toto stilisiert und zur positiven Gesamtdeutung uminterpretiert. So entsteht eine antikommunistische DDR-Nostalgie, die autoritäre Ordnung als positiv erinnert, während gleichzeitig westliche Demokratien delegitimiert werden .
Diese Umdeutungen wirken durch die Wiederholung.
Begriffe wie „Freiheit“, „Demokratie“ oder „Kommunismus“ werden neu belegt. Diese Strategie nennt Weiß – angelehnt an die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse – eine „Subversion von oben“, bei der politische Eliten oder ideologische Influencer
Begriffe umcodieren .
2. Die „Doppelgänger“-Kampagne – hybride Kriegsführung Russlands
Ein zentrales Kapitel widmet sich der Desinformationskampagne „Doppelgänger“, die vom Bayerischen Verfassungsschutz 2024 analysiert wurde. Dabei handelte es sich um eine russische Operation, die Fake-Seiten etablierter Medien, eigens betriebene Nachrichtenseiten in Landessprache und soziale Netzwerke nutzte. Ziel war die Verbreitung prorussischer und antiwestlicher Narrative – in Deutschland, Frankreich, den USA, Israel und der Ukraine .
(Anmerkung: Die Kampagne erreichte m.e. noch nicht mal wirklich viel Leute, m.e. max 800K, die Frage ist, besonders Anfällige Personen? M.e. ist die deutlich größere Gefahr durch die Meinungsverstärkenden Bots und Trolle, die überall diese Staatszersetzenden Kommentare hinterlassen)
Die Methoden:
Fake-News-Webseiten im Look seriöser Medien, eigene Plattformen mit „alternativer“ Berichterstattung, Verbreitung echter, aber aus dem Kontext gerissener Nachrichten via Telegram, Facebook, Twitter/X.
Diese hybride Kriegsführung zielte auf Unsicherheit, Polarisierung und die Schwächung demokratischer Institutionen. Besonders begünstigt wurden dabei rechte Parteien wie AfD und BSW .
3. Social Media als Radikalisierungsmaschine
Social Media – insbesondere YouTube, Telegram und Facebook – wird im Buch als zentrale Plattform der Radikalisierung beschrieben. Russland nutze diese Medien gezielt zur emotionalen Eskalation, besonders im Kontext von Ukrainekrieg, Corona, Flüchtlingspolitik oder Bauernprotesten .
Ein Beispiel:
YouTube-Kommentare unter scheinbar historischen Videos wie von „Dr. Ludwig – dem Deutschtum zur Ehr’“ sind voll mit verklärter DDR-Nostalgie, antidemokratischen Aussagen und sowjetischen Heldennarrativen – alles in einer bewusst „wissenschaftlich“ klingenden Rhetorik, die Laien suggeriert, man würde hier echte Geschichtsaufarbeitung sehen .
Zugleich agieren Figuren wie „Nina Byzantina“ mit hunderttausenden Followern auf X/Twitter als Transmissionsriemen russischer Sichtweisen – oft unter dem Deckmantel historischer Einordnung .
4. Wirkung und Reichweite der Kampagnen
Trotz oft belächelter Machart erreichen diese Kampagnen teils hohe Reichweiten und Kommentarzahlen. Das liegt an:
- Emotionaler Ansprache („Wir gegen die Eliten“)
- klaren Feindbildern (EU, Ukraine, USA, Grüne)
- suggerierter Authentizität (Nostalgie, Regionalstolz, angebliche Meinungsfreiheit)
- algorithmischen Verstärkern (YouTube-Empfehlungen, Telegram-Gruppen)
Beispielhaft ist ein massenhaft geteilter Spruch: „Ostdeutsch ist heute ein Kompliment“. Dieser populäre Slogan bündelt Oststolz, vermeintliche Bildungshochheit und eine implizite Abwertung des Westens – oft garniert mit rassistisch-völkischem Unterton (Stichwort „saubere Ahnentafel“) .
Der Autor macht klar: Solche „witzigen“ Memes oder Sprüche fungieren als Einstieg in tiefere ideologische Erzählungen. YouTube-Kommentare wirken als Echokammern, in denen Narrative normalisiert und verstärkt werden.
5. Politische und gesellschaftliche Folgen
Diese digitalen und narrativen Strategien tragen laut Weiß zum Rechtsruck in Deutschland und Europa bei. Russland, so der Vorwurf, schürt gezielt „Zukunftsangst“, um rechte Parteien zu stärken und die Gesellschaft zu destabilisieren. Die Desinformationsmaßnahmen sind dabei industriell organisiert – durch sogenannte „Ideologische Streitkräfte“ des russischen Militärs .
Zugleich werden westliche Demokratien systematisch als „totalitär“ gebrandmarkt – eine Ironie angesichts der repressiven Zustände in Russland selbst.
In der Corona-Pandemie wurde dies besonders deutlich:
Russische Medien diffamierten westliche Maßnahmen, obwohl in Russland selbst viel härter durchgegriffen wurde .
Die langfristige Strategie: Misstrauen säen gegenüber Staat, Medien, Wissenschaft – und eine völkisch-nationalistische „Normalität“ aufbauen.
Fazit
Volker Weiß zeigt mit „Das Deutsche Demokratische Reich“ eindrücklich, wie Geschichte, Sprache und Social Media instrumentalisiert werden. Das Buch ist kein trockenes Werk über DDR-Nostalgie, sondern eine hochaktuelle Analyse ideologischer Kriegsführung, in der YouTube-Kommentare, Meme-Kultur und manipulative Begriffe keine Nebensache, sondern das Herzstück der Auseinandersetzung um Demokratie und Aufklärung sind.
Im Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“ finden sich mehrere Passagen, in denen die russische Einflussnahme auf linke Gruppen, Umweltbewegungen oder Friedensbewegte thematisiert wird – auch wenn nicht explizit Fridays for Future genannt wird. Die zentrale Erkenntnis: Russland verfolgt eine opportunistische Strategie, in der sowohl rechte als auch linke Narrative und Gruppen gezielt instrumentalisiert oder unterwandert werden.
1. Nutzung linker oder abweichender Stimmen für russische Narrative
„Dafür sei auf einen ›bestimmten Pool zuverlässiger europäischer Politiker‹ als Kronzeugen zurückgegriffen worden, ›gewöhnlich mit linken oder rechten Ansichten‹. Mitunter hätten diese in Russland sogar mehr Bekanntheit als in ihren Heimatländern erlangt, ›da die Beiträge der russischen Propaganda regelmäßig deren ›Expertenmeinung‹ präsentieren.‹“
→ Linke Kritiker:innen westlicher Politik (z. B. Impfgegner, NATO-Kritiker, Globalisierungsgegner) werden strategisch hervorgehoben, um Misstrauen gegenüber dem „Wertewesten“ zu säen.
2. Friedensbewegung, Mahnwachen und Compact-Verlag
Ein besonders illustratives Beispiel ist die Kooption der Friedensmahnwachen 2014–2015:
„Von der Bedeutung der Montagsmahnwachen für das Compact-Magazin zeugt auch ein eigenes Dossier ›Frieden mit Russland‹ […], in dem die USA als alleinige Aggressoren ausgemacht werden.“
„Yasmin Pazio, die ich über die Mahnwachen kennengelernt hatte […], sollte später eine Stelle bei RT-deutsch bekommen.“
→ Es wird deutlich, dass prorussische Propaganda gezielt linke Symbole, pazifistische Parolen und DDR-Nostalgie nutzt, um neue ideologische Räume zu erobern.
3. Symbolische Vereinnahmung durch AfD und Russland
„Bei Friedensmahnwachen […] wurde die Parole der alten DDR-Friedensbewegung ›Schwerter zu Pflugscharen‹ gezeigt und damit für Verständigung mit Putin geworben.“
→ Alte Symbole der DDR-Umwelt- und Friedensbewegung werden bewusst ideologisch umcodiert – oft von AfD-Akteuren, unterstützt durch russische Medien und Influencer.
4. Strategisches Ziel: Entsolidarisierung & Misstrauen
„Falschinformationen in Deutschland ›sollen die Zukunftsangst erhöhen‹ und rechte Parteien stärken […]. Die Desinformation entfaltet ihre Wirkung schleichend, indem sie das Misstrauen gegenüber Staat, Regierung und traditionellen Medien schürt.“
→ Ziel ist nicht nur die Förderung rechter Parteien, sondern die allgemeine Desorientierung der Bevölkerung – auch über Kanäle, die als „links“, „ökologisch“ oder „alternativ“ wahrgenommen werden.
Fazit
Im Buch wird keine gezielte russische Einflussnahme auf Gruppen wie Fridays for Future erwähnt. Aber:
- Linke Friedensgruppen, Umweltbewegte und Systemkritiker wurden – ähnlich wie rechte Akteure – gezielt vereinnahmt oder kooptiert.
- Russland nutzt hybride Medienstrategien, um konträre Gruppen gleichermaßen mit Antiwest-Narrativen zu bespielen.
- Inszenierungen in pazifistischem, ökologischem oder sozialem Gewand sind Teil einer soften Unterwanderung.
Ein paar Stellen aus dem Buch!
[…]Die Kritik am Umgang mit migrantischer Arbeit im Westen, die ganz unabhängig von der NS-Zwangsarbeit gerechtfertigt ist, wäre glaubwürdig, wenn diese Form der Ausbeutung auch für das eigene Land thematisiert worden wäre oder es eine Aufarbeitung des sowjetischen Zwangsarbeitssystems gegeben hätte. Solche Reflexionen blieben jedoch aus, wie auch die Tatsache, dass Russland über seine Kriegspolitik in Syrien und der Ukraine selbst Fluchtbewegungen gen Europa initiiert hat. In diesem Kontext vorgetragen und von maßlosen Vergleichen gerahmt, blieben die Äußerungen der offiziellen außenpolitischen Sprecherin reine Propaganda. Passend dazu gerieten in den Statements schließlich alle historischen Elemente durcheinander, und am Ende stand die ahistorische Parallelisierung, der Westen agiere wie »die Nazis«:
»Die Westler und ihre Kiewer Schützlinge bemühen sich zwar Russland zu schaden […]. Mit denselben Methoden (Verbrennung der Bücher, Verbot von Dichtern, Schriftstellern, Philosophen, Vernichtung von Millionen Menschen in Gaskammern, Erschießen, Vergruben [sic!] am lebendigen Leib) wollten die Nazis das Bewusstsein des Menschen ändern, damit er darauf verzichtet, was für ihn wichtig ist.«[26]
Ganz wie bei Putin (oder auch bei seinem Adepten Tillschneider) wird diese Sicht von der Dauerklage begleitet, der Liberalismus des Westens sei letztendlich ein gigantisches Projekt zur Zerstörung Russlands und der Totalentfremdung des Menschen von sich selbst.
So skurril die Mischung der Vorwürfe zu sein scheint, weder verfehlen sie ihre Wirkung, noch sind sie randständig.
Über Social-Media-Plattformen haben russische Institutionen Inhalte verbreitet, die einen ähnlichen Mix von Feindbildern aufwiesen. Russlands Botschaft in Bangladesch lancierte beispielsweise einen Post, der exemplarisch die Selbstsicht des Landes abbildete.
Ähnlich einer Ikone sind dort auf Goldgrund Familien, Popen und Engel zu sehen, die sich unter einem Schirm in den Farben der russischen Trikolore versammeln. Dieser Schirm bietet ihnen Schutz vor fünf fallenden Bomben, die jeweils mit Herkunftssymbolen versehen sind: Die erste trägt ein Hakenkreuz, die zweite Stars and Stripes, die dritte zeigt die Fahne der Europäischen Union und die vierte den Stern der NATO, und die fünfte ist schließlich im Stil der Gay Pride mit den Farben des Regenbogens gekennzeichnet. Sie alle regnen vereint auf die Familie des heiligen Vaterlandes herab.
Neben der Darstellung, die eine bemerkenswerte Feindkoalition von der Queer-Bewegung bis zum »Dritten Reich« herbeifantasiert, steht ein Zitat des russischen Ultranationalisten und orthodoxen Fundamentalisten Alexander Dugin, von dem später noch die Rede sein wird. Dem dort verwendeten Zitat zufolge befindet sich Russland bereits im Krieg mit der antireligiösen Zivilisation, und es stünden in diesem Kampf alle »spirituellen und moralischen Werte« der Menschheit auf dem Spiel: »Gott, die Kirche, die Familie, das Geschlecht, der Mensch«.
Russland präsentiert sich in diesem Bild als letzte Bastion, die bereitstehe, die ewigen Werte der Menschheit zu verteidigen. Eine Haltung, die sich für deutsche Rechtsextreme als attraktiv und anschlussfähig erweist.
Der Putin-Verehrer und Herausgeber des rechtsextremen Compact-Magazins, Jürgen Elsässer, hatte sein Damaskus-Erlebnis zum Wandel von scharf links nach scharf rechts, als er bei Besuchen orthodoxer Klöster auf dem Balkan feststellte, dass
»Frömmigkeit ein besseres Unterpfand gegen den Mahlstrom des
Globalismus ist als Marxismus«
New Statesman zufolge wurde Karaganow nach dem Angriff auf die Ukraine beauftragt, eine effektive Abschreckungsstrategie gegen den Westen zu entwickeln.
Diese schien aus russischer Sicht nötig geworden, da die westliche Welt, deren Darstellung zwar stets zwischen den Extremen dekadenter Schwäche und fundamentaler Bedrohung schwankte, in der Realität weder eingeknickt war noch selbst angegriffen hatte. Statt sich umgehend den Drohungen aus Moskau zu beugen, hatten
EU und USA entschieden, die Ukraine bei der Verteidigung zu unterstützen.
Daraufhin tischte Karaganow der Welt im Sommer 2023 eine weitere, noch drastischere Situationsanalyse auf, die zudem noch mit politischem Irrationalismus angereichert war.
Die Zeitschrift Osteuropa hat seinen Text als »Beispiel für die grassierende Radikalisierung der politischen Elite« Russlands ins Deutsche übersetzt.
Tatsächlich alarmiert Karaganows Text durch seine darin wie selbstverständlich enthaltene Androhung von Gewalt und imperialen Ansprüche. Er spricht davon, wie unbefriedigend ein Minimal- oder gar Teilsieg selbst bei Abtrennung größerer Gebiete der Ukraine wäre, da auch dann »trotzdem ein Stück Ukraine mit einer noch verbitterteren ultranationalistischen Bevölkerung auf einem Berg von Waffen übrig« bliebe.
Die erforderliche »Umerziehung« der ukrainischen Bevölkerung, so Karaganow mit Rückgriff auf das Vokabular des Stalinismus, nehme zu viel Zeit und Ressourcen in Anspruch. Daher führe für Russland kein Weg an einer vollständigen Kapitulation der Ukraine vorbei, für die allerdings zuvor der Westen bezwungen werden müsse. Im Gegensatz zur nüchternen machtpolitischen Positionierung im Gespräch mit dem New Statesman enthält diese Einschätzung nun deutlich ideologischere Elemente, die Züge einer politischen Theologie tragen, zugleich aber ein breites Spektrum von fortschrittlich bis konservativ konnotierten Argumenten abdecken.
Karaganow beschwört, ganz im dekolonialen Geist der Gegenwart, den Zusammenhalt der historisch Benachteiligten.
Er argumentiert, die westlichen Eliten und ihr System der Globalisierung seien mitsamt ihrer »Kompradoren« dem Untergang geweiht, das Kräfteverhältnis habe sich längst »zugunsten der globalen Mehrheit« verschoben. Daher gehöre einer anderen Allianz die Zukunft, denn die »ökonomische Lokomotive« dieses Prozesses seien mit China und »teilweise auch Indien« Russlands Freunde. Russland selbst erfülle in dieser neuen Weltordnung »die Rolle des militärstrategischen Stützpfeilers«.[31]
Die Darstellung erinnert nicht nur inhaltlich an den Internationalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie schließt auch begrifflich dort an.
Die »Kompradoren« sind nicht einfach ein Rückgriff auf die Kolonialgeschichte, sondern auch eine Reminiszenz an das Vokabular des marxistisch-leninistischen Antiimperialismus. Nach dem chinesischen Revolutionsführer Mao Tse-tung galten die »Kompradoren« stets als die einheimischen Kollaborateure an der Seite der Kolonialherren, die durch ihre Vermittlerrolle von der Ausbeutung der Rohstoffe profitierten.[32]
(Anmerkung: Sind das heute dann unsere Influencer und PR Agenturen der Randgruppen?)
Die Reaktivierung dieses Jargons sollte das russische Vorgehen mit einem fortschrittlichen Anstrich versehen und das Land in die Position des Verteidigers rücken.
Der Gebrauch dieser Terminologie unterschlägt jedoch, dass das Regime mit diesem »revolutionären« Traditionsbestand nichts mehr zu tun hat und selbst eine
ausgesprochen neokoloniale Praxis an den Tag legt. Immerhin agiert Russland ausgesprochen imperial und hält sich in Afrika, dem Mittleren Osten oder seinen autonomen Teilrepubliken seine eigenen »Kompradoren«.
Offensichtlich findet dieses anachronistische Vokabular mit Blick auf mögliche Unterstützung aus der westlichen Linken, vor allem aber aus dem »globalen Süden« in der russischen Propaganda noch heute Anwendung.
Hier zeigt sich bereits ein Vorgang historischer Resignifikation, das Gerechtigkeit suggerierende revolutionäre Vokabular der Vergangenheit wird einfach in einem neuen Kontext wieder in Umlauf gebracht.
Der Text führt eindrücklich vor, dass Karaganow wie die gesamte russische Auslandspropaganda augenblicklich von einer »progressiven« in eine »konservative« Argumentation zu wechseln versteht. Hat Russland eben noch als tapferer »Stützpfeiler« fest an der Seite der Verdammten dieser Erde gestanden, so werden im nächsten Moment die ewigen Werte verteidigt und das »Unkraut« bekämpft, das im Westen »auf dem Boden von 70 Jahren Wohlstand, Sattheit und Frieden gewachsen war.«
Gemeint sind damit einmal mehr alle Resultate der postmodernen Gesellschaften, an denen sich schon Putin abarbeitete: »alle diese antihumanen Ideologien, die der Familie, der Heimat, der Geschichte, der Liebe zwischen Mann und Frau, dem Glauben, dem Dienst an höheren Idealen, allem, was das Wesen des Menschen ausmacht, den Kampf ansagen.« Nachdem der Text sich eben noch begrifflich im Fahrwasser des Antiimperialismus bewegt hat, schwenkt er einen Augenblick später auf eine konservativ grundierte Apologie des russisch-imperialen Anspruchs um. Damit ruft er zur Rechtfertigung der russischen Position zwei eigentlich feindlich zueinanderstehende Traditionen in einem auf.
Den Höhepunkt der Gedankengänge stellt die offene Drohung mit einem begrenzten Nuklearschlag gegen den Westen dar, für deren Rechtfertigung Karaganow schließlich in die politische Theologie abgleitet und Russland im Dienst höherer Mächte sieht. Wie er betont, habe er sich lange mit der Frage der nuklearen Strategie befasst und sei dabei zu einem »eindeutigen, wenn auch nicht sehr wissenschaftlich klingenden Schluss gekommen.«
Für ihn belege die Existenz von Atomwaffen eine »Einmischung des Allerhöchsten«. Subtil verpackt er eine weitere Spitze gegen die westliche Moderne (und ihre Nachahmer) als Ursache allen Übels:
Gott »erschrak, als er sah, dass die Menschen, die Europäer und die sich an sie anlehnenden Japaner, in nur einer Generation zwei Weltkriege entfesselt hatten, die Dutzende Millionen Menschenleben kosteten. Da gab er der Menschheit diese Armageddon-Waffe in die Hand, zeigte allen, die die Angst vor der Hölle verloren hatten, dass diese existiert.«[33]
Offenbar fand Karaganow, dass dem Westen in seiner dekadenten Verblendung die einstige Demut abhandengekommen sei, weshalb Russland möglicherweise gezwungen sei, in Europa ein Exempel zu statuieren, um damit das Schlimmste zu verhindern. Ein begrenzter Nuklearschlag, führt der Politikberater aus, könne der Welt klar machen, wie ernst es Russland sei und dass mehr auf dem Spiel stehe als umstrittene Grenzverläufe. Die Amerikaner, merkt Karaganow an, würden kaum »›Boston‹ wegen ›Poznań‹ opfern«, und flicht damit erneut eine historische Referenz ein. Denn der Satz spielt auf die Debatte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an, ob man in Frankreich und England wirklich »für Danzig sterben« wolle.
Natürlich, beeilt er sich zu betonen, wolle auch in Russland niemand eine nukleare Eskalation, aber möglicherweise könnte sie das kleinere Übel sein, ehe die Welt ganz im Chaos versinke: »Der Gegner muss wissen, dass wir bereit sind, einen Warnschlag zu setzen, der Vergeltung für all die gegenwärtigen und vergangenen Aggressionen ist und dazu dient, ein Hineingleiten in einen globalen thermonuklearen Krieg zu verhindern.«
Karaganows Intervention lässt es nicht bei metaphysischen Spekulationen über das Wirken Gottes in der Rüstungsindustrie bewenden. Ganz Realpolitiker, fordert der Wissenschaftler, dass Russland die Einsatzdoktrin für seine Atomwaffen ändern müsse, um ihr Zerstörungspotential im Zweifel wesentlich niedrigschwelliger anzuwenden. Das wäre eine angemessene Maßnahme, um den Westen zur Vernunft zu bringen, denn die ausdifferenzierten Abstufungen des bisherigen Alarmprotokolls der Atomstreitkräfte seien zu defensiv: »Das Voranschreiten auf der Eskalations- und Abschreckungsleiter muss ausreichend schnell vonstattengehen.« Diese beunruhigende Forderung deckt sich mit zahlreichen Berichten über Debatten im russischen Fernsehen, ob es nicht langsam Zeit wäre, den Westen mit einem nuklearen Erstschlag in die Schranken zu weisen.[34] Das Szenario des Geopolitikers Karaganow war also nicht aus der Luft gegriffen, und 2024 begann der Kreml damit, laut über eine Änderung der Nuklearstrategie nach dessen Vorgaben nachzudenken, um den Westen unter Druck zu setzen. Im September desselben Jahres ließ Putin schließlich die
Welt wissen, dass Russland seine Einsatzdoktrin für Atomwaffen entsprechend angepasst habe.[35]
Hinter dem religiösen und geschichtspolitischen Rauschen in der Argumentation des Politologen verbarg sich ein handfestes Kalkül. Das von Karaganow diskutierte Verfahren des begrenzten Schlages zur sofortigen Beendigung eines Konfliktes wird Escalate to De-Escalate-Prinzip genannt. Unter Fachleuten ist allerdings umstritten, ob es überhaupt ein handhabbares Szenario für eine Nuklearstrategie darstellt, da es zu viele Risiken birgt.[36] Der öffentliche Charakter von Karaganows Äußerungen weist diese nicht zuletzt selbst als Teil der Abschreckungspropaganda aus, die möglicherweise vor allem eine gute Verhandlungslösung herbeiführen soll.
Eine Analyse des German Institute for Defense and Strategic Studies an der Führungsakademie der Bundeswehr kam noch zu Beginn des Ukraine-Kriegs zu dem Schluss, dass es »keine Anhaltspunkte« für ein russisches Vorgehen nach diesem Muster gebe.
Andererseits wird darauf hingewiesen, dass sich in Russland eine »strategische Metaphysik« durchgesetzt habe, in der sich eschatologische Elemente niederschlügen. Wie die Analysten der Bundeswehr schreiben, vertrete auch der ehemalige Kultusminister und heutige Präsidentenberater Wladimir Medinski, der 2022 die russischen Verhandlungen mit der Ukraine leitete, eine Geschichtstheologie, die ganz auf die Gedankenwelt des klassischen Autoritarismus und Panslawismus der Zarenzeit gefluchtet sei. In dieser Lesart stehe »die ganze slawische Welt der Orthodoxie als eine duldende und friedfertige im Kampf gegen die Dynamik und Aggressivität des katholisch und protestantisch geprägten Westens […], welcher jedoch seinerseits dem Ende des vermeintlichen Zyklus seiner kulturellen Entwicklung entgegengehe.«[39]
Auf Basis dieser Weltanschauung werde auch das Nuklearpotential nicht nur als »ein Mittel der strategischen Abschreckung gegen Angriffe von außen, nicht [als] ein operatives Instrument begrenzter Erfolgs- oder Faustpfandsicherung (Escalate to De-Escalate), sondern [als] ein strategisches Mittel zur Verwirklichung einer geschichtlichen Mission, zur Erzwingung des Guten gegen das Böse, also ein Element politischer, historisch legitimierter Erpressung mit den Mitteln von Sprache und Propaganda« gesehen. Daher, so weiter, gründe »die russische Nuklearstrategie nicht nur in einem Kalkül nuklearer Eskalation, sondern auch in einer nuklearen Eschatologie«, die der »Sicherheits- und Abschreckungsstrategie Russlands und seiner Rhetorik den geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen Rahmen« vorgebe.[40]
Angesichts der Erfahrung, dass sich in der Hochrüstungs-Phase des Kalten Krieges bereits zwei Supermächte am Rand des Abgrunds befanden, die jedoch zumindest noch vorgaben, auf dem Boden rationalen Denkens zu stehen, wirken diese religiösen Impulse im politischen Gesamtgefüge heute umso verstörender. Äußerungen wie die Medinskis und Karaganows zeigen, wie weit auch russische Akademiker in der Krise zu gehen bereit sind. Als außenpolitischer Berater des Kremls genoss Karaganow immerhin internationales Ansehen, das er mit diesen Ausfällen verspielt haben dürfte. Der Politikwissenschaftler Andreas Umland zählt ihn daher zu dem Teil der russischen Intelligenz, der den fatalen Kurs des Regimes »in eine neoimperialistische und expansive Regression« unterfüttert und dabei selbst vor esoterischen und antiaufklärerischen Positionen nicht zurückschreckt.[41]
Der Katechon
Karaganow formulierte eine Strategie der »konstruktiven Zerstörung«, die das Risiko eines nuklearen Schlagabtausches zur Schaffung einer »Neuen Ordnung« für vertretbar hält und die zahlreiche weitere Kreml-Berater zu einer ähnlichen Argumentation ermutigt hat.
Die Radikalität seiner Thesen verlangt dabei geradezu nach einem theologischen Rahmen. Durch die Deutung der Atomwaffen als ein Werkzeug Gottes vermochte er die Nuklearstrategie in die gesamte Nationaleschatologie Russlands einzubetten, mit der auch Putin in jüngster Zeit sein Volk beseelt hat. Die Spekulationen über den Einsatz einer »kleinen« Atomwaffe zur Verhinderung des großen Schlagabtauschs machten aus dem Atomwaffenarsenal Russlands ein Werkzeug des Katechons, also ein Mittel, um die Ankunft der Endzeit nochmals hinauszuzögern. In der Gesamterzählung dienen sie damit der historischen Mission, die das Schicksal für die Nation auserwählt hat, und stärken Russlands Position als letztes Bollwerk der menschlichen Zivilisation vor dem Untergang. Entsprechende Aussagen sind nicht nur in den zitierten Reden zu finden, sie decken sich auch mit einer gegenwärtigen Praxis der russisch-orthodoxen Kirche, Nation und Militär regelrecht zu »sakralisieren«.
Wie Herfried Münkler aufgezeigt hat, wurde mit dieser Konstruktion ein Gegenstück zum Stil der US-Außenpolitik nach dem Ende der Systemkonkurrenz gefunden. Während »die Neocons die USA« zunehmend als »heilsgeschichtliche Macht« determiniert sahen, stellte »die russisch-orthodoxe Kirche Russland inzwischen als den Aufhalter einer weiteren Ausbreitung westlicher Dekadenz dar.« Diese Konzeption fügt sich nahtlos in eine Politische Theologie ein, die seit Carl Schmitt auch in der deutschen Rechten Gültigkeit hat und dem Katechon eine feste Rolle als Ordnungsmacht zuweist. Für Schmitts »fundamentalistische Kritik der Zeit«, so das Resümee Günter Meuters, liege die »heilsgeschichtliche Funktion« des Katechons darin, »als äußerlich-weltliche Macht im Dienste einer inneren Idee der Geschichte zu stehen« und als Gegenkraft zur utopischen Verlockung in Erscheinung zu treten.
Mit diesem Hinweis sind die Brückenschläge zwischen russischer Politik und deutscher extremer Rechter gut nachzuvollziehen, denn für sie sind Liberalismus und Marxismus mit dem »Utopischen« konnotiert, während die Position des Katechons ihren klassischen Ort anscheinend aufseiten der Rechten hat. Den Bezugsrahmen dafür bildet der 2. Paulusbrief an die Thessalonicher, in dem davor gewarnt wird, falschen Messias-Verheißungen zu glauben, die in den frühchristlichen Gemeinden kursierten. Was manche als Zeichen der nahen Wiederkunft Christi deuteten, so der Apostel, seien in Wahrheit die Täuschungen des Antichristen. Aber, beruhigt Paulus die Gläubigen, es gebe eine verzögernde Kraft, die dafür sorge, dass Christus erst zur vorbestimmten Zeit erscheine. Diese Kraft sei die des
Katechons – des »Aufhalters«, der sich dem falschen Messias entgegenstelle.
Aus dieser Randbemerkung des Neuen Testaments ist in Schmitts Politischer Theologie ein zentrales Motiv gewachsen, das auch von seinen rechten Adepten heute in Anspruch genommen wird.
Schließlich müssen auch sie beständig die falschen Befreiungsversprechen von Materialismus und Liberalismus entlarven und die Menschen auf die wahre Erlösung vertrösten. Ihre politische Konkretion erfuhr die Figur in den Nachkriegsschriften Carl Schmitts, der bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die viel zitierte »Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« formuliert hatte. Nach der Niederlage bekannte er sich zum Gedanken des Katechons als der »einzige[n] Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden.«
Diese Schutzmacht gegen den Antichristen sah Schmitt auch ganz konkret in der Weltgeschichte wirken und suchte jeweils ihre aktuelle Form. Er schrieb daher, man müsse »für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden.«
Schmitt lud die Zeitgenossen damit geradezu ein, die Rolle des Katechons immer neu zu vergeben. Wie auch kritische Beobachter angemerkt haben, steht damit der Interpretation Tür und Tor offen, und die Rolle des »Aufhalters« kann je nach politischer Präferenz vergeben werden. Ihren Nutzen entfaltet die Anrufung der Figur damit vor allem als Zuspitzung – für eine »Theologie der Entscheidungsschlacht.«
In diesem Sinne kommt sie derzeit auch in den Texten russischer Politikstrategen zur Anwendung.[…]
Münkler aus tendenziell russlandfreundlichen Analysen, litt der gestrauchelte Gigant im Osten an »›imperialen Phantomschmerzen‹ und der Angst vor einer funktionierenden Demokratie in seiner unmittelbaren Umgebung.«[105] Aus dieser Perspektive erklärt sich auch der
Grünen-Hass seiner westlichen Bewunderer, schließlich waren es die Konzepte zum nachhaltigen Umbau der Energiewirtschaft, die Russland ökonomisch in die Bredouille brachten. Da liegt es nahe, dass ihre Impulsgeber zum Zielobjekt erklärt werden.
Hier ist nicht der Ort zu entscheiden, ob solche Elemente realiter die russische Politik leiten, oder ob sie nur ein Baustein in der großen Verunsicherungskampagne und Drohkulisse gegen den »kollektiven Westen« sind, die von der russischen Politik seit einigen Jahren errichtet wird.
Jedoch sind solche Gedankengänge für die hier gestellte Frage von Bedeutung, an welchen Punkten sich die Weltanschauungen der extremen Rechten in Deutschland mit der russischen Perspektive überschneiden. In diesem Kontext rückt schließlich die Geschichtstheologie ins Blickfeld, mit der der ultranationalistische Pseudomystiker Alexander Dugin die russische Kriegspolitik der vergangenen Jahre untermauert hat, da dessen Werk seit geraumer Zeit auch in der deutschen Rechten breit rezipiert wird und im Brückenschlag zwischen deutschem und russischem Nationalismus einen tragenden Pfeiler bildet.
Dugins Mission ist es, das »liberale« Amerika aus Europa und Asien zu vertreiben, um mithilfe eines »eurasischen« Bündnisses die Menschheit wieder mit ihren heiligen Traditionen zu versöhnen. Seine Deutung vollzieht sich ebenfalls im paulinischen Muster des falschen westlichen Messias, der von den klarsichtigen Rechtgläubigen im Osten aufgehalten werden müsse. Wie Dugin in einer Schrift zur eurasischen Idee ausführt, die sein Verlag als Hintergrundmaterial zum Ukraine-Konflikt anpreist, korrespondiere diese Aufgabe mit dem traditionellen »christlich-orthodoxen Konzept der Macht als Katechon«.[50] In diesem Auftrag habe sich Putin nun nach langem Zögern dazu entschlossen, seiner historischen Mission nachzukommen. Schon in seinem Buch über den Präsidenten konkretisiert Dugin den russischen Auftrag im Einklang mit dem orthodoxen Glauben und der Deutung Moskaus als »das dritte Rom« (nach Rom und Byzanz) in der Geschichte: »Dem zaristischen Rußland kam die Rolle eines Staates zu, der die Wahrheit des von der orthodoxen Kirche gelehrten Glaubens vorbehaltlos anerkennt und traditionell als Bollwerk gegen den Sohn des Verderbens – den Antichrist – gilt, als der ›Katechon‹«. Moskau sei daher »die Hauptstadt eines grundsätzlich neuen Staates: Nicht national, sondern imperial, vom Erlösungsgedanken beseelt, eschatologisch und apokalyptisch. Es ist das letzte rettende Bollwerk, die Arche, der Boden, der für das Anbrechen des neuen Jerusalem vorbereitet ist. ›Und es wird kein viertes geben‹.«
Diese Rhetorik ist typisch für Dugin, der sich nie in eine defensive politische Position einpassen wollte. Schon zu Sowjetzeiten hatte er sich in okkulten Gruppen bewegt, bald befasste er sich mit Theorien des faschistischen Denkers Julius Evola und stieß zu den Antisemiten der nationalistischen »Pamjat-Bewegung« und später den »Nationalbolschewiken«.[52] Als lautstarker und langjähriger Verfechter der imperialen Wiedergeburt Russlands fand er immer wieder scharfe Worte für Putins angeblich mangelnden Offensivgeist. Nach dem Debakel der US-Politik in Afghanistan sah er seine Stunde schließlich gekommen und forderte 2021 in dem programmatisch (in der russischen Schreibweise) als »Katehon« betitelten Blog unmissverständlich:
»Amerika ist auf dem Rückzug. Wir müssen angreifen!« Jetzt, da die »Hegemonie« in der Defensive sei, müsse Russland die Chance nutzen und »eine Gegenoffensive vorbereiten«. Die Gelegenheit sei einmalig, die amerikanische Niederlage biete »unsere historische Chance. Es wäre ein Verbrechen, sie zu verpassen. Unser Imperium ist 1991 gefallen. Heute sind sie an der Reihe. Und es ist unsere Pflicht, als völlig souveräne und unabhängige geopolitische Einheit in die Geschichte zurückzukehren.«
Obwohl der tatsächliche Einfluss Dugins auf den Kreml stark umstritten ist, gaben ihm die konkreten Schritte der Staatsführung Oberwasser. Zum Entsetzen des Westens, schrieben kritische Beobachter des Geschehens, setze Putin auf Expansion und »machte sich für die Wiederherstellung eines Konstrukts stark, das eigentlich nur Historiker kannten: das zaristische Gouvernement Noworossija (Neurussland).«[54] Mit der Übernahme dieser Bezeichnung für das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres und dem kompromisslosen Konfrontationskurs gen Westen setzte er um, was der Fundamentalist Dugin immer gefordert hatte. Dieser nutzte den Ukraine-Konflikt daher umso mehr zur Propagierung des katechontischen Charakters seiner eurasischen Idee. Ihm zufolge hatten atlantische Geostrategen das historische Projekt eines Anti-Russlands in Osteuropa verfolgt, bei dem der Ukraine die Schlüsselposition zugekommen sei. Wegen dieses angeblich von langer Hand geplanten Programms zur Zerstörung Großrusslands sei selbst dem zögerlichen Putin nur noch die offensive Verteidigung geblieben. Unter der Oberfläche dieser Vorgänge machte Dugin zusätzlich eine heilsgeschichtliche Entwicklung aus. Der Krieg, schrieb er, sei ein »Großereignis der Weltgeschichte«, der Anfang »einer endzeitlichen Schlacht zwischen der heiligen Tradition und der modernen Welt«, letztere habe »in der liberalen Ideologie und globalistischen Politik ihren unheilvollsten, toxischsten und radikalsten Ausdruck gefunden.« Aus diesem Grund spreche er
»zunehmend vom Armageddon, der letzten entscheidenden Schlacht zwischen den Armeen Gottes und Satans.«
Dugins Geschichtsmystik ist eine Sache, wichtiger ist die Frage, ob diese Lesart von den Entscheidungsträgern im Kreml tatsächlich geteilt wird, oder man dort nur darauf spekuliert, den Westen im Sinne einer klassischen madman-Strategie durch demonstrative Irrationalität in Angst zu versetzen.
Die Entfesselung solcher apokalyptischen Überbietungen birgt jedoch immer Risiken nach außen und innen. Durch den Überbietungsgestus könnten sich sogar Dynamiken entfalten, die dem jetzigen Machthaber gefährlich werden könnten. In diese Richtung schlägt ein 2023 von Dugin verfasstes Manifest über »die Bedingungen für unseren Sieg« aus, in dem er seiner Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf Ausdruck verleiht. Es ist der Ausdruck einer klassischen Fronde innerhalb eines bereits autoritären Systems, um dieses noch weiter zu radikalisieren. Die von Dugin darin zur Abhilfe vorgeschlagenen Maßnahmen gegen den zu sanften Kurs bilden ein revolutionäres Programm, mit dessen Umsetzung eine Art faschistisches Großrussland erschaffen werden sollte, »organisch« geführt mit einer nationalbolschewistischen Wirtschaftsordnung. Das Russland Putins schien Dugin nicht mehr zeitgemäß: »Wenn wir gewinnen wollen«, heißt es, »müssen wir das derzeitige System grundlegend ändern.
Wir brauchen einen neuen Staat und eine neue Politik. Wir haben nicht viel Zeit.«[…]
(Anmerkung: Das sind exakt die narrative und Kommentare zu tausenden Millionenfach in YTbe/FB, von linken von rechten, von radikalen Umweltbewegungen etc.)
Der »russische Taliban«
Selbst wenn Dugins Einfluss auf die Staatsspitze im Kreml überbewertet werden sollte, so konnte er mindestens innerhalb der europäischen extremen Rechten einige Außenwirkung entfalten. Das hatte er einem mächtigen Geldgeber zu verdanken, der zum inneren Kreis der Macht zählt, dem russischen Oligarchen Konstantin Malofejew. Die langjährige britische Russland-Korrespondentin Catherine Belton bezeichnet Malofejew in ihrer umfangreichen Analyse des Netzwerks, mit dem sich Wladimir Putin sukzessive die Kontrolle über sein Land gesichert hat, treffend als »orthodoxen Taliban«. Offenbar konnten in seiner Person das imperiale Restaurationsstreben des Kremls und der neue religiöse Fundamentalismus zusammenfinden. Belton beschreibt, wie Malofejew mithilfe seines Investmentfonds und seiner Stiftung Sankt Basilius der Große als »Frontmann im Kampf des Landes gegen den Westen um die Vormachtstellung in der Welt« agiert. Der Oligarch sei »Teil eines Prozesses, der kurz nach der prowestlichen Wende in der Ukraine während der Orangenen Revolution begann, als der Kreml anfing, ein Netzwerk russischer Nichtregierungsorganisationen und stellvertretender Interessengruppen für den Staat aufzubauen, das als erstes versuchte, sich in der Ukraine zu etablieren und von da aus in den Westen zu expandieren.« In dieser metapolitischen Kampagne für antiliberale Werte und einen gegen den Westen gerichteten Neo-Panslawismus wurde auch Dugin mitsamt seiner Thesen zum »Dritten Rom« zu einer propagandistischen Schlüsselfigur aufgebaut.[57] Als Plattform standen ihm dafür der von Malofejew 2014 gegründete Thinktank Katehon mit gleichnamigem Medium und ein eigener Fernsehsender Tsargrad TV zur Verfügung. In einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift Profil bestätigte Malofejew 2016, Dugin als Chefredakteur für Katehon und Tsargrad TV eingestellt zu haben.[58] Geld und Infrastruktur waren damit vorhanden, und das Vorgehen zeigte offensichtlich Wirkung. Mit solch finanzstarker Unterstützung konnten seine Publikationen bis weit in den Westen wirken, zumal Übersetzungen in mehrere Sprachen ihre internationale Rezeption sicherstellten. Das Ziel der Arbeit war die Bildung eines eurasischen Großraums »von Lissabon bis Wladivostok«, ein Konzept, das vielfache Angebote an die extreme Rechte in der EU enthielt und die Geschichte beider Kontinente neu schreiben wollte.
Im deutschen Sprachraum war Dugin zuvor lange Zeit nur von Spezialisten wahrgenommen worden, die allerdings schon früh vor seiner Synthese aus Ultranationalismus und religiösem Fundamentalismus gewarnt hatten.[59] Erst als Prophet des Krieges rückte er allmählich ins Bewusstsein einer größeren westlichen Öffentlichkeit. Als seine Forderungen schließlich zur Realität wurden, sollte Dugin jedoch einen hohen Preis zahlen. Ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn 2022 fiel seine Tochter und Mitstreiterin Darja Dugania einem Attentat zum Opfer. Die junge Frau hatte als Journalistin unter dem Pseudonym Darja Platonowa für kremlnahe Medien wie RT und Tsargrad TV gearbeitet sowie als nationalistische Aktivistin die Gedankenwelt ihres Vaters verbreitet. Sie wurde bei einem Sprengstoffanschlag auf ihr Auto getötet, für den russische Behörden umgehend den ukrainischen Geheimdienst verantwortlich machten. Die Frage, ob die Bombe Dugania oder ihrem Vater galt, ist bis heute ungeklärt, doch der Mord bewirkte ein weltweites Medienecho, das Dugin endgültig jenseits der Fachwelt bekannt machte.
Dugin im Westen
Für die Entwicklung einer prorussischen Rechten in Deutschland und der EU ist Dugins Wirkung als Stichwortgeber nicht zu unterschätzen. Diese Zielgruppe hatte er selbst längst identifiziert und öffentlich benannt. Im Gespräch mit dem rechtsextremen Magazin Zuerst!, als dessen Chefredakteur sein geistiger Ziehsohn Manuel Ochsenreiter wirkte, hatte er schon 2012 gefordert, Russland solle diese Szene aktiv bespielen: »Es gibt überall in der westlichen Welt Zirkel, Gruppen, Medien und politische Parteien, die gegen die US-Hegemonie arbeiten, teilweise sogar ausgesprochen anti-amerikanisch und anti-liberal sind. Vor allem in Europa können wir das beobachten. Es wäre das natürlichste von der Welt, genau diese Gruppen zu unterstützen! Rußland hätte die Macht und die Infrastruktur, genau diesen Gruppen zu helfen und so einen effektiven Gegenangriff im Informationskrieg zu starten.«[60]
Spätestens mit der Krim-Annexion 2014 forcierte Russland tatsächlich seine Schritte in diese Richtung. Das zeigte schon ein »Geheimtreffen zum 200. Jubiläum des Wiener Kongresses« im Jahr 2014, auf dem sich die Prominenz der äußersten europäischen Rechten in Wien ein Stelldichein gab – mit Dugin als Stargast. Ausgerichtet wurde die Zusammenkunft von der Basilius-Stiftung Malofejews, der damit seinen Willen manifestierte, metapolitisch in den Westen zu wirken und Russlands Mission als Schutzmacht des christlichen Fundamentalismus und Ultranationalismus in Europa zu fördern.[61] Der Oligarch Malofejew machte nie einen Hehl aus seiner scharfen Ablehnung dessen, was er für »westlich-liberale« Lebensart hielt. In einem Gespräch mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin[…]
Covid und Impfungen
Impfgegnern und Behörden in den EU-Staaten wurden teils drastisch überzeichnet, wohlgemerkt in einem Land, das die eigene Impfkampagne mit Nachdruck führte und dessen Repressionsorgane selbst jedes Anzeichen von Opposition mit Gewalt unterdrücken.
Der
Tenor war, dass Impfungen in Europa schädlich, in Russland hingegen nützlich seien, wie es eine Analyse der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen zusammenfasste.
Dafür sei auf einen »bestimmten Pool zuverlässiger europäischer Politiker« als Kronzeugen zurückgegriffen worden, »gewöhnlich mit linken oder rechten Ansichten.« Mitunter hätten diese in Russland sogar mehr Bekanntheit als in ihren Heimatländern erlangt, »da die Beiträge der russischen Propaganda regelmäßig deren ›Expertenmeinung‹ präsentieren.«
Als Nebeneffekt wurde das historische Verhältnis, wonach der Westen Dissidentinnen und Dissidenten aus dem Osten Asyl gewährt, umgekehrt und Russland konnte sich als Hüter der Freiheit präsentieren.
Für diese Diversionsstrategie wurden die neuesten technischen Möglichkeiten ausgeschöpft.
Neben eigenen Einflussnahmen durch die deutschsprachigen Kanäle des russischen Auslandssenders RT oder des Newsportals Sputnik, die vor allem seit 2014 massiv Kreml-Narrative verbreitet hatten und sich 2022 nach Verbot bzw. Verbotsandrohung zurückziehen mussten, tauchten auch gefälschte Webauftritte etablierter westlicher Medien auf.
Dabei handelte es sich keineswegs um einzelne Guerilla-Aktionen, sondern um den Output professioneller hybrider Kriegsführung, wie diese forcierte und aggressive Form der Auslandspropaganda auch genannt wird. Die niedrigschwellige und globale Struktur des World Wide Web bietet dafür ein ideales Operationsgebiet, weshalb es von staatlichen und terroristischen Akteuren als »Radikalisierungsmaschine« intensiv genutzt wird. Schon 2016 hatten sich russische Troll-Accounts systematisch in den US-amerikanischen Wahlkampf eingeschaltet, bald wurden Gruppen wie Reconquista Germany bekannt, die nach diesem Vorbild auch in Deutschland operieren wollten.[96] Das Vorgehen hatte Erfolg, der Bayerische Verfassungsschutz analysierte 2024 eine massive russische Desinformationskampagne, die unter dem Namen »Doppelgänger« bekannt wurde. Die dort beschriebenen großflächigen Propaganda-Maßnahmen zielten vor allem auf die deutsche Öffentlichkeit sowie auf Frankreich, die USA, Israel und die Ukraine. Im Wesentlichen waren drei Vorgehensweisen zu beobachten, mit denen prorussische Narrative verbreitet werden sollten:
a) der Einsatz gefälschter Nachrichten-Websites, die unter den Labels und im Layout anerkannter Medien Fake-News in die Welt setzten,
b) die Nutzung eigener Webauftritte in der Landessprache des Ziellandes und
c) die systematische Verbreitung von echten, allerdings teils dekontextualisierten Nachrichten im eigenen Sinne über Twitter/X, Facebook, Telegram etc.
Die Analyse war eine amtliche Untermauerung der zahlreichen Berichte über russische Troll-Fabriken, die in Europa und v. a. Deutschland Unsicherheit schüren sollten.
Auch die umfangreiche Arbeit eines Recherche-Verbundes mehrerer in- und ausländischer TV-Sender und Zeitungen konnte anhand von Datenlecks nachweisen, dass die Desinformation durch das russische Militär in hoher Frequenz regelrecht industriell betrieben wird. Die Ideologischen Streitkräfte Russlands, eine Spezialeinheit zur hybriden Kriegsführung, produzieren massenweise prorussische Nachrichten, Social-Media-Posts, Memes und Kommentare und verbreiten sie via Internet in der Welt.
Besondere Aufmerksamkeit galt der Berliner Politik. Von der
– Flüchtlingskrise, über die
– Corona-Pandemie,
– die Bauernproteste und vor allem in allen Fragen zur Ukraine waren die
Cyberkrieger eifrig bemüht, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Die Süddeutsche Zeitung präsentierte in diesem Kontext ein russisches Dokument, in dem die Ziele der »Einflussoperationen« festgehalten sind. »Demnach sollen Falschinformationen in Deutschland ›die Zukunftsangst erhöhen‹ und rechte Parteien stärken.«[98] Besonders die AfD, aber auch das BSW gälten als interessant und sollten vorangebracht werden. Im Gespräch mit dem Spiegel betonte der ehemalige stellvertretende BND-Chef Arndt Freytag von Loringhoven ebenfalls, dass die systematische Desinformation aus Russland ihre Wirkung »schleichend«, aber stetig entfalte, »indem sie das Misstrauen gegenüber Staat, Regierung und traditionellen Medien schürt. Das beobachten wir, und das ist im strategischen Interesse des Kreml, wie auch die schleichende Entsolidarisierung mit der Ukraine und die Wahlergebnisse für AfD und BSW.«
Die weltanschaulichen Inhalte des russischen Neo-Imperialismus verbreiten sich also nicht allein über die Zirkulare der Neuen Rechten, sondern werden längst viel breiter in die gesamte Gesellschaft gestreut. Mit diesen Methoden ist es in der Vergangenheit rechten deutschen und russischen Medien gelungen, gezielt die Bevölkerung in Deutschland zu adressieren und aufzuhetzen.[…]
Versorgung mit Öl und Gas interessiert waren.[87] Diese Verbindungen wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion über die politischen Lager hinweg weiter gepflegt und ausgebaut. Im Falle Deutschlands wiederholte sich das Muster, was besonders die deutsche Energiepolitik infolge der Regierung Gerhard Schröders (SPD) deutlich machte.
Mit der verstärkten Hinwendung des russischen Staates zu immer konservativeren Positionen, die sich vor allem an vermehrten Angriffen auf westliche NGOs, auf Homosexuelle und eine engere Bindung an die russisch-orthodoxe Kirche zeigte, wurde schließlich das Band des Illiberalismus zwischen Russland und der westeuropäischen Rechten immer stärker geknüpft. Damit versuchte das Regime von Wladimir Putin, den zunehmenden Bedeutungsverlust der europäischen Linksparteien, die Russland in sowjetischer Tradition verbunden gewesen sind, zu kompensieren. Für die nationalstaatlichen Interessen des nach der Krim-Okkupation politisch isolierten Landes schienen alle Kontakte zu Gruppen lohnend, die sich einen grundlegenden Vorteil davon versprachen, die Europäische Union zu schwächen. Das traf auf die Gegenliebe der europäischen Nationalisten und Rechtspopulisten, deren geopolitische und kulturelle Vorstellungen sich denen der russischen Autokratie mehr und mehr angeglichen hatten. Der ukrainische Analyst Anton Shekhovtsov hat die komplexe Struktur dieses Verhältnisses untersucht und dabei verschiedene Felder identifiziert, auf denen sich die Interessen der russischen Politik mit denen der europäischen Rechten überschneiden. Zum einen sei es durch die Veränderung der Beziehungen des Westens zu Russland befördert worden, nachdem dort erkannt worden war, dass Putin keineswegs den »lupenreinen« parlamentarisch-demokratischen Weg einzuschlagen gedachte. Seither dienten die Kontakte zu westlichen Oppositionsparteien der russischen Seite zur Abwehr von Kritik aus dem Ausland und waren zudem »Quelle politischer Legitimation« jenseits offizieller staatlicher Kontakte; umgekehrt hätten sich europäische Rechtsparteien damit aufgewertet und unterstützt gesehen. Mit ihrer wachsenden Bedeutung seien sie als Partnerinnen für Russland interessanter geworden und hätten dem Kreml die Möglichkeit zur Einflussnahme bis hin zur Destabilisierung des Westens geboten.[89] Das Zusammenspiel bediente die Interessen beider Seiten, Russland konnte Einfluss auf die westliche Sphäre ausüben, die Antieuropäer wurden durch eigene Kontakte gestärkt. Im Fall Italiens und Österreichs fiel der Ausbau der vorhandenen Verbindungen besonders leicht.
Zögling Dugins, Ochsenreiter
erste Zögling Dugins in der rechtsextremen Publizistik war allerdings der bereits erwähnte Journalist Manuel Ochsenreiter gewesen, der 2021 überraschend in Moskau starb, wohin er sich vor deutschen Ermittlungen wegen eines Anschlags in der Ukraine geflüchtet hatte. Ochsenreiter stammte aus dem neurechten Kernmilieu um die Zeitschriften Junge Freiheit und Sezession und war mit Dugin persönlich eng verbunden. Auf dessen Katehon-Plattform wurde er als Direktor eines Zentrums für eurasische Studien vorgestellt und war vielfach mit Texten und Videos präsent. Vor seinem Tod arbeitete er als Referent für das Bundestagsbüro des baden-württembergischen AfD-Politikers Markus Frohnmaier, der ebenfalls auf Katehon die AfD als neue politische Kraft angepriesen hatte.[69]
Vor allem aber fungierte Ochsenreiter über das Magazin Zuerst! und das Zentrum für eurasische Studien als Vermittler der »eurasischen Idee« Dugins.[70] Der Rezeption in diesen Kreisen kam es entgegen, dass Dugins Denken stark vom gleichen »konservativ-revolutionären« Kanon geprägt war, den auch die Neue Rechte in Deutschland und Österreich als grundlegend erachtete. Sie alle hatten sich nicht nur mit der russischen Reaktion, sondern auch mit deutschen Autoren der Zwischenkriegszeit intensiv auseinandergesetzt und leiteten zentrale Elemente ihres Denkens aus den Schriften Carl Schmitts, Oswald Spenglers und Arthur Moeller van den Brucks her.
Der erste Kontakt des europäischen Rechtsextremismus mit Dugin reicht zurück bis in die Zeit unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion. Bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war Dugin zunächst mit Vertretern der frankophonen Rechten zusammengetroffen; ihnen allen gemeinsam war der Wunsch, den amerikanisch-liberalen Einfluss aus Europa zu verdrängen. Markovics nennt als Ausgangspunkt eine Reise, die der wallonische Nationalrevolutionär Jean Thiriart zusammen mit zwei weiteren Granden der europäischen Nouvelle Droite, Alain de Benoist und Robert Steuckers, 1992 nach Moskau unternommen hatte. Dort sollte »eine Zusammenarbeit zwischen seiner Europäischen Befreiungsfront (EFL) und eurasischen Kräften in Moskau« angestrebt werden. Erst durch diese Reise sei auch »der junge Alexander Dugin verstärkt in Kontakt mit nationalrevolutionären und neurechten Europäern [gekommen], welche die Befreiung des Kontinents vom Griff der USA anstrebten.«
(Anmerkung: zu hunderten und Tausendfach habe ich diese Kommentare in Ytbe gefunden…., konnte Sie aber nie so eindeutig einem Lager zuordnen –> das verwirrt also politisch noch weniger interessierte also noch mehr, als mich)
Damit teilten die Aktivisten aus Ost und West ein Ziel. Thiriarts Lebenswerk war es, ein Europa »von Dublin nach Wladiwostok« gegen die USA zu einen, wofür er schon zuvor die abenteuerlichsten Bündnisse eingegangen war. Während des Zweiten Weltkriegs kollaborierte er mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich, in dessen Expansion er eine starke einigende Kraft auf dem Kontinent ausmachte. Später entdeckte er den panarabischen Nationalismus für seine Sache, verteidigte die Kolonialherrschaft in Belgisch-Kongo, gründete eine Bewegung »Junges Europa« und sinnierte bereits über ein lagerübergreifendes Bündnis mit der Sowjetunion, um »Europa europäisch zu machen«.
Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte er das rechte Europa-Projekt ungehindert von zu großen weltanschaulichen Verwerfungen angehen, die das Bündnis mit den Sowjets noch mit sich gebracht hätten. Dafür war Dugin ein idealer Partner.
Der Kontakt sollte sich in den folgenden Jahren auszahlen, und Groß-Europäer und Neu-Eurasier engere Beziehungen knüpfen.
Mit seiner Vergangenheit in der spätsowjetischen Subkultur zwischen Okkultisten, Neonazis und Nationalbolschewiken verstand Dugin, sich ein Image als »Hipster Rasputin« zu schaffen, der »zwischen Schriftstellerzirkeln, Straßengangs, militärischen Hinterzimmern und dem universitären System« verkehrte[…]
(Anmerkung: Erinnert an Surkow, der infiltrierte auch alle Bewegungen von Nazi bis zu radikalen Umweltschützern)
Der eigentliche »Kommunismus« steht für sie jetzt im Westen. Entsprechend dreht auch Kisoudis die Begriffe einfach um. In seiner bei Dugin entlehnten geopolitischen Konzeption prallt gegenwärtig der »westliche Geldsozialismus« mit dem »autoritären Liberalismus« Russlands zusammen. Dahinter stehe der Kampf der Tradition im Osten mit den »Atlantikern«, wobei dieser Begriff sich nicht nur auf die NATO bezieht, sondern Carl Schmitts Formel von den Grundprinzipen »Land und Meer« folgt. Demnach wollten die Mächte des Meeres durch eine Verschwörung von Hedgefonds, Kredit- und Energiepolitik den Niedergang des fallenden Westens aufhalten. Zu diesem Zweck habe das westliche Geld in der Ukraine eine ihr genehme Führung installiert und den Konflikt eskalieren lassen.
»Die Thalassokratie will der Tellurokratie die Ukraine abspenstig machen«, wie Kisoudis mit Referenz an die Schmitt’sche Ordnung von Erde (lat. tellus) und Meer (griech. thálassa) kommentiert. Russland solle nach Willen der Atlantiker zukünftig »kein eurasisches Reich« mehr sein.[85]
Die Europäer und vor allem die Deutschen hätten sich zwar mit Blick auf ihre Energieversorgung gesträubt, seien aber nach dem Abschuss der Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine (um dessen Aufklärung sich Kisoudis zufolge nur Russland wirklich bemüht habe) »auf Kurs der USA« geschwenkt.[86]
Kisoudis, der sich seit Jahren im publizistischen und organisatorischen Kosmos der Neuen Rechten um Verlage wie Antaios und Manuscriptum bewegt, sieht Deutschlands Zukunft als Führungsmacht Mitteleuropas im »tellurischen« Bündnis mit Russland. Nur durch das Abschütteln des Westens lasse sich der drohende Untergang an der Seite der »Seemacht« USA aufhalten. Diese Positionen lassen einige Rückschlüsse über das
Denken an der AfD-Spitze zu, stellte sie doch einen radikalen Ideologen wie Kisoudis als Grundsatzreferenten ein.
Ende der Sowjetunion auf ultrarechte Kreise im In- und Ausland Eindruck machen und so eine »Neue Rechte à la russe« hervorbringen, wie es der ukrainische Politologe Anton Shekhovtsov pointiert beschrieben hat. Shekhovtsov wies allerdings auch darauf hin, dass Dugin nicht bei allen im Westen auf Zustimmung stieß. Er erwähnte etwa Alain de Benoists Reserve gegen Dugins aggressiven Imperialismus, der letztlich nur eine Wiedergeburt des Zarenreichs auf dem Rücken der kleineren osteuropäischen Nationen anstrebe, für deren »Befreiung« man doch eigentlich eintrete.[74] Doch solche Differenzen waren der Vernetzung nicht hinderlich, und Alain de Benoist berichtete später selbst von weiteren Reisen und prominenten Kontakten nach Russland »auf Einladung von Alexander Dugin«.[…]
Der »russische Taliban«
Selbst wenn Dugins Einfluss auf die Staatsspitze im Kreml überbewertet werden sollte, so konnte er mindestens innerhalb der europäischen extremen Rechten einige Außenwirkung entfalten. Das hatte er einem mächtigen Geldgeber zu verdanken, der zum inneren Kreis der Macht zählt, dem russischen Oligarchen Konstantin Malofejew. Die langjährige britische Russland-Korrespondentin Catherine Belton bezeichnet Malofejew in ihrer umfangreichen Analyse des Netzwerks, mit dem sich Wladimir Putin sukzessive die Kontrolle über sein Land gesichert hat, treffend als »orthodoxen Taliban«. Offenbar konnten in seiner Person das imperiale Restaurationsstreben des Kremls und der neue religiöse Fundamentalismus zusammenfinden. Belton beschreibt, wie Malofejew mithilfe seines Investmentfonds und seiner Stiftung Sankt Basilius der Große als »Frontmann im Kampf des Landes gegen den Westen um die Vormachtstellung in der Welt« agiert. Der Oligarch sei »Teil eines Prozesses, der kurz nach der prowestlichen Wende in der Ukraine während der Orangenen Revolution begann, als der Kreml anfing, ein Netzwerk russischer Nichtregierungsorganisationen und stellvertretender Interessengruppen für den Staat aufzubauen, das als erstes versuchte, sich in der Ukraine zu etablieren und von da aus in den Westen zu expandieren.« In dieser metapolitischen Kampagne für antiliberale Werte und einen gegen den Westen gerichteten Neo-Panslawismus wurde auch Dugin mitsamt seiner Thesen zum »Dritten Rom« zu einer propagandistischen Schlüsselfigur aufgebaut.[57] Als Plattform standen ihm dafür der von Malofejew 2014 gegründete Thinktank Katehon mit gleichnamigem Medium und ein eigener Fernsehsender Tsargrad TV zur Verfügung. In einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift Profil bestätigte Malofejew 2016, Dugin als Chefredakteur für Katehon und Tsargrad TV eingestellt zu haben.[58] Geld und Infrastruktur waren damit vorhanden, und das Vorgehen zeigte offensichtlich Wirkung. Mit solch finanzstarker Unterstützung konnten seine Publikationen bis weit in den Westen wirken, zumal Übersetzungen in mehrere Sprachen ihre internationale Rezeption sicherstellten. Das Ziel der Arbeit war die Bildung eines eurasischen Großraums »von Lissabon bis Wladivostok«, ein Konzept, das vielfache Angebote an die extreme Rechte in der EU enthielt und die Geschichte beider Kontinente neu schreiben wollte.
Im deutschen Sprachraum war Dugin zuvor lange Zeit nur von Spezialisten wahrgenommen worden, die allerdings schon früh vor seiner Synthese aus Ultranationalismus und religiösem Fundamentalismus gewarnt hatten.[59] Erst als Prophet des Krieges rückte er allmählich ins Bewusstsein einer größeren westlichen Öffentlichkeit. Als seine Forderungen schließlich zur Realität wurden, sollte Dugin jedoch einen hohen Preis zahlen. Ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn 2022 fiel seine Tochter und Mitstreiterin Darja Dugania einem Attentat zum Opfer. Die junge Frau hatte als Journalistin unter dem Pseudonym Darja Platonowa für kremlnahe Medien wie RT und Tsargrad TV gearbeitet sowie als nationalistische Aktivistin die Gedankenwelt ihres Vaters verbreitet. Sie wurde bei einem Sprengstoffanschlag auf ihr Auto getötet, für den russische Behörden umgehend den ukrainischen Geheimdienst verantwortlich machten. Die Frage, ob die Bombe Dugania oder ihrem Vater galt, ist bis heute ungeklärt, doch der Mord bewirkte ein weltweites Medienecho, das Dugin endgültig jenseits der Fachwelt bekannt machte.
Ganz im Sinne Dugins und Malofejews (und Oswald Spenglers) ist der Westen für ihn eine dekadent gewordene, sterbende Zivilisation; größte Bewunderung hat er dagegen für Putin, der »als Europäer« angetreten und »zum Eurasier« geworden sei.[78] Im Bündnis mit Kirche und Volk habe sich der russische Präsident vom Westen mit seiner fatalen »Schmelztiegel-Ideologie« abgewandt und zum »Dritten Rom« bekannt.[79] Damit sei die gravierende Fehlentwicklung infolge von Glasnost und Perestroika, die Westöffnung Russlands, erneut korrigiert worden, nachdem schon die Bolschewiki den gleichen Fehler Peters des Großen revidiert hatten. Kisoudis argumentiert schon hier im Fahrwasser der Konservativen Revolution der 1920er Jahre, als Moeller van den Bruck ebenfalls den »petrinischen Fehler« der politischen und kulturellen Westorientierung Russlands beklagt hat, obwohl seine eigentliche Sendung im Osten, in Asien, liege.[80]
Kisoudis’ Denken beruht auf einer Raumstrategie, als deren Quelle er Dugin sowie die deutschen Geopolitiker Carl Schmitt und Karl Haushofer anführt. Hinter dem gesamten Ost-West-Konflikt, merkt er mit Verweis auf Schmitt an, habe der ewige Widerstreit zwischen den Mächten des Landes und denen des Meeres gestanden, eine Erkenntnis, die nun durch den an Schmitt geschulten Neo-Eurasier Dugin wiederbelebt worden sei. Nach der Annexion der Krim sei dieser »im Kampf um die Ostukraine einer von Putins schärfsten Kritikern« gewesen.[81] Tatsächlich hatte Dugin ein entschlosseneres Vorgehen gefordert und viel früher die russische Expansion zur Umsetzung seiner Neurussland-Konzeption vorgesehen. Ob es
Dugins Einflüsse waren, die Putin 2022 endgültig zum Einmarsch gebracht haben, darf bezweifelt werden, aber als weltanschauliche Untermalung imperialer Politik eignen sich dessen Thesen durchaus.[…]
Volkmar Wölk, ein langjähriger Beobachter dieser Vernetzungsarbeit, hat diese »Renaissance der europäischen konservativen Revolution« über Grenzen und Generationen skizziert, mit deren Hilfe Dugin zum »Hauptvertreter des Eurasismus und wohl wichtigster russischer Propagandist der Konservativen Revolution« werden konnte.[77] Nur aufgrund dieser Vorarbeit konnten sich die späteren Netzwerke entwickeln, die schlussendlich bis in die Parteistrukturen der antieuropäischen Rechten reichen sollten und gerade aufgrund ihres intellektuellen Charakters auch die grundlegende Neuausrichtung des historischen Denkens anstrebten.
Besonders die AfD, aber auch das BSW gälten als interessant und sollten vorangebracht werden. Im Gespräch mit dem Spiegel betonte der ehemalige stellvertretende BND-Chef Arndt Freytag von Loringhoven ebenfalls, dass die systematische Desinformation aus Russland ihre Wirkung »schleichend«, aber stetig entfalte,
»indem sie das Misstrauen gegenüber Staat, Regierung und traditionellen Medien schürt. Das beobachten wir, und das ist im strategischen Interesse des Kreml, wie auch die schleichende Entsolidarisierung mit der Ukraine und die Wahlergebnisse für AfD und BSW.«[99] Die weltanschaulichen Inhalte des russischen Neo-Imperialismus verbreiten sich also nicht allein über die Zirkulare der Neuen Rechten, sondern werden längst viel breiter in die gesamte Gesellschaft gestreut.
Mit diesen Methoden ist es in der Vergangenheit rechten deutschen und russischen Medien gelungen, gezielt die Bevölkerung in Deutschland zu adressieren und aufzuhetzen.[100]
Nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine steigerten sich diese Angriffe auf die neuralgischen Punkte der deutschen Öffentlichkeit sichtlich. In hoher Frequenz wurden Themen bedient, für die die deutsche Gesellschaft entweder historisch oder ganz aktuell besonders empfänglich war. Neben dem intensiv bedienten Nazi-Narrativ in Bezug auf die Ukraine waren das vor allem die Themen »Krieg«, »Flüchtlinge« und »Atomwaffen«. Die russische Propaganda spekulierte offensichtlich auf lang andauernde Auseinandersetzungen, die in Deutschland bereits während der vergangenen Jahrzehnte intensiv geführt worden waren. All das sind Triebkräfte im umfassenden Rechtsruck in Deutschland und Europa, und dieses Vorgehen erhöht die Anziehungskraft Moskaus auf den rechten Rand der politischen Landkarte seit geraumer Zeit immens. Ein wenig scheint Russland das Spiel zu wiederholen, mit dem zuvor die Sowjetunion Teile der westlichen Linken einzuwickeln verstanden hat. Während sie nach außen mit Emanzipation, Frieden und Freiheit lockte, behielt sie das eigene Land fest im Griff von Regression, Militarismus und Zwang. Nach diesem bewährten Muster spielen sie jetzt der europäischen Rechten erfolgreich das Lied der Souveränität, um sich selbst ein neues Imperium mitsamt abhängiger Satelliten zu schaffen.
Putin selbst agierte dabei bereits vor dem Einmarsch in die Ukraine, den er mit historischen Anleihen zu rechtfertigen suchte, mit einem ausgeprägten Bewußtsein für historische Symbolik. Zunächst, beschreibt Catherine Belton, verstand er es, sich der Bevölkerung als »progressiver« Ex-KGB-Mann vorzustellen, der sein Wissen und seine Fähigkeiten nun bereitwillig in den Dienst der neuen Ordnung stellen wolle.[101] Dabei seien die imperialen Ambitionen der Gegenwart bereits mitgedacht gewesen, denn Putin und sein Kreis hätten von einer »Sowjetunion, aber mit Kapitalismus«, geträumt. Vielmehr sollte der Kapitalismus zur »Waffe« werden, um »Russlands Macht in der Welt wiederherzustellen.«[102] Vor allem aber gelang es ihm, in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Oligarchen die richtigen Zeichen zu setzen. Er versprach, die Kontrolle zurückzuholen. Denn wie Belton detailliert nachzeichnet, flossen immense Summen durch die Kanäle der Oligarchen ins westliche Ausland ab, während der postsowjetische Staat mit seinen Institutionen zerfiel und die Gesellschaft zunehmend dysfunktional wurde. Dafür kooperierte man mit Rackets der anderen Seite. Wie Belton betont, hätten sich weder die
russischen Oligarchen noch das Netzwerk Putins ohne die ihnen verbundenen Finanzkreise in London und Genf je so machtvoll entfalten können.
Auf dieser Misere konnte Putin schließlich sein System aufbauen, indem er die
staatlichen Behörden dafür einsetzte, die Macht zu zentralisieren
[…]
Thomas Flichy de La Neuville, Professor für Geopolitik und internationale Beziehungen, zeigen, der am Vorabend des russischen Angriffs die Krise als »Ablenkungsmanöver« von einem uralten geopolitischen Konflikt interpretierte. »Seit dem Tag, an dem die Seemacht der USA die Deutschlands und Großbritanniens übertraf«, schreibt der Franzose, sei es »Amerikas konstante Politik«, ein Zusammengehen der »deutschen Industrie und [der] gigantischen Energiereserven Russlands mit allen Mitteln zu unterbinden.« Mit dieser Linie wolle der Hegemon das Entstehen einer »echten Konkurrenzmacht in Eurasien« vereiteln. In einer etwas eigenwilligen historischen Deutung ordnet er auch beide Weltkriege in das Schema ein, da »die USA all ihre Kräfte in die Waagschale« geworfen hätten, um »Westeuropa und Russland sorgfältig geteilt zu halten.« Nur eine Beachtung dieses »uralte[n] Hintergrunds« könne »Licht in den aktuellen Konflikt bringen.
[…]
Chefredakteur Leon W. Plöcks, der Krieg zeige »einmal mehr, wie gespalten dieses Land sogar quer durch die sogenannten politischen Lager« sei.
Man wolle an der Einigkeit arbeiten, aber nun stünden sich »linksliberale Pazifisten, ›rechte‹ wie ›linke‹ US-kritische Putin-Sympathisanten und transatlantisch durchmanipulierte Rußlandgegner« unversöhnlich gegenüber.
[…]
Anleihen an die rechten Deutungsmuster der Covid-Pandemie durch; damit wurden Konflikt und Krieg zu einem reinen Produkt US-amerikanischer Massenmanipulation und universalistischer Hybris einer von den USA induzierten »linksgrünen Denke«.
[…]
Dafür sorgte die neue Lage auf einer anderen Ebene für eine klare Trennlinie. Medien wie die NZZ oder auch Die Welt, die bereits seit einiger Zeit an der Normalisierung der AfD mitgewirkt hatten, grundsätzlich aber transatlantisch ausgerichtet sind, gingen auf weite Distanz gegenüber der prorussischen Linie. In der Haltung zu Flucht, Migration und den Grünen waren ihre Positionen für das Rechtsaußen-Lager oft nahtlos anschlussfähig, bei einer Kritik der politischen Westorientierung endete die Gemeinsamkeit jedoch. Auf dieser Etappe trennten sich die Wege.
(Anmerkung: Da braucht sich dann ein CSU Politiker nicht wundern warum….)
[…]
Tatsächlich seien mangelndes Selbstbewusstsein der Europäer und ihre Unterordnung unter die USA Ursache der Misere, schiebt er später in einer »geopolitischen Analyse« nach. Die EU werde sich noch die Augen reiben, wenn die USA die Ukraine schlussendlich fallen ließen, was für den Autor nur eine Frage der Zeit ist. Die proukrainische Politik der Grünen sei daher eine reine Übersprungshandlung, um sich das eigene Scheitern im gesellschaftlichen Umbau nicht eingestehen zu müssen: »Das eigentliche Motiv, ebenso bei den Strack-Zimmermanns, Kiesewetters, Röttgens und anderen Trommlern für den ukrainischen Sieg, ist das Nichtwahrhabenwollen. Sie wollen nicht sehen, wie die Ordnung erodiert, wie sich die Gewichte verschieben, wie die Autorität nicht mehr greift.«[46]
In einem ähnlichen Gestus agierte auch das inoffizielle Parteiorgan der AfD, die weltanschaulich nah bei Cato angesiedelte Junge Freiheit. Mit grundsätzlicher Sympathie für das selbstbewusste russische Vorgehen bei der Wahrung der eigenen Interessen und einer ebenso grundsätzlichen Skepsis gegenüber den US-amerikanischen Einflüssen in Europa verfolgte sie im Konflikt das Hauptziel der nationalen Souveränität Deutschlands
[…]
Projekt des ehemaligen APO-Aktivisten Frank Böckelmann. Die Zeitschrift ging auf die seit den 70er Jahren bestehende Schriftenreihe zur Verkehrswissenschaft zurück und führte den bereits bekannten Titel nach einem Konflikt in der alten Redaktion mit einer neuen Ausrichtung weiter. Anlass für die Trennung waren Texte zu Flucht und Migration, die im Winter 2015 einen Großteil der alten Besetzung zum Ausscheiden bewegten und den neuen Redaktionskreis weiter ins Fahrwasser der Neuen Rechten brachten.
Heute stellt Tumult eine ernstzunehmende Konkurrenz für die Sezession dar, zumal die Zeitschrift professioneller gemacht ist und mit bekannteren Namen v. a. aus der Kunst- und Hochschullandschaft aufwarten kann. Einzelne Autoren haben sogar die Redaktion gewechselt, andere schreiben in beiden Organen. In maßgeblichen inhaltlichen Einschätzungen besteht zwischen den selbsternannten »Konsensstörern« aber durchaus Einigkeit. Beide führen die Klage, die Bundesrepublik Deutschland sei in ihren Entscheidungen kein souveräner Staat, sondern laufe nach wie vor am Gängelband vor allem der USA, und sehen die Politik- und Medienlandschaft jenseits der eigenen Reihen als monolithischen Block.
[…]
FPÖ und Le Pen von Putins Gunst fordert er einen umfassenden Kurswechsel. Seine Partei solle zur Kenntnis nehmen, dass der »heroische Widerstand« der Ukraine in ihrem »Volkskrieg« die in Europa verloren geglaubte Tugend »patriotischer Wehrhaftigkeit« wieder zur Geltung gebracht habe. Statt also auf der rechten Seite mit pazifistischen »Kirchentagsparolen« spazieren zu gehen, solle man lieber die »Zeitenwende« aktiv mitgestalten.[44] Das waren deutliche Worte, und sie zielten offensichtlich auf die in der
AfD verbreitete Technik, die Parolen der Friedensbewegung aus den 80er Jahren zu recyceln. Allerdings dürfte es kein Zufall sein, dass Paul einem der westlichsten Landesverbände entstammt und nicht aus den AfD-Hochburgen in Ostdeutschland.
[…]
»Rußland kein geographischer Sehnsuchtsort für neurechte Ideologen aus Deutschland, sondern ein politischer.«[1] Dafür gibt es allerdings konkrete Gründe, denn Russland fördert den Aufbau nationalistischer Strukturen zur Schwächung der EU und bietet den Rechtsparteien im Illiberalismus seiner »geführten Demokratie« eine konzeptionelle Orientierung.
[…]
Die Nationalsozialisten waren keineswegs die Erfinder dieser Methode, Begriffe des Gegners mit neuer Bedeutung zu überschreiben, sondern hatten sie nur fortgeführt. Vielmehr zeugen wiederholte Umdeutungen und Aneignungen von politischen Kategorien über ein gutes Jahrhundert hinweg von der Instabilität der gesamten Begriffstektonik des öffentlichen Diskurses…
uellenkritische Untersuchung des verbreiteten Goebbels-Zitats, mit dem die AfD und ihr Umfeld ihre Behauptung zu belegen versuchen, lässt die Konstruktion, die Nazis seien eigentlich Linke (und im Umkehrschluss Linke eigentlich Nazis), also schnell in sich zusammenbrechen. Wie der Publikationskontext zeigt, hatten nicht einmal die Gesprächspartner Venohrs die These von den »linken Nazis« im Sinn, als sie sich über Goebbels austauschten. Zwar urteilten sie auffallend milde, entschuldigten vieles und verzerrten manches, aber als unmittelbare Zeitzeugen war allen Beteiligten klar, wie wenig die Worte eines Goebbels mit der Wahrheit zu tun hatten. Das bedeutet, dass seit Jahrzehnten ein falsch zugeordnetes und fehlerhaft wiedergegebenes Zitat in der vornehmlich rechten Öffentlichkeit kursiert, das zudem noch aus dem Kontext seiner Schöpfung gerissen und uminterpretiert wurde. Die AfD und ihr propagandistisches Umfeld haben diese Verzerrung aus dem noch relativ geschlossenen Spektrum extrem rechter Publizistik, in dem der Satz seit den 80ern herumgeisterte, via soziale Medien und durch eine Parlamentsrede schließlich in die deutsche Öffentlichkeit transportiert. Der von ihr verbreitete Inhalt ist historisch falsch und ihr Vorgehen demagogisch, irreführend und unredlich – aber insgesamt beispielhaft für die Methode, mit der die AfD (nicht nur) ihre Geschichtspolitik gestaltet.
Goebbels’ Angriff auf die Linke
(Hitler und Goebbels waren nicht LINKS)
Nachdem Herkunft und der Kontext des Zitates geklärt worden sind, soll noch weiter seiner Aussage vom »linken Charakter« des Nationalsozialismus nachgespürt werden. Zu Goebbels passte diese Einschätzung jedenfalls nicht, da der Begriff »links« in anderen seiner Texte dieser Zeit viel zu negativ konnotiert ist und sich eine plötzlich positive Identifikation mit »links« schlecht in seine übliche Verwendung einfügt. Tatsächlich hat Goebbels sich 1928 im Angriff sogar selbst über falsche Zuordnungen beklagt und für die NSDAP – ganz wie später Haupts Zeitungsartikel – eine Mittelposition in Anspruch genommen. Goebbels schreibt: »Die nationalsozialistische Bewegung hat ihre Ursachen in dem Versagen der marxistischen und bürgerlichen Kräfte des deutschen Parlamentarismus. Ihre Anfänge resultieren aus einer scharfen Proteststellung gegen die Reaktion von rechts und links, und daher befindet sie sich seit der ersten Stunde ihres Bestehens bis heute zwischen zwei Feuern: von links wird ihr vorgeworfen, sie sei kapitalistisch und von rechts, sie sei bolschewistisch.«[32] In dieser Frage war die Antwort stets, dass der Nationalsozialismus keine Partei, sondern eine »Volksbewegung« sei und daher aus den überkommenen Kategorien herausfalle, ganz wie auch im wohl originalen Text von Joachim Haupt dargelegt.
Allerdings gibt es genug hieb- und stichfest überprüfbare Beispiele, in denen Joseph Goebbels (wie auch Haupt) den Begriff des »Sozialismus« für sich und seine Partei in Anspruch nahm. Daher stellt sich die Frage, was zu dieser Zeit in völkischen Kreisen eigentlich unter diesem Begriff verstanden wurde.
Die Antwort findet sich bei Goebbels selbst.
Unter dem Titel »Unser Sozialismus« hält er 1932 in seinem Berliner Kampfblatt Der Angriff fest, es sei das Ziel seiner Politik, die Arbeiter wieder »in die Nation einzufügen«. In der Beschreibung des »Sozialismus« der NSDAP formuliert er dann jedoch das Gegenteil der klassischen Programmatik, die aus der internationalen Arbeiterbewegung bekannt war: »Sozialismus bedeutet nicht Gleichmacherei. Er hat weder mit Pazifismus noch mit Internationalität das geringste zu tun. Er ist nicht eine Lehre der Schwäche, sondern der Stärke. Der marxistische Sozialismus hat die Klassen gegeneinander gehetzt und damit das organische Gefüge des Volkes aufgeweicht. Der nationalsozialistische Sozialismus dagegen schließt die Klassen zusammen und schmiedet damit das Volk zu einer unlösbaren Blutseinheit aneinander.«
Vor allem durch den antiegalitären Kern ist in dieser Definition die klassische Programmatik der Bewegung nicht mehr wiederzuerkennen, deren zentrale Forderungen in Gleichheit, Internationalismus und Gemeineigentum bestanden und die das universalistische Ziel der allgemeinen Emanzipation über Klassen-, Staats- und Geschlechtergrenzen hinweg verfolgte.
Bei
Goebbels »Sozialismus« handelt es sich also um eine sehr spezifische Konstruktion, die sich bei Übernahme des Begriffs nicht aus der Tradition der Linken, sondern vielmehr ihrer Negation speiste.
Dafür, dass sich im Angriff, dem Venohr Goebbels’ Bekenntnis zur Linken entliehen haben will, mehr Positionierungen zu einem solchen »Sozialismus« als in anderen NS-Publikationen finden, gab es einen spezifischen Grund. Das unter Goebbels persönlicher Leitung stehende Blatt, so ist einer Untersuchung des US-amerikanischen Historikers Russel Lemmons zu entnehmen, war in seinen Themen nicht auf Bauern oder das Bürgertum zugeschnitten, sondern zielte bewusst auf das großstädtische Arbeiter- und Angestelltenmilieu. Diese Ausrichtung war nur folgerichtig, denn aufgrund der Sozialstruktur der
hochurbanen und industrialisierten Stadt Berlin konnte es sich die Partei dort nicht leisten, auf »proletarische« Themen zu verzichten.
Goebbels wusste genau, dass für die geplante »Eroberung« Berlins die Stimmen der Arbeiterinnen und Arbeiter unverzichtbar waren. Im Zentrum stand jedoch nicht der Klassenkampf der Linken, sondern eine Integration dieser Zielgruppe in das entgegengesetzte Konzept der »Volksgemeinschaft«, wie Lemmons nachzeichnet: »Die Propaganda des Angriffs half dabei, die ›Volksgemeinschaft‹ zu schaffen, die so eine wichtige Rolle in der Nazi-Ideologie spielte. Um dieses Ziel zu erreichen, war der Klassenkonflikt hinderlich. Das Blatt tat daher alles, um die kommunistischen Versuche zu diskreditieren, den Klassenhass zu säen.«
Goebbels hatte sich 1928 im Angriff auch längst der Namensgebung der NSDAP angenommen, die Erika Steinbach noch fast ein Jahrhundert später umtreiben sollte. Er hat die Frage in zwei Artikeln beantwortet, in »Warum sind wir Sozialisten?« und »Warum Arbeiterpartei?«. Seine Texte machen den veränderten Schwerpunkt dieser Begriffe im Gebrauch seiner Partei deutlich: »Wir sind Sozialisten, weil wir im Sozialismus, das heißt im schicksalsmäßigen Angewiesensein aller Volksgenossen aufeinander die einzige Möglichkeit zur Erhaltung unserer rassemäßigen Erbgüter und damit zur Wiedereroberung unserer politischen Freiheit und zur Erneuerung des deutschen Staates sehen.« Es gehe ihm um »mehr als um den Achtstundentag«, betont er, eine der ältesten Forderungen der Arbeitskämpfe aufnehmend. Viel wichtiger sei doch die »Formung einer neuen staatlichen Bewußtheit, die jeden schaffenden Volksgenossen umschließen« solle.[36] Goebbels propagierte demnach seinen »Sozialismus« als eine Kampfgemeinschaft der Rasse und des Staates, nicht der ausgebeuteten Arbeitermassen. Zur Frage, wer sich in der NSDAP vereine, nimmt er gleich darauf Stellung: »Wir nennen uns Arbeiterpartei, weil wir den Begriff Arbeit aus seiner gegenwärtigen Verfälschung herausreißen und ihn wieder in seine ursprünglichen Rechte einsetzen wollen.« Nicht die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen, sondern die Ergebenheit in das Schicksal sei maßgebend, die Frage also, »wie ich die Stelle, an die mich Gott gestellt hat, ausfülle«. Eine solche Definition des Arbeiters war das Gegenteil der konkreten Forderungen nach Mitbestimmung, Arbeitsschutz, Absicherung und anderer gewerkschaftlicher Themen, die die Arbeiterbewegung umtrieben. Nach Glauben der Nationalsozialisten waren diese Dinge nachrangig und sollten durch die »Volksgemeinschaft« aufgehoben werden. Überhaupt, schreibt Goebbels, lehne man den Gleichheitsgedanken, seit 1789 immerhin einer der Fixpunkte des revolutionären Gedankens, ab: »Wir sind keine Gleichmacher und Menschheitsanbeter. Wir wollen Schichtung des Volkes, hoch und niedrig.«[37] Natürlich durfte auch die typisch nationalsozialistische Unterscheidung zwischen dem produktiv »schaffenden« Deutschen und seinem destruktiven Widerpart, dem Juden, nicht fehlen, der, wie auch Hitler selbst betonte, die Arbeit als »etwas Minderwertiges« betrachte.[38] Der Arbeitsbegriff des Nationalsozialismus hatte nichts mehr mit labour zu tun, sondern orientierte sich am Mythos des »schöpferischen Ariers«. Goebbels veröffentlichte im Angriff und anderen an Arbeiter gerichteten Agitationsbroschüren unzählige antisemitische Attacken, in denen die dort gepflegte »sozialistische« Rhetorik unmissverständlich völkisch gerahmt wurde.
Während Goebbels versuchte, den einzelnen »deutschen Arbeiter« ins nationalsozialistische Lager zu ziehen, ordnete er das organisierte Proletariat als eine Agentur der jüdischen Weltherrschaft in die Sphäre des Parasitären, Negativen und Degenerierten ein:
»Auf dem Asphalt der modernen Großstädte errichtet der Weltjude die imperialistische Diktatur des roten Goldes; ihre Säulen sind Presse, Arbeiterbewegung, Parlament und Feigheit der bürgerlichen Parteien.«
Als ein zentrales und effektives Werkzeug wird dabei die systematische Verwendung von Begriffen abseits ihrer ursprünglichen Bedeutung genutzt, zumal sich deren Gehalt bei konsequenter Anwendung langfristig sogar verschieben lässt. Wie noch zu sehen sein wird, kann diese Methode auf eine lange Tradition zurückblicken.
Die Nationalsozialisten waren keineswegs die Erfinder dieser Methode, Begriffe des Gegners mit neuer Bedeutung zu überschreiben, sondern hatten sie nur fortgeführt.
Friedrich August von Hayek
Ironischerweise war es Friedrich August von Hayek, einer der historischen Stichwortgeber des heutigen marktradikalen Flügels der AfD, der diese Nationalisierung des Sozialismus in Krieg und Niederlage bereits 1944 kritisierte, als er die »sozialistischen Wurzeln« des Nationalsozialismus nachzeichnen wollte.
Allerdings schilderte der österreichische Nationalökonom diesen »Weg zur Knechtschaft« eben als Entwicklung und behauptete noch keine Identität der Phänomene, wie er es auch vermochte, darin einen »Gegensatz zum […] liberalen Gehalt des Marxismus, zu seinem Internationalismus und seinem Demokratismus« wahrzunehmen.[99]
Als Bewunderer des britischen Liberalismus ging Hayek nicht nur mit den nationalistisch gewendeten Nationalökonomen der Sozialdemokratie (Sombart, Plenge, Lensch) hart ins Gericht, er fand ebenso scharfe Worte für Autoren wie Oswald Spengler, die diesen »preußischen« Staffelstab übernahmen.
In Moeller van den Bruck sah er durchaus treffend den »Schutzpatron des Nationalsozialismus«, was von dessen neurechten Bewunderern bis heute geflissentlich bestritten wird.
So sehr Hayeks Sozialismus-Begriff am Ende der Propaganda selbst auf den Leim ging, da er in in Hitlers Partei lediglich einen »Kollektivismus« walten sah, »der von allen Spuren der individualistischen Tradition« befreit wurde, verweigerte er sich als Kriegsgegner doch dem zeittypischen Heroismus.
Seine (Hayeks) Einschätzung des Nationalsozialismus als
»Zusammenschluss der antikapitalistischen Kräfte der Rechten und der Linken und die Verschmelzung des radikalen mit dem konservativen Sozialismus« war immerhin besser imstande, den konservativen Anteil an der neuen Strömung zu benennen, als es viele seiner heutigen Bewunderer vermögen.
Mit dieser Vorgeschichte ließ sich der Begriff »Sozialismus« auch nach Ende des Ersten Weltkriegs in alle Richtungen dehnen,
Rückdeutungsversuche AFD Steinbach
Hinweis auf den Begriff »Arbeiterpartei«, der zudem als Abgrenzung zu dem marxistisch konnotierten Terminus des Proletariats fungierte, eignet sich also sachlich nicht dazu, den Nationalsozialismus auf die linke Seite des politischen Spektrums zu ziehen. Es ist jedoch auffällig, wie stark sich die heutigen Rückdeutungsversuche von AfD und anderen Akteuren der Rechten wieder den Entlastungserzählungen der frühen Bundesrepublik angenähert haben.
Aus der Feder Erika Steinbachs hat diese Geschichtsklitterung noch einen weiteren Beigeschmack. Immerhin vertrat sie als Vertriebenenfunktionärin eine Bevölkerungsgruppe (bzw. deren Nachkommen), die aus nationalsozialistischen Hochburgen kam.
Ostpreußen und Pommern hatten bei den Reichstagswahlen im März 1933 mit die höchsten Stimmanteile für die NSDAP zu verzeichnen, in Schlesien lagen sie in weiten Teilen überdurchschnittlich hoch.
Das Sudetenland wies, wie Falter schreibt, nach seiner Eingliederung ins Reich 1938 immense Beitrittszahlen zur Partei auf, »[b]ezogen auf die Wahlberechtigten trat hier bis 1945 fast ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung der NSDAP bei.«
Angesichts dieser Befunde die Propaganda eines »nationalen Sozialismus« wiederzubeleben, wie es Steinbach tat, verfälscht die Geschichte.
[…]Könne nur »links« ergeben – zumindest, wenn man wie Steinbach »national« als Bestimmung des Kompositums ignoriert.
Der Vorstoß löste einiges Kopfschütteln aus, doch die kurzfristige Empörung über die Aussage Steinbachs übersah, dass die These von den »linken Nazis« nicht nur sehr alt, sondern in rechten Kreisen durchaus verbreitet ist. In der alten Bundesrepublik zählte die Parole von den »linken Nazis« zu den Standardprovokationen aus den Reihen der CDU/CSU.
1979 startete Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der CDU/CSU damit in den Bundestagswahlkampf gegen Helmut Schmidt.
Dem Spiegel war dessen Einlassung,
»Sowohl Hitler wie Goebbels waren im Grunde ihres Herzens Marxisten«,
eine Titelgeschichte wert. Allerdings zeigte sich das Magazin damals skeptisch, ob diese Äußerung die von Strauß erwünschte mobilisierende Wirkung habe. Vielmehr, spottete der Leitartikel, könnte sie einen gegenteiligen Effekt bewirken: »Hier schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Man verärgert die alten Nationalsozialisten, überwiegend treue Wähler der CDU/CSU, und zwingt auch noch den mißmutigsten alten Sozi an die Urne«.
Tatsächlich sollte der gewohnheitsmäßige Polarisierer Strauß keinen Erfolg haben und Schmidt die Kanzlerschaft verteidigen. Gleichwohl greifen bis heute Autoren wie Michael Klonovsky, der ehemalige Redenschreiber Alexander Gaulands, zur Feder, um in langen Traktaten den
»Kollektivismus« Hitlers nachzuweisen, der dann gleich zu »Woken« und »Grünen« verlängert wird.
Doch das Phänomen ist nicht nur langlebig, sondern auch international.
In den USA ist diese Behauptung noch populärer als in Deutschland.
Trump hat die Angewohnheit, seine demokratischen Gegenspieler als »Faschisten« und »Kommunisten« zugleich zu bezeichnen. Anstoß erregte er damit nicht, ein nennenswerter Anteil seiner Wähler ordnet den Nationalsozialismus auf dem linken Spektrum der Politik ein.
Dies mag einer Unkenntnis europäischer Geschichte geschuldet sein, entspringt aber auch einem traditionell anderen Selbstverständnis der US-Rechten, für das nicht wie in Europa der Obrigkeitsstaat, sondern signifikante Staatsferne prägend war.
Die Erinnerung an staatlich angestoßene Konjunkturprogramme der eigenen Geschichte wie den New Deal oder umfassende staatliche Rüstungsprojekte scheint nach und nach aus dem historischen Gedächtnis zu verschwinden.
Manche haben daraus die Konsequenz gezogen, dass jede Form staatlicher Intervention irgendwie Nazi-like sei, und ziehen mit entsprechender Rhetorik gegen Sozialpolitik, Arbeitsschutzgesetze und Waffenkontrolle zu Felde.
Blauer Trabi, Kohle, Energie, Simson
Die AfD wusste sich dieser ostdeutschen Identitäts-Bedürfnisse von Beginn an anzunehmen. Schon früh hatte sie einen
AfD-blau lackierten Trabbi auf Tour über ostdeutsche Dörfer geschickt. So nutzte sie ein Auto, das nach 1989 niemand mehr fahren wollte, um sich mit der Aufschrift
»Hol’ dir dein Land zurück!« auf eine Vergangenheit zu berufen, die es nie gegeben hatte.
Nach ähnlichem Muster arbeitete die Parole der
Brexit-Kampagne in Großbritannien: »take back control!« – als habe es jemals irgendwo und dann noch in einer so ausgeprägten Klassengesellschaft wie der britischen die volle Souveränität des Einzelnen gegeben.
In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob der politische Sonderweg der ostdeutschen Bundesländer mit der AfD in der föderalen Struktur Deutschlands ähnliche Konsequenzen nach sich zieht wie der Brexit, mit dem
»aus lauter imaginierter Machtvollkommenheit nichts anderes betrieben worden [ist] als eine Demontage der eigenen Position in einem institutionalisierten Zusammenhang, dessen verhasste Institutionen dabei nicht einmal unbedeutend geworden sind.«
Im Zuge dieser Selbstfindung machte die Verwendung von Objekten des DDR-Alltags für rechte Botschaften Schule.
Im Landtagswahlkampf 2024 verbreitete die AfD die Parole »Simson statt Lastenrad«.
Mittels der Suhler Motorradmarke, die wie der Trabbi längst vom Markt verschwunden ist, appellierte sie einerseits an die Ostidentität, richtete sich aber zugleich gegen den »grünen« Lebensstil. Eine ähnlich symbolische Funktion erfüllt auch das von der AfD turnusmäßig geleistete Lob der Braunkohle als Energieträger der Zukunft. Der wegen seiner Unwirtschaftlichkeit außer Gebrauch kommende Brennstoff ist nicht nur eng mit der Erinnerung an den DDR-Alltag verbunden, er gilt aufgrund seiner hohen Schadstoff-Emission und schlechter Energiewerte unter
Klimaschutzgegnern als ultimative Provokation für das ökologische Bewusstsein und damit als ein weiterer Schlag gegen die Grünen. Schon diese Eigenschaft als symbolische Negation der Energiewende machte Braunkohle zusammen mit der ebenfalls gelobten Atomkraft und russischem Gas schließlich zu einem Fixpunkt der AfD-Energiepolitik.
(Anmerkung: Das erklärt mir nun als Energiewende Befürworter und Beobachter so einiges…da gehts gar nicht um Windräder etc sondern um was ganz anderes…)
Letztlich sind dies Trotzreaktionen, vergleichbar mit dem Phänomen der Coal Roller in den USA. Diese Autofahrer manipulieren ihre Motoren so, dass eine ungefilterte schwarze Abgaswolke ausgestoßen wird, preisen dies als individuellen Freiheitsbeweis gegen die angeblich staatlich oktroyierten ökologischen Zwänge und präsentieren der Welt damit ein beachtliches Vernunftdefizit.
[…]
Anti-Haltung scheint massentauglich geworden zu sein, wovon schon der Lobpreis der Ostidentität in den rechten Social-Media-Blasen zeugt. »Ostdeutsch«, verkündet ein seit Jahren durch das Internet geisterndes und vielfach geteiltes Motiv, sei »ja heutzutage ein Kompliment«. Es folgt eine Aufzählung der angeblich im Westen verlorenen Tugenden: »abgeschlossene Ausbildung, saubere Ahnentafel, Allgemeinbildung, rationales Denken, technisches Grundverständnis, ideologiefreie Weltanschauung«. Was sich dem Publikum als witziger Spruch anbiedert, steht jedoch für weit mehr als nur für Spießerhumor.
Die Formel »ideologiefreie Weltanschauung« ist zwar widersinnig, bezeichnet aber genau das Selbstverständnis jener AfD-»Normalität«, die stets alle anderen von CSU bis Grüne für irregeleitet hält. Auch der so breitbeinig vorgetragene Produzenten- und Bildungsstolz hat wenig mit der Realität zu tun. Schließlich sind die Lage am Arbeitsmarkt, Schulabbruchquoten und Ausbildungssituation in den ostdeutschen Bundesländern weit dramatischer als im Westen.[14] Die »saubere Ahnentafel« hingegen gibt in purem Nazi-Jargon das Phantasma des »homogenen Volkes« wieder und bezieht sich auf ein Verständnis, nach dem man »rein deutsch« nur noch auf dem Territorium der Ex-DDR sein könne. Wie bei vielen vergleichbaren Social-Media-Phänomenen tat das offene Bekenntnis zur NS-Rassenideologie – hier unter der Fahne der »Ideologiefreiheit« und mit dem Begriff »Ahnentafel«, der heute fast nur noch in der Adelsforschung und Haustierzucht verwendet wird – dem Erfolg des launigen Sprüchleins keinen Abbruch.
Allianz für Deutschland
Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich bei den letzten Volkskammerwahlen 1990 ausgerechnet das Bündnis konservativer Ost-Parteien (CDU-Ost, DSU und DA), das vehement für eine sofortige Vereinigung eintrat, »Allianz für Deutschland« nannte und damit dasselbe Kürzel hatte wie jene Partei, die heute die ostdeutsche Sonderidentität besonders intensiv bedient. Der zunächst positive Blick nach »Westen« hat offensichtlich eine starke Trübung erlitten. Knapp drei Jahrzehnte, nachdem seine Partei eilig zur Vereinigung drängte, diktierte der ehemalige DDR-Dissident und zur Wendezeit einflussreiche sächsische CDU-Ost-Politiker Arnold Vaatz dem Spiegel den Satz: »Wir sind alle mit dem Westen fertig, […] es gibt den Westen für uns nicht mehr.«[10] Solche Positionswechsel macht die These des Sozialpädagogen Tobias Frank schlüssig, die die heutige Ablehnung als Resultat eines »Kulturschocks« begreift, in dem sich erst Euphorie, dann Entfremdung und schließlich Eskalation aus Enttäuschung Bahn brechen können – um anschließend im günstigen Fall zur Verständigung zu finden.
Goebbels in Dresden und Magdeburg – Karriere eines Zitats
Boris Reitschuster,
ein ehemaliger Russland-Korrespondent des Magazins Focus, der sich in der Corona-Pandemie »alternativen« Meinungen zuwandte und fortan als »Klartext«-Journalist im Internet Follower sammelte, argumentierte mehr als ein Jahrzehnt nach Steinbach nach demselben Muster.
Aufgrund der Selbstbezeichnung »Arbeiterpartei«, meint er
auf seiner eigenen Plattform, stehe die Zugehörigkeit der Nazis zur Linken außer Frage, als finale Deutungsautorität bringt er die Meinung seiner »Oma« ins Spiel.
Zudem zitiert Reitschuster einen Satz, der in dieser Frage seit vielen Jahren regelmäßig als Beweis dafür angeführt wird, woher die Nazis eigentlich kamen.
Er soll auf den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels zurückgehen und lautet:
»Der Idee der NSDAP entsprechend sind wir die deutsche Linke.
Nichts ist uns verhaßter als der rechtsstehende nationale Besitzbürgerblock.«
Das Zitat ist beliebt, es findet sich vielfach in
Blogs und Kommentaren von Rechten und »Querdenkern« platziert,
allein auf Twitter/X wird es in einem kaum mehr zu überschauenden Ausmaß wiedergegeben.
Doch geistert das angebliche Goebbels-Wort nicht allein durch die digitale Sphäre. In analogen Zeiten war die Behauptung ebenfalls schon präsent, jedoch meist in einschlägigem Umfeld: In Criticón stellte sie 1991 ein Autor einer ebenso ausführlichen wie steilen Argumentation voran, warum Hitler eigentlich auf Marx zurückzuführen sei,[13] und der ehemalige SS-Mann und langjährige Bundesvorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, verwendete den Satz 2002 in einem Beitrag für die rechtsextreme Zeitschrift Nation und Europa.
In der Preußischen Allgemeinen Zeitung tauchte er in einem lobenden Artikel über ein Handbuch Linksextremismus auf, das ein Hausverlag der extremen Rechten veröffentlicht hatte.
Offensichtlich handelte es sich dabei um eine bewährte Allzweckwaffe zum Nachweis, warum die Linken eigentlich für jede Fehlentwicklung, inklusive des Nationalsozialismus, die Verantwortung trügen.
Ihre wirkungsvollste Verwendung fand die Sentenz schließlich während der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit am 3. Oktober 2016 in Dresden, wo sie auf einem Plakat rechter Demonstranten präsentiert wurde und zum attraktiven Fotomotiv der anwesenden Presse avancierte. Durch die anschließenden Berichte und Bilder bekam die Behauptung noch mehr Reichweite.
Danach folgte der Sprung in die große Politik, und das Goebbels-Zitat schaffte es durch die AfD in den Landtag von Sachsen-Anhalt: Bei einer Debatte im März 2023 über die Verabschiedung des nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetzes 90 Jahre zuvor verstieg sich der AfD-Abgeordnete Oliver Kirchner zu der Aussage, die Nationalsozialisten seien »Linke« gewesen und »keine Rechten«. Darauf aufbauend attackierte er die SPD äußerst scharf und machte die politische Linke für die NS-Opfer verantwortlich[…]
Angelika Barbe, einstmalige Mitbegründerin der Ost-SPD und späteres Mitglied im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, redet mit Blick auf die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes 2020 von einem »Ermächtigungsgesetz« und formuliert weiter:
»Zu vieles erinnert mich an die DDR. Es ähneln sich die Methoden der Machtsicherung heute wie gestern.« Sie zieht Parallelen zwischen dem »Judenstern« des NS-Regimes und der Maskenpflicht während der Pandemie und spricht in Anspielung auf die Berliner Mauer von einem »antiviralen Schutzwall«.[39]
Die Wirkung dieser Proteste ist aus zwei Gründen nicht zu unterschätzen: Zunächst erreichten sie durch die intensive Nutzung digitaler Medien erstaunliche Dimensionen. Auf ihrem Höhepunkt wurden allein in Sachsen wöchentlich mehr als 100 Aufzüge gemeldet. Zudem führten sie zu einer qualitativen Verschiebung, da sich dort mit den »Freien Sachsen« besonders radikale Akteure etablieren konnten. Kritische Beobachter konstatieren, dass die extreme Rechte die Corona-Pandemie erfolgreich als »Türöffner« für die eigenen Anliegen zu nutzen verstanden habe.[40] Das Phänomen war zwar keineswegs auf Ostdeutschland beschränkt, doch hier war die Berufung auf die DDR-Opposition besonders ausgeprägt
[…]
Correctiv stieß in den Reihen der AfD auf eine signifikant hohe Anzahl ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter und befragte daraufhin den Politologen Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat. Er erachtet ein Zusammengehen dieses Personenkreises mit der AFD ebenso wie eine gewisse Nähe zur Linkspartei-Abtrünnigen Sahra Wagenknecht fraglos als folgerichtig: »Viele ehemalige Mitarbeiter der Stasi sind Leute, die mit der Faust in der Tasche die Entwicklung nach der Wiedervereinigung erlebt haben, und die sich nun in diese beiden Parteien, AfD und BSW, einsortieren können.
Vorwärts in die Vergangenheit!
Besondere Wirkung zeigte die agitatorische Verwertung der Wende-Tradition allerdings ausgerechnet im Kontext der Reanimation des russischen Imperiums durch das Regime Putins. Anstatt diese Restaurationsversuche skeptisch zu beäugen, wie es in Polen und im Baltikum schon länger der Fall war, nutzten AfD und andere extrem rechte Akteure den Ukraine-Krieg dazu, die Entfremdung der AfD-Basis vom Westen weiter zu befördern und das russische Regime zu verteidigen. Angesichts dieser Entwicklung attestiert der Historiker Felix Ackermann in der FAZ den Ostdeutschen gar ein »Stockholmsyndrom« gegenüber ihrer ehemaligen Besatzungsmacht.
Diese Vertretung russischer Interessen war sorgsam aufgebaut worden. Bereits die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim hatte 2014 nicht nur die Beziehungen Russlands zum Westen drastisch abkühlen lassen, sie markierte – ebenfalls mit »Montagsmahnwachen« – auch den Anfang einer neuen »Friedensbewegung«. Zumindest sah sich das Milieu als solche, das sich vornehmlich, aber keineswegs nur in ostdeutschen Städten versammelte, um mit den Symbolen der alten Friedensbewegung für gute Beziehungen zu Russland zu werben. Wie viele Protestformen wuchs auch diese anfangs noch aus einem Gefühl der Bedrohung und des Unbehagens. Die Warnungen vor einem erneut dräuenden Kalten Krieg bekamen aber recht schnell einen prorussischen und nationalistischen Charakter. In ihrem von Personalisierung und Verschwörungsglauben geprägten Weltbild griffen sie vielen Positionen vor, die später, im Gewand von AfD, Corona-Protesten und Reichsbürgern, noch weitere Kreise ziehen sollten.
Auch hier sollte durch die bewusste Verwendung des Montags als zentraler Aktionstag ein Zeichen gesetzt werden.
Für auf Abstammung und Nationalidentität zentrierte politische Kräfte lässt die ausdünnende Bevölkerung des Ostens durch sinkende Geburtenraten und Wegzug zusammen mit dem wachsenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund im Westen das Gefühl der unaufhaltsamen Niederlage entstehen. Neben allen ideologischen Gräben fürchten sie vor allem den Verlust des »Deutschen« durch die Zunahme der »Fremden«, ein Prozess, der je nach Präferenz als »Überfremdung«, »großer Austausch« oder »Umvolkung« bezeichnet wird. Die Entstehung aktiver islamistischer Strukturen in den westlichen Großstädten, deren »identitäre« Diskurse sich kaum von denen der Rechten unterscheiden, befeuert die Situation noch. Aus diese Sorgen resultiert der seit Jahren betonte Wille, Millionen Menschen ohne deutsche Vorfahren außer Landes schaffen zu wollen, der durch das Potsdamer Treffen einiger Netzwerker des rechten Randes im Januar 2024 schließlich auch der breiteren Öffentlichkeit bewusst wurde.[73] Sie sind auch der Grund für die Forderung der AfD nach »Null-« oder »Minusmigration«. Von möglichen Auswirkungen einer sich ändernden Bevölkerungsstruktur auf die Mehrheitsverhältnisse und damit auf die Politik fühlen sich alle rechten Akteure bedroht. Ethnische Kräfteverschiebungen und die Effekte von ethnisierten Wahlkampagnen, wie sie in den USA, Großbritannien oder Frankreich längst Thema sind, werden daher aufmerksam beobachtet.
In den Reihen der »Identitären« vom Antaios-Verlag zerbrechen sich Autoren wie Martin Sellner seit Jahren den Kopf, mit welchen Mitteln der drohende »Volkstod« aufgehalten werden könnte. Denn, so schreibt Sellner, der spätestens seit dem Potsdamer Treffen mit diesem Thema in Verbindung gebracht wird: »Diese Bedrohung ist radikal anders als jede bisherige ideologische und religiöse Spaltung der Gesellschaft. Die Konflikte zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, Protestanten und Katholiken, und sogar heute zwischen der Identitären Bewegung und der Antifa, sind innerdeutsche Binnenkonflikte, im Rahmen eines spezifischen ideengeschichtlichen, ethnokulturellen Narrativs. Egal was dabei am Ende herauskam: es war deutsch.«
Martin Sellner propagiert, nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem US-amerikanischen Modell, eine sehr ähnliche »Strategie der Sammlung«. Ein unter diesem Titel 2023 verbreiteter »Plan B für unser Volk« bringt ein ostdeutsches Siedlungs- und Separationskonzept ins Spiel, abseits der großen Städte und erneut mit Braunkohle als Autarkie-Reserve. Dabei möchte er im Sinne eines Reservats für Deutsche »Minderheitenschutz« beanspruchen, um »das Überleben von Volk und Kultur in einer Ära des Globalismus und des Identitätsverlustes sicherzustellen.« Nach einer erfolgreichen Regeneration könne dann wieder zur »Reconquista« der zuvor aufgegebenen Teile der Heimat geschritten werden. Sowohl bei den Amerikanern als auch bei den deutschen Adepten der Idee wurde unter dem Druck der sich ändernden Demographie das alte rassistische Überlegenheitsdenken in ein defensiv scheinendes Programm umgewandelt. Anders als früher argumentiert man nicht mehr von einer Warte der Stärke aus, die als Rechtfertigung für koloniale Raubzüge gedient hat, diesmal wird vielmehr die eigene schützenswerte Andersartigkeit betont. Der Gedanke der Rassenungleichheit ist allerdings in allen Modellen grundlegend.
(Anmerkung: erinnert mich auch an einige Ytbe Profs, die Plan B fürs Klima propagieren und im Grunde auch Atom oder AFD PR machen… Prof. XYZ….)
[…]
Zu den rechten Multiplikatorinnen sowjetnostalgischer Mythen zählt auch die US-amerikanische Bloggerin Nina Kouprianova. Die Autorin wurde noch in der Sowjetunion geboren und wanderte als Kind mit ihrer Familie nach Kanada aus.[85] Kouprianovas politisch-publizistische Karriere nahm ihren Anfang im US-amerikanischen Milieu der Alternative Right und der Sphäre des White Nationalism, in dem sie es als Übersetzerin und Kommentatorin zu einer gewissen Prominenz brachte. In diesen Kreisen lernte sie noch während ihrer Promotion Richard Spencer kennen, den Führer der US-amerikanischen Alt-Right-Bewegung, den sie 2010 heiratete. In der Publizistik der Alt-Right, rund um Spencers privates National Policy Institute, bearbeitete sie das Thema Russland und fungierte als Übersetzerin.[86] Die Ehe endete 2016 aufgrund von häuslicher Gewalt Spencers, von der sie später in einem ausführlichen Interview berichtete.[87] Das private Zerwürfnis scheint sich unmittelbar auf die politische Linie der Alt-Right ausgewirkt zu haben. Spencer, der Russland 2016 als die »einzige weiße Macht der Welt« bezeichnet hatte, rückte von diesen Positionen immer weiter ab.[88] Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs schmückte er später seine Online-Auftritte mit der NATO-Windrose und erklärte das Militärbündnis zur »White Power« – was durchaus zu Irritationen führte.[89]
Kouprianova wiederum versuchte, sich nach dem Bruch als außenpolitische Analystin mit den Schwerpunkten »Russland« und »US-amerikanische Außenpolitik« zu etablieren.[90] Angesichts ihrer propagandistischen Performance gelang ihr das allerdings nicht sehr überzeugend, doch bedient sie unter dem Pseudonym »Nina Byzantina« als glühende Unterstützerin des russischen Überfalls auf die Ukraine alleine auf Elon Musks Kurznachrichtendienst X mehr als 236 000 Follower.
Ihre Web-Agitation deckt das volle Spektrum antiwestlicher und antiukrainischer Inhalte ab, versetzt mit russischer, serbischer und christlich-orthodoxer Folklore. In diesem Kontext wird sie auch in Deutschland wahrgenommen, so bewarb Götz Kubitschek ein Magazin, das sich einer reaktionären Lesart russisch-orthodoxer Kultur verschrieben hat, in dem auch Byzantina/Kouprianova publiziert.
Kouprianovas antiwestlicher Kurs folgt einem einfachen Muster, das auch von Islamisten bekannt ist.
Problemlagen in westlichen Gesellschaften wie Prostitution und Korruption werden mit hoher Aufmerksamkeit verfolgt, während Missstände in den eigenen Reihen konsequent beschwiegen werden. Entsprechend romantisiert Kouprianova Mängel in Russland und wendet sich vor allem dessen Gegnern zu.
Regelmäßig kritisiert sie den ukrainischen Nationalismus und Neo-Faschismus, v. a. des Asow-Regiments, und prangert sie als Ausweis westlicher Aggression an. Gemäß der amtlichen russischen Interpretation wird von ihr die Regierung in Kyjiw in der Nachfolge der ukrainischen Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen gesehen und – nach den Anhängern des historischen ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera – als »Banderiten« bezeichnet. Vergleichbare nationalistische Positionen in Russland, Serbien oder den USA unterstützt sie hingegen.
Linke und v. a. feministische Einstellungen stoßen auf ihre offene Ablehnung, es sei denn, sie transportieren russlandfreundliche oder NATO-kritische Inhalte.
Ihre auf der Videoplattform YouTube präsentierten Beiträge zu historischen Themen sind meist Nacherzählungen russisch-sowjetischer Geschichtsmythen und Anekdoten und, gemessen an ihrem Auftreten als Historikerin, unwissenschaftlich und dilettantisch.
Ihre Darstellung der russischen Kultur erschöpft sich im Klischee einer rauen, aber ehrlichen und spirituellen Lebenswelt, in der kräftige Männer ohne viel Ansprüche ihre patriotischen Pflichten erfüllen. In diesen Videos ist das Phänomen der antikommunistischen Sowjetnostalgie besonders ausgeprägt, wobei die Sowjetunion aufgrund ihrer autoritären, konservativen und imperialen Bestandteile verklärt wird, während das revolutionäre Erbe von dieser Erinnerung abgespalten bleibt. Allerdings bricht sie durch häufige Huldigung sowjetischer Helden des Zweiten Weltkriegs und der durchgehend negativen Darstellung von Nazi-Deutschland aus tradierten Mustern insbesondere der westlichen extremen Rechten aus und fügt sich in das patriotische Geschichtsnarrativ des russischen Staates ein. Auffällig wenig widmet sie sich dagegen der in ihrem Milieu sonst verbreiteten Agitation gegen Muslime.
Was helfen könnte:
„
Lasst uns gut leben, dann sind die Zeiten gut. Wir sind die Zeiten: So wie wir sind, so sind auch die Zeiten.
„
https://katholisch.de/artikel/61727-papst-leo-xiv-von-katholischer-farbenlehre-und-ersten-programmworten
Bewusstsein:
https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-das-ideologische-gehirn/2267362
Für Leor Zmigrod, eine junge Forscherin von der englischen University of Cambridge, die sich selbst als »politische Neurowissenschaftlerin« bezeichnet, ist Ideologie dagegen eine bestimmte Art zu denken – eine Versteinerung des Geistes, der dann seiner Überzeugung widersprechende Tatsachen nicht mehr zur Kenntnis nimmt. (Oder nehmen kann)
Und dieses versteinerte Denken untersucht sie mit den Methoden von Hirnforschung und Psychologie