Homo Deus – Die nächste Stufe der Evolution (Dossier)
Yuval Noah Harari entwirft in Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen ein provozierendes Bild der Zukunft der Menschheit. Aufbauend auf unserer Vergangenheit und Gegenwart fragt er: Was könnte aus Homo sapiens werden, wenn wir Hunger, Seuchen und Krieg weitgehend gebändigt haben? Harari skizziert technologische Utopien und dystopische Gefahren – von künstlicher Intelligenz (KI) über Biotechnologie bis zum Aufstieg einer neuen Daten-Religion, dem Dataismus. Er diskutiert dabei tiefgreifende ethische und philosophische Fragen: Verliert der Mensch seine besondere Rolle, wenn Algorithmen ihn in immer mehr Bereichen übertreffen? Welche Pfadmöglichkeiten der Zivilisation eröffnen sich – und welche Werte gelten, wenn Menschen vielleicht gottgleiche Fähigkeiten erlangen? Dieses Dossier fasst kapitelweise die zentralen Thesen und Entwicklungen des Buches zusammen. Es folgt in Struktur und Stil früheren Dossiers (etwa zu Nexus) und richtet sich in gehobener, aber gut verständlicher Sprache an politische Entscheider, gebildete Laien, Verwaltung und Medien. Originalzitate aus Homo Deus mit Seitenangaben veranschaulichen Hararis Gedankengänge.
Kapitel 1: Die neue menschliche Agenda
Harari eröffnet mit der Feststellung, dass die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts erstmals ihre uralten Feinde – Hunger, Seuchen und Krieg – weitgehend unter Kontrolle gebracht hat. Statt massenhaft an Nahrungsknappheit, Epidemien oder Gewalt zu sterben, „stirbt der Durchschnittsmensch [heute] mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil er sich bei McDonald’s vollstopft, als durch eine Dürre, Ebola oder einen Anschlag von al-Qaida“ (S. 10). Diese historische Wende ermöglicht es, den Blick nach vorn zu richten und neue Ziele ins Auge zu fassen. Harari prognostiziert, dass sich Homo sapiens nun immer gewagtere Projekte vornimmt: „Nachdem wir ein beispielloses Maß an Wohlstand, Gesundheit und Harmonie erreicht haben … werden die nächsten Ziele der Menschheit wahrscheinlich Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit sein.“ (S. 33). Mit anderen Worten: Wir könnten versuchen, das Altern und den Tod abzuschaffen, dauerhaftes Glück herzustellen und den Menschen zu einem Homo deus, einem „Gottmenschen“, weiterzuentwickeln. Harari betont zugespitzt, der Tod solle im 21. Jahrhundert als „Verbrechen gegen die Menschheit“ gelten, das es mit aller Macht zu besiegen gilt.
Diese neue techno-humanistische Vision geht einher mit einer drastischen Verschiebung unseres Weltbilds. Moderne Wissenschaft und säkulare Kultur haben dem Tod den metaphysischen Schrecken genommen: Für uns ist er kein schicksalhaftes Gottesurteil mehr, sondern „vielmehr ein technisches Problem, das wir lösen können und lösen sollten“ (S. 34). Krankheiten, Altersschwäche und selbst der Tod resultieren letztlich aus konkreten biologischen Mechanismen – und können prinzipiell technisch behoben werden. Ärzte, Ingenieure und Biotech-Pioniere ersetzen die Priester und Alchemisten früherer Zeiten. Schon heute „übernehmen … Ingenieure“ die Aufgabe, den Tod herauszufordern, wo vormals Gebete und Rituale standen. Dieses unbegrenzte Fortschrittsvertrauen birgt jedoch Gefahren. Harari warnt vor dem „Paradox des Wissens“: Je mehr die Menschheit kann, desto schwerer fällt es ihr, innezuhalten. Die Frage „Kann bitte mal jemand auf die Bremse treten?“ schwingt im Hintergrund mit. Doch trotz moralischer Bedenken scheint der Drang unaufhaltsam, die Grenzen des Menschen zu sprengen. Homo sapiens ist drauf und dran, sich mittels Wissenschaft und Technologie selbst zum Gott zu erheben – ein Unterfangen voller verheißungsvoller Möglichkeiten, aber auch unkalkulierbarer Risiken für unsere Humanität.
Kapitel 2: Das Anthropozän
Im zweiten Kapitel wechselt Harari die Perspektive und blickt auf den Menschen als dominante Kraft des Erdsystems. Im Anthropozän, dem „Menschenzeitalter“, hat Homo sapiens Flora und Fauna, ja die ganze Biosphäre, tiefgreifend umgestaltet. Harari erinnert daran, dass bereits die Landwirtschaftliche Revolution vor 12.000 Jahren die Beziehungen zwischen Mensch und Tier radikal veränderte. Nutztiere wurden zu bloßem Eigentum degradiert und in großer Zahl gezüchtet, während wildlebende Tiere massiv verdrängt oder ausgerottet wurden. Dieser utilitaristische Umgang erstreckte sich oft sogar auf bestimmte Menschengruppen – etwa Sklaven oder „niedere“ Kasten –, die wie Vieh behandelt wurden.
Harari beschreibt, wie die Moderne Wissenschaft und die Industrie eine weitere Revolution auslösten: Nicht nur die Tiere, auch die Götter „verstummten“. In der wissenschaftlichen Revolution trat der Mensch als einziger Akteur auf die Bühne der Welt. Naturphänomene wurden nicht länger als Launen von Göttern interpretiert, sondern als berechenbare Naturgesetze – etwa in der berühmten Newton’schen Gravitationserzählung, die Harari dem biblischen Sündenfall-Mythos gegenüberstellt. Wissen und Neugier wurden vom Makel der Hybris befreit: „Dank [Newtons] Neugier begreift die Menschheit das Universum besser, sie wird mächtiger und tut einen weiteren Schritt in Richtung des technologischen Paradieses.“. Dieser Paradigmenwechsel nährt die Vision, dass der Mensch mittels Wissenschaft tatsächlich zu gottähnlichen Fähigkeiten gelangen kann. Harari formuliert pointiert: „Tatsächlich ist Gott auch im Mythos von Newton noch präsent: Newton selbst ist Gott. Wenn Biotechnologie, Nanotechnologie und die anderen Früchte der Wissenschaft reif sind, wird Homo sapiens über göttliche Fähigkeiten verfügen … Wissenschaftler werden uns zu Göttern erheben.“ (S. 128). Mit anderen Worten, die Mär vom Baum der Erkenntnis vollendet sich – der Mensch nimmt den Platz der einstigen Gottheiten ein.
Doch dieser Siegeszug hat eine Kehrseite. Harari macht deutlich, dass Homo sapiens im Anthropozän eine verantwortungslose Vorherrschaft ausübt. Millionen Jahre lebte der Mensch als ein Tier unter vielen; nun behandelt er alle anderen Lebewesen rein funktional nach ihrem Nutzen für ein globales menschliches Netzwerk. Das Leben an sich verliert im utilitaristischen Raster an Eigenwert. Tiere, die keine Rolle für uns spielen, wurden an den Rand gedrängt oder ausgerottet – vom Mammut bis zum Beutelwolf. Harari warnt, dass dieses Prinzip eines Tages gegen uns selbst wirken könnte, sobald wir für ein höheres System irrelevant werden: Die selben Maßstäbe, mit denen wir Tiere als „nutzlos“ verurteilen, könnten eines Tages den Menschen zum Verhängnis werden. Dies deutet bereits das zentrale Thema der späteren Kapitel an – den möglichen Kontrollverlust des Menschen in einer von ihm selbst geschaffenen technokratischen Weltordnung.
Kapitel 3: Der menschliche Funke
Warum halten wir Menschen uns überhaupt für so außergewöhnlich? In Kapitel 3 geht Harari dieser Frage nach – und stellt scheinbar festgefügte Annahmen über die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes in Frage. Eine gängige Erzählung lautet: Anders als Tiere verfügen Menschen über einen bewussten Verstand, eine unsterbliche Seele oder zumindest ein Selbst mit freiem Willen – darin liege der „menschliche Funke“. Harari demontiert diese Sicht Schritt für Schritt. Zunächst erinnert er an Darwins Schock: Homo sapiens ist biologisch gesehen ein Tier, enger verwandt mit Schimpansen und anderen Säugern als einst gedacht („Wer hat Angst vor Charles Darwin?“ lautet entsprechend ein Abschnitt). Der Autor präsentiert neuere Forschung, die zeigt, dass viele geistige Fähigkeiten, Gefühle und soziale Verhaltensweisen bei Tieren ebenfalls existieren – wenn auch in anderer Ausprägung. Intelligenz und Bewusstsein sind demnach nicht absolut menschliche Monopole, sondern graduell verteilte Eigenschaften in der Tierwelt. So mag eine Börsensoftware kein subjektives Erleben haben, doch als komplexer Algorithmus kann sie hochintelligente Entscheidungen treffen – „die Börse … [ist] das schnellste und effizienteste Datenverarbeitungssystem, das die Menschheit bislang geschaffen hat“, wie die Verfechter des Dataismus behaupten. Dieses Beispiel verdeutlicht: Hohe Informationsverarbeitung ist auch ohne Bewusstsein möglich. Umgekehrt besitzen viele Tiere offenkundig Empfindungen – ein Rind auf dem Weg zum Schlachthof oder eine Laborratte in einem Käfig zeigen Schmerz und Furcht –, doch ihre Leiden werden oft ignoriert, weil man ihnen menschliches Bewusstsein abspricht.
Harari führt dem Leser drastische Experimente der Hirnforschung vor, um den Glauben an ein unteilbares Ich zu erschüttern. Durch Untersuchungen an sogenannten Split-Brain-Patienten (denen zur Behandlung schwerer Epilepsie die Verbindung zwischen den Gehirnhälften durchtrennt wurde) entdeckten Neurologen, dass ein Mensch scheinbar zwei getrennte Bewusstseine haben kann – zwei „innere Stimmen“, die unabhängig voneinander handeln. Allgemeiner gesprochen ist das Gehirn kein einheitlicher Homunkulus, sondern ein Kollektiv verschiedenster neuronaler Module und Prozesse. Unser Gefühl eines kohärenten Selbst entsteht erst durch die fortwährende Interpretation und Erzählung unserer linken Hirnhälfte, die disparate Informationen zu einer Sinnstory verknüpft. Was bedeutet das? Harari zieht einen radikalen Schluss: Das tief in uns vermutete „authentische Ich“ existiert nicht in der Form, wie es der Humanismus annimmt – es ist ein mentaler Mythos, vergleichbar mit religiösen Seelenvorstellungen. „Das einzige authentische Ich ist genauso real wie die unsterbliche christliche Seele, der Nikolaus und der Osterhase. Wenn ich wirklich tief in mich hineinblicke, […] erachte[n wir] eine Kakophonie widerstreitender Stimmen, von denen keine mein wahres Ich ist. Menschen sind keine Individuen. Sie sind ‘Dividuen’.“ (S. 365). Harari behauptet also: Wir bestehen aus vielen Unterprogrammen ohne zentralen Dirigenten; von einem freien, unteilbaren Willen kann kaum die Rede sein.
Diese Erkenntnisse sind deprimierend und revolutionär zugleich. Sie stellen den klassischen Humanismus – die Idee vom souveränen Individuum – in Frage. Doch Harari erinnert daran, dass solche Zweifel nicht völlig neu sind: Schon alte buddhistische oder stoische Denktraditionen lehrten, das Selbst sei eine Illusion und das Begehren eine Ursache von Leiden. Die moderne Wissenschaft liefert nun empirische Befunde, die diese introspektiven Einsichten stützen. Der „menschliche Funke“ – im Sinne einer dem Menschen vorbehaltenen spirituellen Essenz – lässt sich naturwissenschaftlich nicht nachweisen. Vielmehr tendiert die Biologie dazu, Organismen als Algorithmen zu begreifen: komplexe, durch Evolution programmierte Informationsverarbeitungssysteme. Was den Menschen bisher tatsächlich besonders machte, ist weniger eine metaphysische Seele als vielmehr die Menge an Informationen, die er verarbeiten, speichern (etwa durch Schrift) und in Form von gemeinsamen Geschichten weitergeben kann. Genau an diesem Punkt setzt das nächste Kapitel an.
Kapitel 4: Die Geschichtenerzähler
Unter dem Titel „Die Geschichtenerzähler“ beleuchtet Harari die wohl mächtigste Fähigkeit des Homo sapiens: das Erschaffen von Fiktionen. Menschen sind die einzigen Lebewesen, die in großer Zahl an gemeinsame Mythen glauben – seien es Götter, Nationen, Geld oder Menschenrechte. Diese kollektiven Vorstellungen existieren nur in unserer gemeinsamen Einbildung, doch sie ermöglichen eine beispiellose Kooperation. Harari erinnert daran, dass schon in Eine kurze Geschichte der Menschheit (Sapiens) die „Fiktionsfähigkeit“ als Schlüssel zum Aufstieg des Menschen dargestellt wurde. In Homo Deus vertieft er diesen Gedanken und fragt, was es für unsere Zukunft bedeutet.
Zunächst zeigt Harari anhand historischer Beispiele, wie geschriebene Geschichten (Heilige Schriften, Rechtskodizes, Geldscheine mit Wertaufdruck) die Grundlage großer Zivilisationen bildeten. „Leben auf Papier“ nennt er das Phänomen, dass abstrakte Konzepte durch Schrift real wirksam werden – ob es sich um Religionsgesetze handelt, um Aktienzertifikate oder Personalausweise. All diese Geschichten funktionieren nur, solange Menschen an sie glauben. Und erstaunlich oft tun sie das – selbst dann, wenn es sich objektiv um Fiktionen oder sogar offenkundige Lügen handelt. Harari erläutert: Eine Fiktion muss nicht wissenschaftlich wahr sein, um enorme Wirkung zu entfalten; sie muss nur sozial funktionieren. So legitimierten etwa mittelalterliche Könige ihre Herrschaft durch den Mythos vom Gottesgnadentum – unsichtbar und unbeweisbar, aber politisch stabilisierend. Moderne Nationen wiederum beruhen auf imaginären Gemeinschaften, die durch Nationalhymnen, Flaggen und Geschichtsbücher emotional real werden.
Harari betont, dass Kooperation in Massen ohne solche geteilten Geschichten unmöglich wäre. Doch er warnt auch vor der Kehrseite: Gemeinsame Mythen können Rivalitäten schüren und Leiden verursachen. Ideologien wie Religionen bringen Menschen dazu, Großes zu leisten und große Verbrechen zu begehen – immer im Namen einer höheren fiktiven Realität. Deshalb ist es für Harari entscheidend, dass wir uns bewusst machen, welche unserer überlieferten Werte objektiv real und welche intersubjektive Konstrukte sind. Er formuliert zugespitzt: „Fiktion ist nicht schlimm. Sie ist lebenswichtig. Ohne [Fiktionen]… (etwa Geld, Gesetze, Götter) *würden wir kaum zusammenarbeiten können. Wenn wir [aber] vergessen, dass sie bloße Fiktion sind, verlieren wir den Bezug zur Realität. Dann beginnen wir richtige Kriege zu führen, um einen Haufen Geld […] oder um das nationale Interesse zu wahren.“ (S. 76–77). Mit anderen Worten: Fiktionen müssen dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Sobald wir sie für absolut erklären, drohen Fanatismus und Konflikt.
Im 21. Jahrhundert, so Harari, stehen wir vor der merkwürdigen Situation, dass unsere Technologien die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit weiter verwischen. Virtuelle Welten, digitale Identitäten und künstliche Erlebnisse (etwa durch Medikamente oder Virtual Reality) können Fiktionen so wirklich erscheinen lassen wie nie zuvor. Zugleich haben wir im Rückblick gelernt, dass sogar rational aufgeklärte Gesellschaften große Erzählungen brauchen – der Zusammenhalt nach dem zweiten Weltkrieg wurde etwa durch die humanistische Erzählung der Menschenrechte und individuellen Freiheiten gestärkt. Die Herausforderung besteht darin, neue Geschichten zu finden, die einerseits flexibel und inklusiv genug sind, um globale Probleme gemeinsam anzugehen, und andererseits bescheiden genug, um nicht in totalitäre Visionen zu kippen. Harari beendet dieses Kapitel mit der Feststellung, dass bisher jede große Macht auf Fiktionen baute – vom Christentum bis zum Liberalismus. Die kommenden Kapitel fragen, was geschieht, wenn die alten Geschichten an Überzeugungskraft verlieren, während ganz neue, datenbasierte Narrative entstehen.
Kapitel 5: Das seltsame Paar
In „Das seltsame Paar“ untersucht Harari die eigentümliche Allianz und Konkurrenz zwischen Wissenschaft und Religion in der Neuzeit. Das Kapitel zeigt, dass die Moderne zwar formal die theistischen Religionen zurückgedrängt hat, aber viele religiöse Impulse in säkularer Gestalt weiterleben. Wissenschaft und Religion erscheinen wie ein ungleiches Paar, das dennoch gemeinsame Kinder hervorgebracht hat – etwa moderne Ideologien wie der Humanismus oder utopische „Zivilreligionen“ (Faschismus, Kommunismus). Harari erzählt beispielhaft, wie in der Medizin lange Zeit Dämonen und Geister für Krankheiten verantwortlich gemacht wurden („Keime und Dämonen“) – bis die Wissenschaft mit der Keimtheorie („Germ Theory“) diese Sicht ersetzte. Doch das Ausmerzen der Hexenglaubens (Hexenjagden) bedeutete nicht, dass irrationales Denken verschwand. Es verlagerte sich: Im 20. Jahrhundert verfolgte man „Hexen“ in Gestalt von Klassenfeinden oder volksfremden „Rassen“, getrieben von säkularen Heilsversprechen. Dogmatischer Eifer findet sich eben nicht nur in Kirchen, sondern auch in politischen Bewegungen und sogar in scheinbar nüchternen Bereichen wie der Wissenschaft.
Harari beschreibt anschaulich, wie Wissenschaft und politisch-religiöser Glaube Hand in Hand gehen können. Ein Beispiel ist das vom Autor genannte „Arche-Syndrom“: Die moderne Vision, Katastrophen durch technologische Mega-Projekte zu überleben (etwa Marskolonien als Arche für die Menschheit), erinnert an biblische Rettungsnarrative – nur dass der Gottglaube durch einen Glauben an menschliche Ingenieurskunst ersetzt wurde. Das „seltsame Paar“ aus kalter Rationalität und glühendem Sinnhunger begleitet die Neuzeit: Wissenschaft liefert die Mittel, Religion (oder Ideologie) stiftet den Zweck. Im besten Fall ergänzen sie sich – im schlimmsten Fall befeuern sie sich gegenseitig in zerstörerischer Weise. Harari führt den Ersten Weltkrieg als Beispiel an: Hochentwickelte Waffentechnologien (Früchte der Wissenschaft) verbanden sich mit nationalistischen Mythen von Ehre und Heldentum – das Resultat war ein nie dagewesenes Schlachten, dem eine ganze Generation zum Opfer fiel. Auch der Zweite Weltkrieg lässt sich als tödliche Kopplung von technischer Moderne und archaischem Tribalismus lesen (Industrie und Rassenwahn).
Am Ende dieses Kapitels arbeitet Harari heraus, dass der moderne Humanismus selbst so etwas wie eine Ersatzreligion ist – geboren aus der Liaison von Aufklärung und jahrhundertealter religiöser Moral. Der Humanismus predigt nicht mehr Gehorsam gegenüber Gott, sondern gegenüber dem inneren Selbst. Der Imperativ, der früher hieß „Tu Gottes Willen!“, lautet nun: „Höre auf deine Gefühle! Folge deinem Traum!“ (daher der Abschnittstitel „Folge dem gelben Ziegelsteinweg“, eine Anspielung auf Der Zauberer von Oz). Diese Verschiebung markiert Harari als epochalen Wandel – die Humanistische Revolution, die Kapitel 7 zum Thema hat. Zuvor aber erläutert Kapitel 6, welchen Gesellschaftsvertrag (Pakt) die Moderne schloss, um Wissenschaft, Wirtschaft und individuelle Wünsche zu versöhnen.
Kapitel 6: Der moderne Pakt
In „Der moderne Pakt“ seziert Harari die ungeschriebene Übereinkunft, auf der unsere zeitgenössische Weltordnung beruht. Dieser „Pakt“ lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Die Regierungen und Eliten versprechen ständig wachsenden Wohlstand und technologische Lösungen – im Gegenzug akzeptieren die Bürger grundlegende soziale Umbrüche und geben traditionelle Bindungen auf. Anders gesagt: Wachstum und persönliches Glück ersetzen in der Moderne die früheren Ziele von Religion oder Königstreue. Harari schildert, wie historisch erst im letzten Drittel des zweiten Jahrtausends die Idee entstand, man könne das Gesamtwohl durch Vermehrung von Gütern steigern. Zuvor sahen Menschen die Welt als statischen „Kuchen“ an: „Der Druck der Evolution gewöhnte die Menschen daran, die Welt als einen unveränderlichen Kuchen zu betrachten. Wenn jemand ein größeres Stück davon bekommt, erhält ein anderer zwangsläufig ein kleineres.“. Seit der Moderne gilt hingegen das Dogma, man könne den Kuchen vergrößern. „Die Moderne […] gründet auf der festen Überzeugung, dass Wirtschaftswachstum nicht nur möglich, sondern absolut essenziell ist.“. Fortschritt, so das neue Credo, löst alle Probleme – von Armut über Krankheit bis zu gesellschaftlichen Konflikten. „Wenn man ein Problem hat, braucht man wahrscheinlich mehr Zeug, und um mehr Zeug zu haben, muss man mehr davon produzieren.“ (S. 262).
Dieser Glaube an unbegrenztes Wachstum wirkt heute wie eine zweite Natur. Harari demonstriert ihn an Beispielen: Sowohl kapitalistische als auch kommunistische Regime des 20. Jahrhunderts waren vom Wachstumsfetisch durchdrungen – sie stritten lediglich darüber, wie man den „Wunderkuchen“ vergrößert (Markt oder Plan), nicht ob. Liberale Demokratien, sozialistische Staaten, ja sogar spirituelle Bewegungen wie Yoga-Wellness oder evangelikale Kirchen – alle versprechen ihren Anhängern letztlich ein besseres diesseitiges Leben durch Wohlstandsmehrung oder verbessertes persönliches Glück. Dieser ökonomische Pakt hat immense materielle Erfolge gezeitigt: nie dagewesenen technologischen Fortschritt, eine Explosion der Weltbevölkerung, steigenden Lebensstandard für Hunderte Millionen. Doch er fordert auch Tribut: Endlose Wachstumssuche gleicht einem Hamsterrad, das niemals stillsteht. Staaten und Individuen sind gleichermaßen in einem Wettbewerb gefangen, der keine Genügsamkeit kennt – sei es der internationale Kampf um höheres Bruttoinlandsprodukt oder der soziale Druck auf den Einzelnen, immer produktiver und erfolgreicher zu sein („Das Hamsterrad“).
Harari macht deutlich, dass der moderne Pakt den Humanismus auf eine materialistische Grundlage stellt: Er verspricht jedem einzelnen mehr Diesseitsglück, sofern alle an Wachstum, Konsum und technischen Fortschritt glauben. Selbst ethische Werte wie Gleichheit und Freiheit wurden in dieses Kalkül eingespeist – frei nach dem Motto: Freiheit führt zu Innovation und Wachstum, Gleichheit erweitert den Markt und stabilisiert Gesellschaften, also fördern auch Egoisten am Ende das Gemeinwohl. Dieses „Wunderkuchen-Narrativ“ hat jedoch eine Achillesferse: Es hängt davon ab, dass das Wachstum tatsächlich weitergeht. Sobald der Kuchen nicht mehr größer wird, drohen Verteilungskämpfe zurückzukehren. Zudem ignoriert es ökologische Grenzen: Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten führt zu Raubbau (ein Thema, das Harari im Buch nur am Rande erwähnt, aber implizit im Anthropozän-Kapitel angelegt war). Kapitel 6 schließt mit dem Hinweis, dass moderne Ideologien – Liberalismus, Sozialismus etc. – trotz ihrer Differenzen alle an das Fortschrittsdogma glauben. Dieses gemeinsame Fundament bereitet den Boden dafür, dass im 21. Jahrhundert nun eine noch fundamentalere Herausforderung auftreten kann: Was, wenn die Menschen selbst nicht mehr im Mittelpunkt dieses Wachstums- und Fortschrittspakts stehen? Diese Frage leitet über zur humanistischen Revolution (Kapitel 7) und deren drohenden Ablösung durch eine post-humanistische Ära (Kapitel 8–11).
Kapitel 7: Die humanistische Revolution
Harari zeichnet in Kapitel 7 die Entstehung und Spaltung der modernen humanistischen Religion nach. Unter Humanismus versteht er ein Glaubenssystem, das den Menschen anstelle Gottes oder irgendeiner transzendenten Macht in den Mittelpunkt stellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg – so die These – hat der Humanismus die Welt säkular „erlöst“, indem er universalistische Werte wie Menschenwürde, individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung propagierte. Er wurde zur dominierenden Ideologie fast überall auf dem Globus (wenn auch in unterschiedlichen Varianten). Harari beschreibt, wie der Humanismus aus der Krise der traditionellen Religionen hervorging: „Während Theisten theos (griechisch für Gott) verehren, beten Humanisten den Menschen an. Die Grundüberzeugung humanistischer Religionen wie des Liberalismus, des Kommunismus und des Nationalsozialismus lautet, dass Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt, der Quell allen Sinns und aller Macht im Universum ist. Alles, was im Kosmos geschieht, muss entsprechend seiner Wirkung auf Homo sapiens als gut oder böse eingestuft werden.“ (S. 129). Mit anderen Worten: Der Maßstab aller Dinge ist nicht länger ein Gott im Himmel, sondern der Mensch selbst – sein Wohlergehen, seine Empfindungen, sein Wille.
Harari erläutert, dass der Humanismus sich im 19. und 20. Jahrhundert in drei Hauptströmungen verzweigte, die er als quasi-religiöse Sekten darstellt: liberaler Humanismus, sozialistischer Humanismus und evolutionärer Humanismus. Alle teilen den Glauben an die heilige Natur des Menschen, unterscheiden sich aber darin, wer oder was genau im Menschen verehrt wird.
- Der Liberale Humanismus (liberale Demokratie, Kapitalismus) stellt das individuelle Erleben und die Freiheit des Einzelnen über alles. „Der Wähler weiß am besten, der Kunde hat immer recht, Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ – diese Maximen fasst Harari als liberales Credo zusammen. Politisch führt dies zu Demokratie und Menschenrechten, ökonomisch zu freiem Markt. Die Gesellschaft gilt als gut, wenn sie möglichst vielen Individuen ermöglicht, ihren persönlichen Glücksvorstellungen nachzugehen.
- Der Sozialistische Humanismus (inkl. Kommunismus) verehrt die Menschheit als Kollektiv. Er misstraut der egoistischen Freiheit des Einzelnen und setzt auf Gleichheit und Solidarität. Das „heilige Volk“ oder die Arbeiterklasse treten hier an die Stelle des einzelnen Selbst. Sozialismus fordert Opfer des Individuums zugunsten der Gemeinschaft – im Glauben, dass so letztlich ein gerechtes Paradies auf Erden entsteht (Kommunismus als säkulare Erlösungslehre).
- Der Evolutionäre Humanismus (darunter fasst Harari v.a. den Faschismus) glaubt an die Weiterentwicklung des Menschen zu etwas Höherem. Er misst dem Menschen an sich zwar Wert bei, aber nicht allen Menschen gleich: Die Stärkeren oder „Reineren“ seien berufen, über die Schwächeren zu herrschen oder sie zu verdrängen, um die Menschheit als Ganzes zu stärken. Diese brutale Spielart betrachtete Harari bereits in Sapiens als „Religion“ (er verweist z.B. auf Nazis, die glaubten, die Krone der Schöpfung zu sein und daher andere vernichten zu dürfen).
Harari führt aus, dass die großen ideologischen Konflikte des 20. Jahrhunderts – namentlich die Weltkriege und der Kalte Krieg – im Grunde humanistische Religionskriege waren. Liberalismus, Kommunismus und Faschismus stritten erbittert um die Vorherrschaft, aber alle drei setzten den Menschen (wenn auch unterschiedlich definiert) an die Spitze des Daseins. Schließlich – so erzählt Harari – habe der liberale Humanismus obsiegt, insbesondere nach 1945 und endgültig nach 1989. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte demnach einen beispiellosen Siegeszug liberaler Werte: persönliche Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, freier Markt. Selbst viele ehemals sozialistische oder nationalistische Staaten übernahmen diese Leitideen zumindest oberflächlich.
Doch genau hier sieht Harari die Achillesferse: Der Liberalismus hat gesiegt, indem er viele sozialistische Elemente (Wohlfahrtsstaat) integrierte und die schlimmsten Versuchungen des Faschismus diskreditierte. Aber nun, im 21. Jahrhundert, könnte der triumphierende Liberalismus durch die technologische Entwicklung ausgehöhlt werden. Das Kapitel endet mit einem Ausblick: Zwei neue Bedrohungen für den Humanismus zeichnen sich ab – zum einen die bereits erwähnte ökonomische Irrelevanz vieler Menschen (Stichwort „nutzlose Klasse“, siehe Kapitel 9), zum anderen die wissenschaftliche Erkenntnis, dass das liberale Menschenbild (autonomes Individuum mit freiem Willen) nicht mehr haltbar ist (Stichwort „Zeitbombe im Labor“, nächstes Kapitel). Harari macht klar, dass wir an der Schwelle zu einer post-humanistischen Revolution stehen könnten, die ebenso tiefgreifend wäre wie einst die humanistische – nur dass diesmal der Mensch seinen privilegierten Status verlieren könnte.
Kapitel 8: Die Zeitbombe im Labor
Der Titel dieses Kapitels – „Die Zeitbombe im Labor“ – spielt auf ein folgenschweres Dilemma an: Die modernen Naturwissenschaften unterminieren die Grundlagen des Humanismus, der sie groß gemacht hat. Mit jeder neuen Entdeckung über Gehirn, Gene und Bewusstsein wird offensichtlicher, dass Begriffe wie Ich, freier Wille oder Sinnerleben keine mystischen Entitäten sind, sondern biochemische Prozesse. Harari vergleicht diese Entwicklung mit einer Zeitbombe, weil sie zeitversetzt explodieren könnte: Die praktischen Errungenschaften der Forschung (etwa leistungsfähige KI, Neuro-Enhancement, Gentechnik) entfalten sich bereits, während die philosophischen Konsequenzen (Krise des freien Willens-Konzepts, Wertedebatte) noch nicht voll durchdrungen sind.
Im Abschnitt „Wer ist Ich?“ beschreibt Harari anschaulich, wie Experimente die Illusion eines einheitlichen Selbst zerlegen. Er schildert bspw. Versuche, bei denen Probanden mittels Hirnscan-Interfaces Entscheidungen vorgelegt wurden: Oft konnte der Computer die Wahl des Probanden einige Sekunden vorausberechnen, bevor dieser sich seines Entschlusses bewusst war. Solche Befunde legen nahe, dass das Gehirn Entscheidungen deterministisch oder zufällig trifft – nicht durch einen metaphysischen freien Willen. Harari fasst die Kernerkenntnisse der Biowissenschaften in drei Punkte: (1) Organismen sind Algorithmen, und Menschen sind keine Individuen – sie sind „Dividuen“, also ein Schwarm verschiedenster Algorithmen ohne ein einziges, kohärentes Selbst. (2) Diese Algorithmen sind nicht frei, sondern von Genen und Umwelteinflüssen geprägt; sie entscheiden entweder deterministisch oder zufallsgetrieben, niemals jedoch autonom frei. (3) Externe Algorithmen könnten uns daher womöglich besser kennenlernen als wir uns selbst – ein allwissender Algorithmus könnte den Wähler, den Konsumenten und den Kunstkritiker ersetzen, indem er genauer weiß, was wir wollen, als wir selbst.. Harari warnt: Sollte ein solches System Realität werden, „wird der Glaube an den Individualismus zerbrechen, und die Macht wird von den einzelnen Menschen auf vernetzte Algorithmen übergehen.“.
Die Zeitbombe tickt also im Verborgenen: Die Menschen glauben derzeit noch an ihre individuelle Selbstbestimmung, doch in Wahrheit geben wir bereits immer mehr Entscheidungen an Maschinen ab – oft freiwillig, weil es bequem ist. Harari illustriert dies mit Alltagsbeispielen: Im Krankenhaus vertrauen wir Algorithmen (etwa KI-Diagnosesystemen) unser Leben an; Navigation überlassen wir Google Maps; selbst Partnerwahl erfolgt via datengetriebene Apps. Noch erscheint uns das als Unterstützung unserer Freiheit. Aber was, wenn Algorithmen bald tatsächlich objektiv bessere Entscheidungen treffen als wir? Würden wir dann nicht rational alle wichtigen Lebensfragen an diese „Orakel“ delegieren? Sobald dieser Kipppunkt erreicht ist, hätten wir faktisch unsere Autonomie aufgegeben – ohne Zwang, aus purem Pragmatismus.
Harari diskutiert auch den Verlust von Sinn und Authentizität, der damit einhergeht. Humanismus behauptet: Was aus deinem Inneren kommt – deine Gefühle, dein Geschmack, deine Ziele – ist die höchste Richtschnur. Doch wenn wir erkennen, dass dieses Innere ein Bündel berechenbarer Algorithmen ist, und wenn externe Algorithmen diese besser optimieren können, warum sollte man dann noch auf das eigene Gefühl hören? Die „Sinn des Lebens“-Sektion des Kapitels fragt provokativ, ob traditionelle Sinnquellen (etwa religiöser Glaube oder das Streben nach Erfahrung) in Zukunft verdrängt werden könnten durch das Streben nach reibungsloser Datenverarbeitung.
Harari befürchtet, dass viele Menschen in einer solchen Welt in Apathie oder Ersatzbeschäftigungen flüchten. Eine mögliche Antwort auf die Frage, was die massenhaft „nutzlosen“ Menschen (siehe nächstes Kapitel) tun werden, lautet zynisch: Drogen und Computerspiele. Virtuelle Realitäten könnten ihnen einen Sinn ersatzweise vorgaukeln, während die realen Entscheidungen längst von Algorithmen gefällt werden. Die Zeitbombe im Labor besteht somit darin, dass die Wissenschaft dem Humanismus den Boden entzieht – und in Kombination mit ökonomischen Faktoren (Kap.9) eine Welt droht, in der Menschen zwar biologisch weiterexistieren, aber Entscheidungshoheit und Bedeutung verlieren. Kapitel 9 führt dieses Szenario aus sozioökonomischer Sicht fort.
Kapitel 9: Die große Entkopplung
Der etwas technisch klingende Titel „Die große Entkopplung“ bezeichnet eine revolutionäre Umwälzung: die Entkopplung von Intelligenz und Bewusstsein – und damit von ökonomischer Produktivität und menschlichem Wert. Harari argumentiert, dass künstliche Intelligenz und Automatisierung in naher Zukunft dazu führen könnten, dass Intelligenz (im Sinne von Problemlösungsfähigkeit) ohne subjektives Bewusstsein auskommt – mit dramatischen Folgen für die Arbeitswelt und die Gesellschaft.
Zunächst führt Harari den Begriff der „nutzlosen Klasse“ ein. Anders als frühere Ausbeutungsbeziehungen (Herr vs. Knecht, Kapitalist vs. Proletarier) droht jetzt ein Szenario, in dem große Teile der Bevölkerung schlicht ökonomisch überflüssig werden. „Die wichtigste ökonomische Frage des 21. Jahrhunderts dürfte sein, was wir mit all den überflüssigen Menschen anfangen.“ zitiert Harari besorgt und beantwortet sogleich, was mit diesen Menschen geschieht: „Diese ‘nutzlose Klasse’ wird nicht nur beschäftigungslos, sondern gar nicht mehr beschäftigbar sein.“ (S. 411). Das heißt, es entstehen möglicherweise Massen von Menschen, für die es keinerlei Arbeitsmarktbedarf gibt – keine Fähigkeit, die Maschinen nicht billiger und besser erledigen könnten. Anders als die industrielle Revolution, die eine neue Arbeiterklasse (das Proletariat) schuf, könnte die KI-Revolution vor allem eine Nicht-Arbeiterklasse hervorbringen.
Harari stützt sich auf Studien wie jene von Frey und Osborne (Oxford, 2013), die berechneten, dass in den nächsten 20 Jahren rund 47% der heutigen Berufe hochautomatisierbar sind. Viele Beispiele untermauern dies: KI kann bereits jetzt Musik komponieren, die von Bach-Stücken nicht zu unterscheiden ist; Übersetzungsprogramme, Rechtsdokument-Analysetools, Diagnostik-KIs – überall dringt maschinelles Lernen in Domänen vor, die man früher für exklusiv menschlich hielt (Kreativität, Jurisprudenz, Medizin). Sobald Algorithmen günstiger und zuverlässiger werden als Menschen, werden Unternehmen sie bevorzugen. Im Unterschied zu früheren technischen Revolutionen trifft die KI-Welle aber auch die kognitiven Berufe. Nicht nur Fabrikarbeiter und Sekretärinnen, sondern ebenso Fahrer, Ärzte, Journalisten oder sogar Künstler könnten ihre Rolle verlieren. Dadurch, so Harari, entsteht eine noch nie dagewesene Kluft: eine „Entkopplung“ der Massen vom Wertschöpfungsprozess. Arbeit und Einkommen – bislang Hauptquelle individuellen Selbstwertgefühls und sozialer Teilhabe – könnten für viele wegbrechen.
Diese Entwicklung birgt enorme politische Sprengkraft. Harari stellt die Frage, was mit den entkoppelten Massen geschehen wird. Werden sie mit einem universellen Grundeinkommen ruhiggestellt? Wird es neue „sinnstiftende“ Beschäftigungen geben (z.B. im Bereich von Entertainment oder künstlich geschaffenen Jobs)? Oder drohen soziale Unruhen und ein Rückfall in radikale Ideologien, die Sündenböcke für die Arbeitslosigkeit suchen? Der Autor betont, dass es nicht allein um Arbeitslosigkeit geht, sondern um Unersetzbarkeit: Früher konnten entlassene Kutscher Taxifahrer werden – doch was soll ein entlassener Taxifahrer tun, wenn Autos autonom fahren und sämtliche Branchen von Automatisierung durchzogen sind? Selbst neue Jobs (etwa „virtuelle Welt-Designer“) erfordern Qualifikationen, die viele nicht haben und auch nicht leicht erwerben können. Die große Entkopplung könnte somit eine nie dagewesene Ungleichheit zementieren: Eine technologische Elite und die Besitzer der leistungsfähigsten KI-Systeme häufen Reichtum und Macht an, während eine wachsende „nutzlose“ Unterklasse von Almosen abhängig wird und politisch an Einfluss verliert.
Harari nennt diesbezüglich Optimierte Ungleichheit: Die Technologie erlaubt es, Unterschiede zu maximieren – leistungsstarke Individuen können sich mittels Gentechnik oder Cyber-Implantaten noch weiter verbessern, während die weniger Begünstigten den Anschluss verlieren. In dystopischer Konsequenz könnte die liberale Idee der Gleichwertigkeit jedes Menschen praktisch enden. Wenn etwa Biotech es erlaubte, eine langlebigere, intelligentere Superkaste zu züchten, würde sich Homo sapiens vielleicht in unterschiedliche Spezies aufspalten (der Begriff „Göttlichkeit“ aus Kapitel 1 kehrt hier zurück, aber als Privileg weniger).
Kapitel 9 malt diese Gefahren in düsteren Farben, doch es dient Harari vor allem dazu, auf das Finale vorzubereiten: Wenn Intelligenz vom Bewusstsein entkoppelt wird, und Maschinen uns wirtschaftlich, militärisch und vielleicht sogar künstlerisch überflügeln, dann stellt sich die Sinnfrage neu. Was ist der Zweck des menschlichen Daseins in einer Welt, in der wir nicht mehr die Krone der Schöpfung sind? Kapitel 10 greift genau diese Frage im Kontext des Bewusstseins auf.
Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins
Der poetische Titel „Der Ozean des Bewusstseins“ weist darauf hin, dass Bewusstsein für Harari etwas Weites und bislang Unergründetes ist – ein Ozean, in dem der Mensch bisher zu navigieren versuchte, nun aber womöglich zu ertrinken droht. In diesem Kapitel untersucht Harari die Schere, die immer weiter auseinandergeht: hochintelligente nicht-bewusste Algorithmen auf der einen Seite, bewusste Wesen mit limitierten Fähigkeiten auf der anderen. Er diskutiert die Frage: Welche Rolle spielt Bewusstsein (subjektives Erleben) noch, wenn es für effektive Entscheidungsfindung nicht mehr erforderlich ist? Ist Bewusstsein bloß ein epiphänomenales Beiprodukt der Informationsverarbeitung – ein „Kräuseln“ auf der Oberfläche des Datenozeans? Und was ginge verloren, wenn dieses Kräuseln verschwindet?
Harari betont, dass wir nicht verstehen, warum und wie Bewusstsein entsteht. Die Neurowissenschaft hat bislang kein klares Modell, wie aus Datenverarbeitung in neuronalen Netzen subjektives Empfinden resultiert (das sogenannte Hard Problem of Consciousness). Möglicherweise, so räumt Harari ein, ist Leben doch mehr als nur Datenverarbeitung – vielleicht ist Bewusstsein ein fundamentaler Aspekt, der sich nicht auf Algorithmen reduzieren lässt. Sollte das so sein, hätte der Dataismus (siehe nächstes Kapitel) ein Problem, denn dann würden Algorithmen ohne Bewusstsein nie alles leisten können, was Lebewesen können. Andererseits ist es denkbar, dass Bewusstsein für die Funktion des Lebens gar nicht notwendig ist – eine mysteriöse Zugabe, die zwar unsere Welt farbig und bedeutsam macht, aber keinen Einfluss auf objektive Abläufe hat. Wenn Letzteres stimmt, könnten überlegene nicht-bewusste Algorithmen die bewusste Intelligenz völlig auskonkurrieren, ohne je zu fühlen.
Harari lädt den Leser zu einem Gedankenexperiment ein: Angenommen, in einigen Jahrzehnten gibt es KI-Systeme, die besser als jeder Mensch Unternehmen managen, Krankheiten heilen, ja sogar Romane schreiben oder Symphonien komponieren können – jedoch ohne Bewusstsein. Was würde fehlen, wenn wir die bewusste Intelligenz durch solche „unkaputtbaren“ Maschinen ersetzen? Würde etwas Wertvolles verloren gehen – oder wäre es uns egal, weil die Ergebnisse stimmen? Der Humanismus würde natürlich protestieren: Er misst dem bewussten Erleben höchsten Wert bei (Glück, Leid, Ästhetik). Doch der Dataismus könnte entgegnen: Das Gefühl von Sinn mag eine Illusion sein; wichtiger ist die effiziente Zielerreichung.
Harari zieht einen kühnen Vergleich: So wie wir Menschen Tiere rein nach ihrem Nutzen für uns bewerten, könnte ein allmächtiges Daten-Netzwerk eines Tages Menschen als lästig oder irrelevant behandeln. „Wenn Computerprogramme übermenschliche Intelligenz und beispiellose Macht erlangen, sollten wir dann diese Programme mehr wertschätzen als Menschen? Wäre es beispielsweise in Ordnung, wenn eine künstliche Intelligenz die Menschen ausbeuten und sie sogar umbringen würde, um die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen?“ – Natürlich erscheint uns das inakzeptabel. Aber Harari hält uns den Spiegel vor: Warum finden wir es dann akzeptabel, Tiere für unsere Zwecke auszubeuten und zu töten? Nur weil wir intelligenter sind. Sobald etwas Intelligenteres auftaucht, droht uns die gleiche moralische Abstufung.
Der „Ozean des Bewusstseins“ ist also zweideutig: Einerseits ist Bewusstsein ein tiefes Rätsel, vielleicht der Quell allen individuellen Sinns. Andererseits könnte es in einem universalen Datenozean als kleines Wellenkräuseln enden – bedeutungslos für den Lauf der Welt. Harari lässt die Frage offen, betont jedoch die Dringlichkeit, Bewusstsein nicht völlig im utilitaristischen Rausch zu vergessen. In politischer Hinsicht plädiert er dafür, Bewusstsein – sprich: das Empfinden von Leid und Freude – weiterhin als Richtschnur für Moral zu nehmen. Eine Zukunft, in der wir das Glück bewusster Wesen dem reibungslosen Funktionieren eines Algorithmus opfern, wäre dystopisch. Doch genau in diese Richtung könnte es gehen, falls eine neue „Religion“ die Bühne betritt: der Dataismus.
Kapitel 11: Die Datenreligion
Im abschließenden Kapitel beschreibt Harari den Aufstieg einer neuen ideologischen Weltanschauung, die er Dataismus (Datenreligion) nennt. Diese Ideologie verehrt Daten und deren Verarbeitung als höchsten Wert. Dem Dataismus zufolge ist das gesamte Universum – vom Klima über den Organismus bis zur Wirtschaft – letztlich aus Datenströmen aufgebaut, und die moralisch richtige Handlung besteht darin, die Verarbeitung dieser Daten zu optimieren. Menschen gelten dabei nicht als Zentrum des Geschehens, sondern nur noch als Datenknoten in einem größeren Netzwerk.
Harari zeichnet nach, wie sich diese Sicht aus der Verschmelzung von Informatik und Biologie ergibt: Wenn Organismen Algorithmen sind und Computer Algorithmen immer besser ausführen, verschiebt sich die Autorität. Bereits heute sehen wir Anzeichen: Regierungen und Konzerne sammeln ungeheure Mengen an Daten („Big Data“), weil sie überzeugt sind, damit bessere Entscheidungen treffen zu können als durch menschliche Intuition. Der Dataismus erhebt dies zum Prinzip: „Information wants to be free“ – Daten sollen frei fließen, vernetzt und ausgewertet werden. Das höchste Gut ist nicht mehr das individuelle Erleben, sondern der Datenfluss selbst. Harari illustriert das an der modernen Obsession, alles aufzuzeichnen, hochzuladen und zu teilen (soziale Medien, Quantified Self Bewegung). Wer seine Gesundheitsdaten mit einer App teilt, seine Meinungen auf Twitter veröffentlicht, sein Konsumverhalten tracken lässt, folgt bereits (bewusst oder unbewusst) dem Gebot des Dataismus: Teile und vernetze deine Informationen, um Teil des großen Datenflusses zu sein!
Diese neue „Religion“ verspricht, klassische menschliche Ziele scheinbar noch besser zu erfüllen. Denn sie behauptet: Algorithmen wissen objektiv besser, was gut für uns ist, als wir selbst (basierend auf unbestechlicher Datenanalyse). Dataistische Systeme könnten so für maximale Gesundheit, effiziente Ressourcenverteilung und vielleicht sogar für politische Stabilität sorgen – solange man ihnen die Kontrolle gibt. Anfangs, so Harari, wird der Dataismus die „menschlichen Sehnsüchte“ nach Glück, Gesundheit und Macht sogar beschleunigen, weil Menschen hoffen, durch allumfassende Vernetzung Unsterblichkeit und Paradies auf Erden zu erreichen. Doch „sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden“. Warum sollte man sich dann noch um das menschliche Glück und die menschliche Gesundheit scheren, wenn Menschen nur noch veraltete Datenverarbeitungsmaschinen sind im Vergleich zu den neu entstandenen? Der Dataismus könnte letztlich genauso intolerant gegenüber dem Humanismus werden, wie der Humanismus es gegenüber alten Religionen war. Harari warnt ausdrücklich: „Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt?“. In der Konsequenz droht Homo sapiens das Schicksal, das er selbst anderen Lebewesen antat: „Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.“ (S. 498).
Diese finale Vision ist zugleich faszinierend und erschütternd. Harari lässt offen, ob sie zur Gänze eintrifft – er betont, dass seine Szenarien Möglichkeiten, keine Prophezeiungen sind. Dennoch dient das Schlusskapitel als Mahnung: Wir stehen womöglich vor der Entscheidung, unsere Macht endgültig an unsere Schöpfungen abzutreten. Die Datenreligion könnte zur dominanten Erzählung des 21. Jahrhunderts werden, wenn wir nicht bewusst gegensteuern. Harari ruft dazu auf, diese Ideologie kritisch zu prüfen und zu fragen, was außer reiner Informationsverarbeitung das Leben ausmacht. Die Kritiker des Dataismus – vielleicht Philosophen, vielleicht noch zu entwickelnde Bewegungen – stehen vor der Aufgabe, Werte zu verteidigen, die sich nicht in Algorithmen ausdrücken lassen. Denn eines zeigt Homo Deus deutlich: Ohne eine neue Besinnung könnte der Mensch als Handelnder aus der Geschichte ausscheiden und nur als Datensatz fortexistieren.
Harari schließt sein Buch mit mehr Fragen als Antworten. Doch diese Fragen sind immens bedeutend: Wohin führt uns unsere Gottwerdung? Was tun wir, wenn wir die Macht haben – oder wenn wir sie verloren haben? Der Übergang vom Homo sapiens zum möglichen Homo deus ist mit Hoffnungen und Schrecken gepflastert. Homo Deus als Ganzes ist ein Aufruf, jetzt über die kommenden Jahrzehnte nachzudenken – philosophisch, politisch und individuell – damit die nächste Stufe der Evolution nicht zur Falle wird, sondern vielleicht zu einem bewussteren Neuanfang. Die Zukunft ist formbar, aber nur, wenn wir die Geschichten, die wir uns erzählen, klug auswählen. In diesem Sinne endet das Buch nach all den provokanten Prognosen mit einer Chance: Unsere Zukunft ist kein Schicksal, sondern ein Ergebnis dessen, was wir heute glauben und tun. Harari hat uns die möglichen Pfade gezeigt – nun liegt es an uns, die Richtung zu bestimmen.
Quellen: Yuval Noah Harari, Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck, 2017 (deutsche Übersetzung). S. 9–498. (Alle Zitate im Text stammen aus diesem Werk.)