„Informationskrieg“-Trilogie Peter Pomerantsev

Hier ein kapitelweise strukturiertes Dossier, das die zentralen Inhalte der drei Bücher — How to Win an Information War, This is Not Propaganda und Nothing is True and Everything is Possible — zusammenfasst.
Dabei lege ich den Schwerpunkt auf Strategien, Empfehlungen und Lösungsansätze zur erfolgreichen Führung und Abwehr im Informationskrieg. Jede Kapitelanalyse enthält die wichtigsten Thesen, Narrative, Mythen sowie zentrale Zitate mit Seitenangaben. Ich beginne mit den Zusammenfassungen und baue darauf eine integrative Synthese auf, mit besonderem Fokus auf How to Win an Information War.

Pomerantsevs „Informationskrieg“-Trilogie – ein Dossier

Buch 1: How to Win an Information War (Peter Pomerantsev, 2024)

Kapitel 1: Propaganda Is the Remedy for Loneliness

In diesem Kapitel schildert Pomerantsev die Kindheit des Propaganda-Genies Sefton Delmer in Deutschland während des Ersten Weltkriegs und legt dar, wie Propaganda Menschen emotional verbindet. Der zehnjährige Delmer, Sohn eines britischen Professors in Berlin, erlebt 1914 die Kriegsbegeisterung der Deutschen aus nächster Nähe. Er spürt, wie aus freundlichen Dorfbewohnern plötzlich hasserfüllte Kriegsanhänger werden, die ihn als „verräterischen Engländer“ beschimpfen. Die Straßen Berlins füllen sich mit Fahnen und patriotischen Massen, und ein junger Adolf Hitler feiert in München ekstatisch den Krieg – ein ikonisches Foto, das später als geschickt manipulierte Propaganda entlarvt wird. Zentrale These: Propaganda stillt ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Gemeinschaft und Bedeutung. Die Menschen stürzen sich in die kollektive Euphorie, um sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen. So erklärt sich, warum selbst Delmer – ein britischer Junge – beim Singen deutscher Kriegslieder einen „Thrill“ verspürte, obwohl er sich dafür schämte. Propaganda bietet Zugehörigkeit und Gewissheit in unsicheren Zeiten und wirkt damit als „Heilmittel gegen Einsamkeit“. Relevante Ereignisse und Namen: Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914; Verhaftung von Delmers Vater als „feindlicher Ausländer“ – ein deutscher Polizist führt ihn mit peinlicher Höflichkeit ab, was dem jungen Delmer die Trennung zwischen Mensch und Rolle vor Augen führt. Diese Erfahrungen lehren Delmer, wie stark Propaganda Massenemotionen lenkt und Individuen in die Gemeinschaft einbindet, aber auch, wie dünn die persönliche Identität in Zeiten kollektiver Hysterie werden kann. Ein prägendes Zitat stammt vom französischen Soziologen Jacques Ellul: „Propaganda is the true remedy for loneliness“ – Propaganda sei das wahre Heilmittel gegen Einsamkeit. Diese Erkenntnis zieht sich als Leitmotiv durch Delmers Werdegang.

Kapitel 2: The Nazi Circus

Hier verfolgt Pomerantsev Delmers Aufstieg zum Star-Journalisten in der Weimarer Republik und seine Begegnungen mit Adolf Hitler und dem Propagandaapparat der Nazis. Zentrale Handlung: Delmer trifft 1929 erstmals zufällig auf Hitler bei einer Rede in Berlin. Zunächst ist er wenig beeindruckt – Hitler wirkt auf ihn wie ein weiterer Wanderprediger unter vielen, die wundersame „Heilmittel“ anbieten. Hitler verkaufe nur eine neue Wundermedizin: die reine Rassenidentität als Lösung aller Probleme. Doch nach dem Börsencrash 1929 erstarkt die NSDAP rasant, und Delmer erkennt, dass er den „Wunderheiler“ unterschätzt hat. Er hört Hitler ein zweites Mal und achtet nun auf jedes Detail: die weit aufgerissenen stahlblauen Augen, den Schweiß, der Hitlers Kragen durchnässt, die dröhnende Stimme. Delmer erhält durch seine Reporterrolle privilegierten Zugang zur NS-Führung: 1931 interviewt er Hitler exklusiv im braunen Hauptquartier in München. Dort erlebt er eine perfekt inszenierte Polit-Show: Vor dem „Braunen Haus“ kommandieren SA-Wachen die Fußgänger in den Rinnstein – „wo sonst auf der Welt kann eine Partei Wählerstimmen gewinnen, indem sie die Öffentlichkeit in den Rinnstein prügelt?“ wundert sich Delmer. Innen zeigen ihm Hitlers Helfer, etwa SA-Chef Ernst Röhm, prunkvolle Räumlichkeiten und Landkarten mit eroberten Gebieten – alles, um Eindruck zu schinden. Relevante Personen: Adolf Hitler erscheint Delmer überraschend banal – „weder wahnsinnig noch brutalen Typs“, eher wie ein verarmter Handelsvertreter und Frontsoldat außer Platz. Doch sobald Hitler zu sprechen beginnt, verwandelt er sich: Jede Journalistenfrage nutzt er als Sprungbrett für eine bombastische Ansprache, als stünde er vor der Menge im Sportpalast. Delmers Artikel „Herr Hitler spricht zur Daily Express“ (4. Mai 1931) vermittelt dem britischen Publikum Hitlers Angebot eines Bündnisses und prophezeit zugleich dessen Aufstieg zur faschistischen Großmacht. Hitler wird mit den Worten zitiert: „Ich will keine Weichlinge in meiner Bewegung… Ich will Fanatiker und Idealisten“. Die Nazi-Elite umwirbt Delmer aktiv: Er lädt sie zu Abendgesellschaften ein – mit Champagner, adligen Gästen und sogar einem Flügel für Hitlers Vertrauten Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, damit dieser Jazz spielen kann. Im Gegenzug gewähren sie Delmer intime Einblicke. Röhm führt ihn z.B. in eine Transvestiten-Bar aus, um zu demonstrieren, wie „harmlos“ und unideologisch die Nazis eigentlich seien. Röhm behauptet gegenüber Delmer gar, der Antisemitismus der Bewegung solle man nicht ernst nehmen – „nur Show für die Stimmen“. Gleichzeitig versucht Röhm, Delmer als Vermittler zur britischen Regierung zu gewinnen (er hält ihn fälschlich für einen Geheimagenten). Zentrale Narrative/Mythen: Das Kapitel entlarvt, wie die Nazis Politik als Zirkus verstanden – eine Mischung aus Drohkulisse, inszenierter Volksnähe und schamloser Lüge. Hitler selbst inszeniert sich als Messias und bietet Großbritannien Frieden an, während sein Regime in Wahrheit Krieg rüstet. Die Nazis verbreiten den Mythos, ihre extremen Ideologien seien bloße Wahlkampftaktik – eine gefährliche Beruhigungspille, die westliche Beobachter täuschen soll. Delmer erkennt früh, dass diese Maske fallen wird. Sein Insider-Blick auf den „Nazi-Zirkus“ zeigt, wie Propaganda hier zur totalen Theaterkunst wird, in der Realität und Darstellung verschwimmen.

Kapitel 3: Not Reliable

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs steht Delmer vor einem Dilemma: In Großbritannien gelten seine engen Kontakte zur NS-Führung teils als suspekt. Der Titel „Not Reliable“ („nicht zuverlässig“) spielt auf Delmers zweifelhaften Ruf bei britischen Behörden an. Hintergrund: Bis 1940 hat Hitler fast ganz Westeuropa überrannt – „Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Frankreich, Holland, Belgien, Norwegen und Dänemark waren alle annektiert oder besetzt“. Großbritannien kämpft in der Luftschlacht um England nun ums Überleben und sucht nach neuen Mitteln der Kriegsführung – auch im Informationskrieg. Delmer, der 1939 als Kriegsberichterstatter aus Berlin heimkehrte, möchte seine Kenntnisse im Dienst Großbritanniens einsetzen. Doch anfangs misstraut man ihm: In seinen MI5-Akten wird er als „NR – not reliable“ vermerkt, u.a. wegen seiner früheren Nazikontakte und einer Beziehung zu einer deutschen Frau (die als mögliche Spionin galt). Dieses Kapitel zeichnet nach, wie Delmer dennoch in den Dienst der Political Warfare Executive (PWE) gelangt, der britischen Propagandabezirkstelle. Zentrale Ereignisse: Im Juli 1940, kurz nach dem Fall Frankreichs, wird Delmer nach einer Phase des Wartens ins PWE-Team aufgenommen. Dort soll er schwarze Propaganda gegen das Dritte Reich entwickeln – Täuschungssender und Fake-Nachrichten, die von innen heraus an der Moral der Deutschen nagen. Anfangs begegnen ihm einige Kollegen und Vorgesetzte mit Skepsis. Besonders traditionelle britische Diplomaten und Militärs finden Delmers Vorschläge unkonventionell oder geschmacklos. Doch Delmer überzeugt mit seiner einzigartigen Expertise: Er kennt die deutsche Sprache und Mentalität aus eigener Erfahrung und hat die Nazi-Rhetorik verinnerlicht. Narrative: Pomerantsev betont, dass Delmers eigene Anfälligkeit für Propaganda – sein Gespür dafür, wie man Menschen erreicht – nun zur stärksten Waffe der Briten werden soll. Ein leitender PWE-Beamter charakterisiert die Situation so: Der einst „unzuverlässige Außenseiter“ wurde ins Herz des Apparats geholt, weil er den Feind perfekt imitieren konnte. Delmers Gegner vom Vortag – Goebbels und Co. – werden nun indirekt seine Lehrmeister. Das Kapitel endet damit, dass alle Zweifel an Delmers Loyalität einer pragmatischen Einsicht weichen: Um Hitlers Propagandamaschine zu schlagen, muss man jemanden wie Delmer einsetzen, der so denkt und fühlt wie sie, ohne jedoch das Ziel aus den Augen zu verlieren. Das moralische Spannungsfeld ist gesteckt – Delmer betritt als Doppelgänger des Feindes den Informationskrieg.

Kapitel 4: All Doubts Fall Away

Dieses Kapitel beschreibt Delmers erste Erfolge im britischen Informationskrieg und wie das anfängliche Misstrauen ihm gegenüber verschwindet. Zentrale Handlung: 1941 richtet Delmer im Auftrag der PWE einen getarnten Radiosender ein, der als deutscher Sender ausgeben wird. Unter seiner Leitung entsteht Gustav Siegfried Eins, eine angebliche Stimme aus dem Herzen der Wehrmacht, die die Wahrheit sagt, die Goebbels vertuscht. Delmer schlüpft in die Rolle eines erzürnten preußischen Offiziers, der über den Äther schimpft – in Wirklichkeit natürlich ein perfekt inszenierter britischer Täuschungsakt. Die Wirkung ist enorm: Deutsche Soldaten und Zivilisten horchen auf, da GS1 (so die Abkürzung) militärische Niederlagen und Missstände ungeschönt meldet, während die offiziellen deutschen Sender noch beschönigen. Die Briten analysieren begeistert die Auswirkungen: Eine deutsche Meldung konstatiert, der Sender habe „größtes Unruhe und Verwirrung in der Bevölkerung“ ausgelöst. Als die Nazis versuchen, GS1 zu stören, stören sie irrtümlich den eigenen Rundfunk – ein Schuss ins eigene Knie, der die Glaubwürdigkeit von Goebbels’ Medien weiter untergräbt. Reaktionen: Innerhalb der PWE fallen nun alle Zweifel an Delmer ab. Seine Vorgesetzten sehen, dass sein Konzept funktioniert. Einer der Kollegen, der Schriftsteller David Garnett, beschreibt die seltsame Atmosphäre im PWE-Hauptquartier: Man taucht in eine surreale mentale Welt ein, wo Realität und Täuschung verschwimmen und „mehr als ein Anflug von Wahnsinn“ in der Luft liegt. Doch gerade in diesem Grenzbereich blüht Delmer auf – er denkt wie ein Propagandist. Zentrale These: Erfolg überzeugt – Delmers Kritiker müssen eingestehen, dass seine unorthodoxen Methoden („Fake News“ verbreiten, mit Tabubrüchen schockieren) ungeahnte Vorteile bringen. Somit fallen alle Zweifel weg: Delmer erhält fortan freie Hand. Mythen und Narrative: Interessant ist, wie Pomerantsev hier bereits den Zwiespalt andeutet: Um eine Lüge (Hitlers Propaganda) zu bekämpfen, bedienen sich die Briten ebenfalls der Lüge – jedoch in guten Absichten. Das Kapitel zeigt, dass in einem totalen Informationskrieg herkömmliche Moralvorstellungen ins Wanken geraten. Gleichzeitig bewährt Delmer sich als Patriot auf seine Weise, was die offizielle Britische Linie bestätigt: Der Zweck heiligt die Mittel, solange es gegen Hitler geht. Ein Zitat des Historikers und PWE-Mitarbeiters Sefton Delmer (Namensvetter, nicht verwandt) bringt es auf den Punkt: Delmers „virtuose Leitung der schwarzen Sendungen war unvergleichlich und zu erfolgreich, um behindert zu werden“. Nun, da der unreliable Außenseiter zum unentbehrlichen Insider geworden ist, beginnt die kreativste Phase von Delmers Propagandakrieg.

Kapitel 5: Into the Ridiculous

Pomerantsev beschreibt hier, wie Delmer die Nazi-Ideologie mit ihren eigenen Mitteln der Lächerlichkeit preisgibt und das Absurde als Waffe einsetzt. Inhalt: Die britischen Täuschungssender greifen ab 1942 verstärkt zu grotesken, satirischen Geschichten, um Misstrauen und Ekel in Deutschland zu säen. Delmer weiß: Humor und Übertreibung können die Ernsthaftigkeit der Nazi-Mythen untergraben. So erfindet sein Team etwa Skandalmeldungen über das Privatleben hoher Nazi-Funktionäre – halb pornografische, halb lächerliche Anekdoten, die zwar frei erfunden sind, aber die Autorität der Führung untergraben. Ein berüchtigtes Beispiel: Über den deutschen Generalstab wird verbreitet, Offiziere würden heimlich homosexuelle Affären pflegen oder Orgien feiern – eine Anspielung auf Ernst Röhms bekannte Homosexualität, die selbst die prüde NS-Propaganda nicht öffentlich thematisierte. „Ins Lächerliche hinein“ bedeutet: Delmer treibt die Nazi-Rhetorik so weit auf die Spitze, dass sie zur Farce wird. Reaktionen: Manche Kollegen im PWE fühlen sich zunehmend unwohl. Besonders Major Leslie Hollis („Halkett“ im Text) – ein Konservativer – findet Delmers derbe Späße geschmacklos. „Dieses Genre der Unterhaltung missfiel ihm völlig“, notiert ein Beobachter; Delmers ständige Spielereien mit Sprache und Akzenten irritieren ihn. Intern kommt es zu Diskussionen: Darf britische Kriegspropaganda sexuell anzügliche oder groteske Inhalte nutzen? Gegner nennen Delmers Truppe scherzhaft „that beastly pornographic organisation“jene widerliche pornografische Organisation. Doch Delmer lässt sich nicht bremsen. Für ihn gilt Goebbels’ eigenes Diktum: „Je ungeheuerlicher die Lüge, desto eher wird sie geglaubt.“ Warum also nicht ungeheuerliche Wahrheiten (auch wenn sie erfunden sind) über die Nazi-Elite verbreiten? Zentrale Beispiele: Ein bekanntes Delmer-Manöver in dieser Phase ist die gefälschte Feldpostbrief-Kampagne. Seine Sender verlesen angebliche Briefe deutscher Soldaten, die von Front und Heimat berichten: über Korruption, Liebschaften, Vergewaltigungen und Abtreibungen hinter der Front. Diese Geschichten sind gezielt überzogen, aber nicht völlig unplausibel – genug, um das Kopfkino der Hörer anzuwerfen. Die Deutschen hören z.B., dass ein hoher Nazi seine Nichte schwängerte und diese nun in einer „Lebensborn“-Klinik anonym entbunden habe. Solche Skandalstorys – kein Thema war zu absurd oder „ridiculous“ – verbreiten sich als Gerüchte. Wirkung: Die Nazis werden in die Defensive gedrängt. Sie müssen Zeit und Ressourcen darauf verwenden, solche Gerüchte zu dementieren oder ihre Offiziere zur Ordnung zu rufen. Bei der deutschen Bevölkerung sät das Dauerbombardement absurder Nachrichten langfristig Zweifel: Wenn auch nur ein Körnchen davon wahr ist, sind unsere Führer verkommen. Das Kapitel zeigt somit, wie Delmer das totalitäre Pathos mit Spott zersetzt. These: Indem man die Gegner der Lächerlichkeit preisgibt, bricht man den Zauber ihrer Propaganda. Wo Angst und Ehrfurcht waren, soll plötzlich Gelächter sein – eine subversive Kraft. Pomerantsev verdeutlicht, dass Humor im Informationskrieg tödlich sein kann: Er entzieht der Propaganda die emotionale Schwerkraft. Dieses Prinzip – das Autoritäre in suo absurdum zu führen – wird bis heute angewandt, etwa wenn Internet-Trolle autokratische Narrative parodieren. Kapitel 5 würdigt Delmers Genie, jenseits aller Konvention mit kreativem Hohn zu kämpfen.

Kapitel 6: That Beastly Pornographic Organisation

Der provokante Titel zitiert die empörten Worte eines britischen Offiziers über Delmers Propaganda-Einheit. In diesem Kapitel stehen die moralischen und ethischen Konflikte im Mittelpunkt, die Delmers Methoden im britischen Establishment auslösen. Inhalt: Je erfolgreicher Delmers schwarze Propaganda wird, desto lauter werden die Stimmen der Kritiker in London. Konservative Kreise – Militärs, Politiker, selbst einige Kollegen – fragen: Untergraben wir mit diesen schmutzigen Tricks nicht unsere eigenen Werte? Die BBC beispielsweise weigert sich strikt, Desinformation auszustrahlen. Und im Auswärtigen Amt gibt es Bedenken, Delmers dreckige Kampagne könnte nach dem Krieg die Glaubwürdigkeit Großbritanniens beschädigen. Pomerantsev schildert hier tatsächliche Auseinandersetzungen: Zum Beispiel soll Delmers Team pornografische Flugblätter entworfen haben, die an deutsche Soldaten abgeworfen wurden – explizite Bilder mit anzüglichen Texten, um die Sehnsucht nach Hause zu verstärken und gleichzeitig Eifersucht zu wecken (etwa durch Andeutungen, die Ehefrau könne untreu sein). Solche Aktionen brachten der Truppe intern den spöttischen Namen “Department of Dirty Tricks” ein. Reaktionen: Premierminister Churchill persönlich soll Delmers Operationen mit gemischten Gefühlen betrachtet haben – einerseits offen für unkonventionelle Kriegsführung, andererseits bedacht auf den Ruf des Empire. Ein hoher BBC-Verantwortlicher nannte Delmers Sender “beastly” (abscheulich) und “pornographic”, da dort Themen wie Sexualität, Perversion und Korruption ungefiltert und in vulgärer Sprache behandelt wurden. Die klassische britische Kriegspropaganda – z.B. die BBC-Auslandsdienste – setzte hingegen auf Fakten und einen “sauberen” Ton. Delmers Haltung: Er rechtfertigt seine Methoden vehement. In seinen Memoiren schreibt er sinngemäß: Wir mussten so tief hinabsteigen wie die Nazis, um sie zu treffen. Wenn Goebbels mit antisemitischen Pornographien (wie dem Hetzfilm “Jud Süß”) arbeite, sei es legitim, die deutsche Führung mit ähnlichem Schmutz zu überziehen, aber eben gegen sie gerichtet. Delmer sieht sich als unsichtbarer Kämpfer ohne Tabus. Er selbst hatte in Berlin die dekadente Unterhaltungswelt erlebt – jetzt dreht er den Spieß um und instrumentalisiert diese Dekadenz gegen die Nazis. Narrative: Dieses Kapitel beleuchtet den Mythos der moralischen Überlegenheit. Die Briten glauben, für Freiheit und Wahrheit zu kämpfen – doch hier flirten sie mit Täuschung und Obszönität. Die Frage “Darf die Demokratie lügen?” steht im Raum. Pomerantsev zeigt, dass diese Frage keineswegs neu ist: Schon im Zweiten Weltkrieg war man bereit, mit Monstern zu kämpfen, ohne selbst zum Monster zu werden, was bekanntlich schwierig ist. Ein britischer Kommentator bemerkt damals ironisch: „Wenn wir ins Schlammloch der Nazi-Propaganda hinabsteigen, stellen wir fest, dass wir dort auf Delmer treffen.“ Dieses Spannungsfeld macht das Kapitel greifbar. Fazit: Trotz aller Kontroversen behält Delmer Rückendeckung aus höchsten Kreisen – die Regierung erkennt an, dass seine Schmuddelmethoden militärisch nützen. Somit etabliert sich seine “pornografische Organisation” als fester, wenn auch diskreter Bestandteil der britischen Kriegsstrategie. Für Pomerantsev ist dies ein Schlüsselpunkt: Eine offene Gesellschaft ringt damit, ob sie im Kampf gegen eine Lügenmaschine selbst zu lügen bereit sein darf. Die Lektion Delmers lautet: Um einen Informationskrieg zu gewinnen, muss man manchmal moralische Grauzonen betreten. Doch wie lange kann man das tun, ohne sich selbst zu korrumpieren? Diese Frage bleibt hängen und bereitet den Boden für die nächsten Kapitel, in denen Delmers Propaganda ihren Höhepunkt erreicht – und die moralischen Kosten sichtbar werden.

Kapitel 7: Strength Through Fear

Dieser Abschnitt beleuchtet, wie Delmers Propaganda spätestens 1943/44 eine neue Qualität annimmt: Sie schürt gezielt Ängste unter den deutschen Soldaten und der Zivilbevölkerung, um die NS-Herrschaft von innen zu zersetzen. Hintergrund: Die Nazis propagierten das Motto “Kraft durch Freude” – doch gegen Ende des Krieges regiert bei ihnen zunehmend die Angst. Delmer kehrt dieses Prinzip um und nutzt Angst als Waffe: Stärke durch Furcht. Inhalt: Delmers beliebtester Tarnsender zu dieser Zeit ist der “Soldatensender Calais”. Er gibt vor, ein deutscher Frontsender zu sein, der für Wehrmachtssoldaten Unterhaltung und Neuigkeiten bietet. Mit beliebter Musik, frechen Sprüchen und sportlichen Meldungen gewinnt er zunächst das Vertrauen der Hörer. Dann aber streut er subtil Furcht: Berichte über strenge Strafen für geringste Vergehen, Gerüchte über eine allgegenwärtige Gestapo, die Feldgendarmerie, die angebliche Deserteure sofort erschießt, oder Warnungen, alliierte Bomber würden bald die Heimatstädte der Soldaten in Schutt legen. Ein typisches Segment: Eine scheinbar harmlose Nachricht, die dann kippt – “In München wurde letzte Nacht der gesamte Stadtteil X bei einem alliierten Angriff zerstört. Die Behörde ruft zur Ruhe auf…”. Die Soldaten an der Front hören das und ihr Gedanke ist: Meine Familie! Oft sind es wahre Begebenheiten, die Delmer jedoch in finsterem Ton präsentiert und mit Mutmaßungen ergänzt (etwa, dass in Wahrheit viel mehr Opfer verschwiegen würden). Wirkung: Diese Angst-Propaganda zeigt laut Pomerantsev erhebliche Wirkung. Deutsche Berichte vermerken, dass Delmers Sender Unruhe in der Truppe säten. Selbst fanatische NS-Offiziere werden nervös: Joseph Goebbels notiert nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 in sein Tagebuch, wie sehr ihn die “Stimmen der Angst” umgeben. Hier sieht man, wie die NS-Propaganda selbst auf Angst umschaltet – Goebbels stilisiert Hitlers Überleben als Wunder und ruft Massenkundgebungen inszeniert herbei, während Delmers Leute gleichzeitig Zweifel säen, ob das Attentat nicht vielleicht doch Erfolg hatte (so verbreiteten alliierte Sender kurzzeitig die Meldung vom Tod Hitlers, was sich als verfrüht herausstellte). Zentrale These: Angst entwaffnet. Indem Delmer die sowieso ansteigende Todesfurcht der Deutschen verstärkt, raubt er ihnen die moralische Widerstandskraft. Die “Stärke durch Angst” soll Hitlers “Stärke durch Freude” Lügen strafen. Pomerantsev zeigt an diesem Punkt ein Paradox: Beide Seiten – Naziführung und alliierte Propagandisten – operieren nun offen mit Angst. Goebbels malt Schreckgespenster einer drohenden bolschewistischen Vernichtung Deutschlands, um den letzten Durchhaltewillen zu mobilisieren, während Delmer den Deutschen vor Augen führt, dass ihre eigenen Führer sie ins Verderben schicken. Zwei konkurrierende Angst-Narrative treffen aufeinander: die Nazi-Drohung “Gebt nicht auf, sonst massakrieren die Russen eure Familien” versus Delmers subtile Botschaft “Eure Führung belügt euch, ihr werdet sinnlos geopfert”. Relevante Ereignisse: Die großen alliierten Offensiven 1944 (Landung in der Normandie, Vormarsch der Roten Armee) bilden den Hintergrund. Delmers Sender greifen z.B. die zunehmenden Meldungen über Kriegsverbrechen der SS auf, um Wehrmachtssoldaten einzuschärfen, sie würden kollektiv dafür bestraft, wenn sie weiterkämpfen – eine raffinierte Umkehr von Hitlers Parole “Kampf bis zum Ende”. Fazit: Kapitel 7 illustriert, dass Propaganda in der Endphase des Krieges vor allem eine Schlacht der Nerven ist. Delmer erzielt Stärke durch Angst, indem er den ohnehin brüchigen Glauben vieler Deutscher an den Sieg vollends erschüttert. Dadurch entzieht er Hitlers Propaganda die Monopolstellung: Die Deutschen sind nicht mehr nur Empfänger der offiziellen Linie, sondern erwarten insgeheim das Schlimmste – und genau das serviert ihnen Delmer, mit dem unterschwelligen Rat, lieber aufzugeben als unterzugehen.

Kapitel 8: D-Day and the Death Drive

Pomerantsev schildert hier die Phase um die alliierte Landung in der Normandie 1944 und die darauffolgenden Ereignisse. Das Kapitel verwebt die militärischen Wendepunkte mit den psychologischen Strategien auf beiden Seiten. Begriff “Death Drive”: Er spielt auf Freuds Konzept des Todestriebs an – eine destruktive Kraft, die die Nazis nun erfasst. Hitler und Goebbels scheinen im Angesicht der Niederlage einen kollektiven Todeswunsch zu propagieren: lieber Deutschland in Schutt und Asche als Kapitulation. Inhalt: Nach dem D-Day (6. Juni 1944) und den alliierten Durchbrüchen in Frankreich stehen die Nazi-Propagandisten unter enormem Druck. Goebbels appelliert an den Fanatismus: Er beschwört den “Volkssturm” – Greise und Jungen sollen kämpfen – und betreibt offenen Defätismusverbot. Genau hier hakt Delmer ein. Seine schwarzen Sender verstärken die fatalistische Stimmung, indem sie so tun, als begrüßten sie den deutschen Todesmut, dies aber in Wahrheit ad absurdum führen: Ein Geflüster aus dem Äther suggeriert, die Nazi-Führung wolle das Volk mit sich in den Tod reißen. Delmers Team streut z.B. makabre Geschichten: In Berlin verteile die SS bereits Zyankalikapseln an Parteifunktionäre, damit diese sich nicht ergeben müssen – oder: Hitler plane einen “Heldentod” in den Trümmern der Reichskanzlei und nehme ganz Deutschland mit. Diese makabren Gerüchte wirken wie selbsterfüllende Prophezeiungen, da die Realität immer mehr darauf hinausläuft. Wirkung auf die Deutschen: Viele Hörer beginnen zu glauben, die eigene Führung sei wahnsinnig geworden. Als im Juli 1944 Oberst Stauffenbergs Attentat auf Hitler scheitert (Operation Walküre), drehen die Nazis diesen Vorfall propagandistisch zu ihrem Vorteil (siehe Kapitel 9). Doch Delmers Propaganda hat schon viel Vorarbeit geleistet: Die Bevölkerung ist gespalten zwischen fanatischer Loyalität und stiller Todesangst. Der “Todestrieb” – Hitlers Bereitschaft, alles mit in den Abgrund zu reißen – wird zum offenen Thema. Delmers Sender geben vor, dies zu bestätigen durch scheinbar Insider-Berichte (z.B. “Ein hoher Wehrmachtsgeneral sagte offen: Wir werden alle wie die Götterdämmerung untergehen.”). Zentrale Narrative: Pomerantsev verdeutlicht, dass die Info-Schlacht nun um die Sinnfrage geht: Kämpfen die Deutschen weiter und folgen dem NS-Narrativ von Ehre im Untergang? Oder erkennen sie die Sinnlosigkeit? Die schwarzen Sender versuchen letzteres: Sie zeichnen das Bild einer Führung, die vom Todestrieb getrieben ist – wahnsinnig, irrational, dem Untergang geweiht. Damit wollen sie den Durchschnittsdeutschen motivieren, innerlich abzuschalten oder gar zu desertieren, um nicht Teil dieses Wahnsinns zu werden. Reaktionen der Nazis: Goebbels kontert mit Endzeit-Rhetorik: Er stilisiert Hitler zum von der Vorsehung Geretteten (nach dem Attentat) und warnt vor dem bolschewistischen “Rassentod” im Falle einer Kapitulation. Doch gerade diese radikale Linie bestätigt Delmers unheimliche Flüstermeldungen. Viele Deutsche glauben insgeheim eher den Untergangsszenarien, als an Wunderwaffen oder Endsieg. Fazit: Kapitel 8 zeigt die Eskalation: Der Informationskrieg hat eine nihilistische Stufe erreicht. Die Nazis verbreiten bewusst falsche Hoffnung (Wunderwaffen, Allianz mit dem “Nordischen” Britannien – was Delmer Jahre zuvor aus Hitlers Mund selbst hörte, aber nun ad absurdum geführt ist). Delmer hingegen zerstört gezielt jede Restillusion und beschleunigt so gewissermaßen den Kollaps der deutschen Moral. Der Todestrieb als Motiv entlarvt die selbstmörderische Ideologie der Nazis – und enthüllt, dass im Kern von “Nichts ist wahr” bei ihnen letztlich nur Tod und Zerstörung übrig bleibt. Dieser Vorgriff auf Pomerantsevs eigenen Buchtitel (siehe Buch 3) wird hier historisch greifbar gemacht.

Kapitel 9: Valkyrie

Benannt nach Operation Walküre, dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, analysiert dieses Kapitel, wie beide Seiten propagandistisch auf das Attentat reagierten. Inhalt: Als am 20. Juli 1944 die Bombe im Führerhauptquartier “Wolfsschanze” explodiert, kocht die Gerüchteküche. Delmers schwarze Sender nehmen die ersten Meldungen gierig auf: Es heißt, Hitler sei tot oder schwer verletzt. Delmer lässt sofort in seinen Programmen durchblicken, dass ein Umsturz im Gange sei – er hofft, damit Verwirrung in der Wehrmacht zu stiften. Doch dann kommt Hitler lebend im Radio zu Wort, die Verschwörer werden binnen Stunden verhaftet und hingerichtet. Goebbels reagiert meisterhaft: Er deklariert Hitlers wundersame Rettung zum Zeichen der Vorsehung. Die NS-Propaganda setzt alles daran, diesen Tag in einen Loyalitätsschub umzuwandeln. Überall im Reich müssen am 21. Juli spontane Kundgebungen stattfinden. Pomerantsev zitiert, dass z.B. in Wien 350.000 Menschen (laut Gestapo) auf die Straßen getrieben wurden, um dem “Führer” für sein Überleben zu danken. In vielen Städten weinen die Menschen vor Erleichterung öffentlich und rufen Dankgebete gen Himmel – eine inszenierte, aber nicht unwirksame Massenhysterie. Delmers Perspektive: Für Delmer ist das Attentat ein zweischneidiges Schwert. Einerseits zeigt es ihm, dass auch innerhalb Deutschlands Widerstand existiert – eine “andere Stimme”, die Hitler beseitigen wollte. Andererseits erlebt er die Resilienz von Hitlers Personenkult. Er analysiert, dass Goebbels aus dem fehlgeschlagenen Attentat einen Propagandacoup macht: Nun stehen alle Verräter als von den Alliierten gelenkte “Feiglinge” da, Hitler als unsterblicher Held. Delmers Aufgabe ist es, dieses Narrativ zu brechen. Seine Sender verbreiten darum die Version, das Attentat sei nur knapp gescheitert – beim nächsten Mal erwischt es Hitler gewiss. Sie spielen auch an auf Risse im Regime: Warum wollten eigene Offiziere Hitler töten? Womöglich, weil sie einsahen, dass der Krieg verloren ist. Diese Fragen stellen Delmers Programme offen und fordern deutsche Hörer zum Nachdenken auf. Zentrale Narrative: Valkyrie offenbart im Info-Krieg zwei Mythen: den NS-Mythos vom “Führer, den nichts umbringt” und den Gegenmythos vom “inneren deutschen Widerstand”. Pomerantsev betont hier, wie Propaganda Realität formt: Einen realen Akt des Widerstands (Stauffenberg) verwandeln die Nazis in einen Loyalitätstest (alle müssen jetzt umso treuer sein). Delmer versucht hingegen, aus dem gleichen Ereignis den Schluss zu ziehen: Seht her, sogar eure eigenen Leute wollen Hitler loswerden! Beide Propagandalinien überlagern sich im Äther. Für die deutsche Bevölkerung entsteht ein wahrer Informationsnebel: Einerseits öffentliche Massenbetonungen der Treue, andererseits heimliches Tuscheln, ob Hitler wohl doch hätte sterben sollen. Relevante Personen: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und die Verschwörer werden von Goebbels als feige Meuchelmörder diffamiert. Delmer hingegen lässt seine Sprecher mitfühlend von “aufrechten deutschen Patrioten” sprechen, die Hitler beseitigen wollten, um Deutschland zu retten – was dem offiziellen Narrativ diametral entgegensteht. Die Gestapo versucht verzweifelt, die alternative Lesart zu unterdrücken, aber gerade dadurch wirkt sie glaubwürdiger. Ergebnis: Kurzfristig gewinnen die Nazis diese Runde – die Militärmaschinerie bleibt intakt, es kommt nicht zur erhofften Erhebung deutscher Kräfte gegen das Regime. Doch langfristig, argumentiert Pomerantsev, bleibt an Hitlers Mythos ein tiefer Riss. Die Walküre-Erzählung – Hitler als auserwählter Überlebender – wirkt auf viele nur noch wie fanatische Selbstsuggestion. Delmer und seine Mitstreiter haben es geschafft, dass zumindest hinter vorgehaltener Hand die Frage gärt: Warum eigentlich nicht Stauffenberg erfolgreich? Damit säen sie das mentale Saatgut für die Kapitulation 1945 – als es soweit ist, gibt es kaum mehr jemand, der für Hitler sterben will. Kapitel 9 zeigt eindrücklich, dass Propaganda blitzschnell auf Ereignisse reagieren muss und wie ein und derselbe Vorfall komplett gegensätzliche Narrative erzeugt – eine Lektion, die in heutigen “Fake News”-Zeiten besonders relevant ist.

Kapitel 10: How Dead Is Hitler?

In der Endphase des Krieges, als Hitler tatsächlich dem Untergang entgegentaumelt, stellt Pomerantsev die Frage nach dem Nachleben des Mythos Hitler. Inhalt: April/Mai 1945: Berlin steht vor dem Fall, Hitler begeht am 30. April Selbstmord in seinem Bunker. Doch wie kommuniziert man den Deutschen – und der Welt – den Tod des Diktators, dessen Propaganda so lange allgegenwärtig war? Delmer und seine Kollegen stehen vor der Aufgabe, die Nachricht von Hitlers Ende glaubhaft zu verbreiten, ohne sie gleich zur Märtyrerlegende werden zu lassen. Ihre Strategie: Demontage durch Fakten und Lächerlichkeit. Zum einen sorgen alliierte Sender dafür, dass authentische Details von Hitlers Ende bekannt werden (die verkohlten Leichen, das jämmerliche Szenario im Bunker). Zum anderen greifen sie latente Zweifel auf: Schon vor Hitlers Tod kursierten Verschwörungstheorien – könnte Hitler fliehen? Lebt er vielleicht im Untergrund weiter? Delmers Antwort ist, diese Mythen sofort im Keim zu ersticken. Seine Sender versichern den Hörern in dramatischem Tonfall, Hitler sei tot – “so tot wie nur möglich”. Gleichzeitig malen sie aus, wie feige er sich selbst gerichtet habe, statt kämpfend unterzugehen. Sie spielen sogar makabre “Sketche” darüber, Hitler lebe nun in der Hölle weiter und werde von den Geistern seiner Opfer gequält. Ziel: Jeglichem Hitler-Nachleben in Gedanken den Glanz nehmen. Die Botschaft lautet: Der “Führer” starb wie ein feiger Hund, ließ sein Volk im Stich und verdient kein Andenken. Narrative: Hier prallen Geschichtsdeutung und psychologische Kriegsführung aufeinander. Die Nazis hatten Hitler als unsterblichen Führer inszeniert; selbst nach seinem Tod versuchten einige Hardliner, diesen Mythos zu retten – Admiral Dönitz etwa verkündete pathetisch, der “Führer sei für Deutschland gefallen”. Delmer hingegen kontert mit der ungeschönten Wahrheit: Hitler hat Selbstmord begangen, nicht für Deutschland, sondern aus Angst vor Verantwortung. Somit entlarvt er den Helden-Mythos endgültig als Lüge. Relevante Ereignisse: Im Mai 1945 kapituliert die Wehrmacht bedingungslos. Die Propaganda dreht sich nun um die Interpretation der Niederlage. Während deutsche Nazifunktionäre ins Ausland fliehen oder sich totstellen (man denke an Gerüchte, Hitler sei nach Argentinien entkommen), setzen die Alliierten – auch dank Delmers Vorarbeit – durch, dass die meisten Deutschen die Realität akzeptieren: Hitler ist weg, der Krieg ist aus. Pomerantsev zeigt, dass Delmers letzte Schlacht im Äther darin besteht, den Nazismus auch ideologisch zu begraben. Dazu gehört, dass er die deutsche Bevölkerung auf die kommende Umerziehung vorbereitet: Seine Sendungen appellieren nun offen an Vernunft und Neuanfang statt an Zwietracht. Besonderheit: Der Kapitel-Titel fragt “Wie tot ist Hitler?” und impliziert: Körperlich tot, aber lebt sein Geist fort? Hier wird Delmers eigene Befürchtung spürbar, dass Hitlers Propagandaparolen – Nationalismus, Judenhass, Lügenkult – nicht mit dem Mann im Bunker sterben, sondern als gefährliche Ideen weiter umgehen könnten. Tatsächlich zeigen alliierte Vernehmungen von Kriegsgefangenen, dass viele noch an Verschwörungen glauben (z.B. Dolchstoß 2.0). Delmer argumentiert daher für Transparenz: Er plädiert intern dafür, den Deutschen alle Verbrechen des Regimes schonungslos vor Augen zu führen, damit kein positiver Hitler-Mythos nachglimmt. Fazit: Kapitel 10 verdeutlicht, dass einen Informationskrieg zu gewinnen, mehr erfordert als den physischen Sieg – man muss auch die Narrative dominieren. Delmer trägt dazu bei, dass Hitler im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen nicht als “legendenumwobener Held im Untergrund” weiterlebt, sondern als tragische, wahnsinnige Figur endet. Damit bereitet er den Boden für die Entnazifizierung, zumindest in Ansätzen.

Kapitel 11: How to Win an Information War

In diesem vorletzten Kapitel zieht Pomerantsev die Lehren aus Delmers Propaganda-Feldzug gegen Hitler. Es verbindet die historischen Erkenntnisse explizit mit modernen Fragen: Wie gewinnt man einen Informationskrieg? Delmers Lehren: Pomerantsev arbeitet heraus, dass Delmer nie ein theoretisches Handbuch schrieb, aber seine Memoiren voller Gleichnisse über Propaganda sind. Daraus lassen sich mehrere Grundprinzipien ableiten:

  • Empathie mit dem Publikum: Delmers größtes Talent war, sich in die Köpfe der Deutschen hineinzuversetzen. Er verstand ihre Sorgen, Ängste, Hoffnungen – teils, weil er selbst so geprägt worden war. “Propaganda wirkt, weil wir alle verletzliche Menschen sind”, lautet die Quintessenz. Delmer wusste um seine eigene Bedürftigkeit nach Zugehörigkeit und entdeckte darin das universelle Rezept der Propaganda: Sprich die Einsamkeiten und Sehnsüchte der Menschen an.
  • Glaubwürdigkeit durch geteilte Identität: Delmer imitierte erfolgreich Nazi-Stimmen, weil er echt wirkte. Seine “schwarzen” Sender mussten sich das Vertrauen der Hörer erst verdienen – durch wahrheitsgetreue (oder plausibel klingende) Informationen und das Gefühl, “einer von uns” spricht. Er nutzte vorhandene Narrative (der patriotische Offizier, der besorgte Familienvater) und füllte sie mit subversiven Inhalten.
  • Narrative Kontrolle und Timing: Delmer zeigte, dass man schnell und flexibel auf Ereignisse reagieren muss (siehe Attentat 20. Juli) und gegnerische Narrative kapern kann. Oft wendete er Hitler-Propaganda ins Gegenteil: Wo die Nazis von Ehre sprachen, sprach er von Schande; wo sie Einheit beschworen, betonte er interne Konflikte. Wichtig war, die Themenführerschaft zu erringen – zu definieren, worüber gesprochen wird.
  • Moralische Ambivalenz: Um einen Informationskrieg zu gewinnen, musste Delmer moralisch schmutzige Methoden einsetzen. Doch er warnte vor den Folgen: Seine eigenen Täuschungen holten ihn nach dem Krieg ein. In seinen Memoiren gesteht Delmer, dass all die Lügen und “Spiegelspiele” auch ihn beeinflusst hatten – “eine lange Moralfabel über wie seine Täuschungen auf ihn zurückfielen”. Mit anderen Worten: Der Sieger im Info-Krieg muss aufpassen, nicht selbst Opfer der von ihm entfesselten Zynismen zu werden.

Pomerantsev verknüpft Delmers Einsichten mit aktuellen Herausforderungen (Stand ~2024): Heute hat das digitale Zeitalter die Gesellschaft ähnlich umgewälzt wie damals das Radio. Die Lektionen aus Delmers Kampf gegen Goebbels sind drängender denn je. Ein Zitat aus dem Buch macht dies deutlich: „Delmers Meisterschaft in Propaganda ist heute relevanter denn je, da unser Leben durch digitale Technologie genauso umgewälzt wird, wie das Radio Delmers Leben veränderte“. Wir kennen heute Begriffe wie “Firehose of Falsehood” (Russlands Desinformations-Flut) und “Weaponisation of Information”. Pomerantsev sieht in Delmers Geschichte Anleitungen und Warnungen zugleich.

Anleitung: Man braucht Kreativität, Mut zum Tabubruch und Verständnis für die Psychologie der Zielgruppe, um Propaganda zu schlagen. Fakten allein genügen nicht – es geht um Gefühle und Erzählungen. Delmer gewann den Info-Krieg, weil er Geschichten erzählte, die die Menschen berührten, sei es durch Angst, Hoffnung oder Humor.

Warnung: Wer im Info-Krieg kämpft, bewegt sich auf dünnem Eis. Leicht kann man selbst die Grenze zur Zynik überschreiten. Delmers Leben zeigt, dass Propagandaakteure nach dem Kampf mit einem moralischen Scherbenhaufen dastehen können. Daher plädiert Pomerantsev implizit für Ethik im Informationskrieg: So effizient Delmers Lügen gegen Hitler waren – nach dem Krieg mussten wieder Wahrhaftigkeit und Transparenz aufgebaut werden.

Kurzum vermittelt Kapitel 11: Einen Informationskrieg gewinnt man, indem man die Herzen und Hirne der Menschen erreicht – nicht durch plumpe Fakten, sondern durch Narrative, die Gemeinschaft stiften oder Ängste nehmen. Und man gewinnt ihn letztlich nur, wenn man nach dem Sieg die Lüge wieder in den Käfig zurückdrängt. Delmer verstand das, als er nach 1945 an neuen Medienformaten arbeitete, die gegen Hass und Lügen immun sein sollten. Seine Geschichte bietet somit einen wertvollen Erfahrungsschatz für die Gegenwart.

Kapitel 12: Ordinary Ordinary

Im Abschlusskapitel beleuchtet Pomerantsev eine überraschend demütige Erkenntnis Sefton Delmers: Trotz all seiner außergewöhnlichen Abenteuer sah er sich letztlich als “ordinary, ordinary”, als ganz gewöhnlichen Menschen. Dieser doppelt betonte Begriff – angeblich aus einer Notiz in Delmers MI5-Akte oder einem Gespräch – dient als Schlussgedanke. Bedeutung: Delmer erkannte, dass seine Fähigkeit, Propaganda zu verstehen, daraus resultierte, dass er selbst nicht dagegen immun war. Er war gewöhnlich verletzlich, hatte die gleichen Bedürfnisse und Schwächen wie alle. „Er begriff sein eigenes Bedürfnis, gewöhnlich zu sein – und wie gefährlich das sein konnte“. Damit meint er: Der Wunsch dazuzugehören, “normal” zu sein, kann Menschen empfänglich für Propaganda machen, die ihnen dieses Gefühl von Normalität und Gemeinschaft gibt. Delmer hatte am eigenen Leib erfahren, wie er als Schüler in Berlin in den Sog der deutschen Kriegsbegeisterung geriet und mit den anderen Jungen die patriotischen Lieder sang – obwohl er Brite war. Diese Lektion – erkenne deine eigene Anfälligkeit – macht ihn zum effektiven Propagandisten und zugleich zum Mahner. Reflexion: Pomerantsev nutzt Delmers Schicksal, um allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Ein Informationskrieg wird nicht von Übermenschen gewonnen, sondern von Menschen, die ihre Menschlichkeit begreifen. Delmer war erfolgreich, weil er gewöhnlich genug war, sich in den gewöhnlichen Deutschen einzufühlen. Seine Innovationen und Täuschungen entsprangen letztlich dem empathischen Nachvollzug dessen, was ein einfacher Soldat oder Bürger denkt. Gerade darin lag seine Genialität: Er wusste um die Einsamkeit, die Langeweile, die Sehnsüchte der Menschen in totalitären Systemen – weil er sie kannte. Zugleich war ihm bewusst: Dieselben Bedürfnisse treiben auch ihn und uns alle. Propaganda gewinnt, wenn sie diese normalmenschlichen Bedürfnisse monopolisiert und missbraucht. Daher, so impliziert Pomerantsev, muss die Antwort darauf sein, den Menschen ehrliche Erfüllung dieser Bedürfnisse zu bieten – Gemeinschaft, Sicherheit, Zugehörigkeit – ohne Lügen. Nachwirkungen: Delmers Nachkriegsbeitrag (er arbeitete als Journalist weiter, u.a. für den deutschen Sender Radio Stardust, und schrieb Memoiren) wird kurz angerissen. 1954 interessierte sich sogar der britische Premierminister (Number 10 Downing Street) für Delmers Expertise in Sachen psychologische Kriegsführung, wie eine Aktennotiz zeigt. Doch Delmer zog sich zurück. Er hatte den Großteil seines Lebens im Schattenreich der Propaganda verbracht – nun wollte er ordinary ordinary sein, vielleicht zum ersten Mal. Schlussgedanke: Pomerantsev schließt mit der Feststellung, dass Delmers gewöhnliche Verletzlichkeit die Quelle sowohl seiner Macht als auch seines moralischen Zwiespalts war. Darin steckt ein Appell an uns: Wir alle sind “gewöhnlich” in unserer Verletzbarkeit gegenüber Desinformation, und gerade deshalb müssen wir wachsam sein. Propaganda wirkt, weil wir dazugehören wollen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir – so die leise Hoffnung – vielleicht die nächste Generation von Delmers hervorbringen, die im Dienste der Demokratie die richtigen Lehren ziehen.

Buch 2: This Is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality (Peter Pomerantsev, 2019)

Kapitel 1 (Teil 1): Cities of Trolls

Im ersten Teil nimmt Pomerantsev den Leser mit in die neue Welt der Informationsschlachten des 21. Jahrhunderts. Leitmotiv: Die klassische Konfrontation “Meinungsfreiheit versus Zensur” hat sich nach dem Kalten Krieg gewandelt. Anstatt durch offensichtliche Zensur unterdrücken autoritäre Akteure heute die Wahrheit, indem sie die öffentliche Debatte mit einer Flut von Informationen und gezielten Troll-Angriffen manipulieren. Die Metapher der “Städte der Trolle” verweist auf digitale Räume (Social-Media-Communities), in denen gezielt Verwirrung gestiftet wird. Beispiel Philippinen: Pomerantsev schildert ausführlich den Fall der Philippinen, der als Muster für die neue Propagandaarchitektur dient. 1986 stürzte eine Volksrevolution den Diktator Ferdinand Marcos; die Demokratie kehrte zurück. Doch im Zeitalter von Facebook und YouTube kehrt der Autoritarismus in neuem Gewand wieder. Rodrigo Duterte, Präsident seit 2016, nutzte ein Heer von Online-Trollen und Social-Media-Kampagnen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Ablauf: Ein junger PR-Stratege (Pomerantsev nennt ihn “P”) erzählt, wie er für Dutertes Online-Wahlkampf arbeitete. Er gründete harmlose Facebook-Gruppen in lokalen Dialekten, sammelte Millionen Follower. Dann, als Duterte Kandidat wurde, wandelten sich diese Gruppen in Propagandakanäle um. Inszeniert wurde Duterte als Law-and-Order-Mann, der die “Kriminalität ausrotten” werde – eine Botschaft, die viral ging. Duterte gewann, und nach seiner Wahl entfaltete sich eine brutale Realitätsoffensive: Tausende mutmaßliche Drogenkriminelle wurden ohne Prozess getötet. Rolle der Online-Propaganda: Maria Ressa, Chefredakteurin der Nachrichtenwebseite Rappler, dokumentierte wie die staatlich geförderte Troll-Armee sie und andere Journalisten mit Drohungen überschüttete, sobald sie Dutertes Vorgehen kritisierten. Pomerantsev zitiert Ressa: „Duterte braucht nicht einmal mehr das Militär, um die Medien anzugreifen. Wie ist das möglich? Durch Technologie.“. Troll-Accounts verbreiteten Lügen, dass Rappler bezahlt sei von “Feinden Dutertes” oder dass die Toten der Drogenkriegs gar nicht real seien – typische Fake News, die Zweifel säen sollten. Duterte selbst bedient sich einer derben, humorvollen Sprache (er beleidigt den Papst, witzelt über Vergewaltigung) und spricht damit das Volksempfinden an, ähnlich wie andere populistische Führer. Zentrales Narrativ: Informationsüberfluss als neue Zensur. Statt Informationen zu blockieren, ertränkt das Regime kritische Stimmen in einem Meer aus Ablenkung, Hasskommentaren und Verschwörungen. Man lässt formal die Meinungsfreiheit bestehen – und pervertiert sie. Pomerantsev formuliert provokativ: Was, wenn die Mächtigen die Freiheit der Rede nutzen, um dich mundtot zu machen?. Genau das geschieht in den “Städten der Trolle”: Anonym agierende Regierungsauftragnehmer fluten das Netz mit Botschaften, lenken Debatten in die Irre und greifen Oppositionelle an, während die Urheber jederzeit die plausible Abstreitbarkeit bewahren. Orte und Namen: Manila ist hier die exemplarische Stadt der Trolle. Pomerantsev zeichnet ein lebendiges Bild der philippinischen Hauptstadt – vom stinkenden Slum bis zu den glitzernden Malls, wo Propagandabilder (z.B. patriotische US-Navy-Dosenfleisch-Werbung) gleichsam mit dem Alltag verschmelzen. Namen: Ferdinand Marcos (ehem. Diktator), Rodrigo Duterte (Präsident), Maria Ressa (Journalistin), “P” (anonymisierter PR-Berater des Duterte-Lagers). Mythen und Narrative: Das Duterte-Regime verbreitet den Mythos vom “starken Mann”, der das Land von Drogen säubert – koste es, was es wolle. Kritiker werden als “Feinde des Volks” dargestellt, oft mittels Trollen, die sie beschimpfen (z.B. der populäre Hashtag #ArrestMariaRessa). Gleichzeitig fließen globale Narrative zusammen: Pomerantsev erwähnt, dass selbst russische Influencer in Duterte-nahen Kampagnen auftauchen – etwa plötzlich tauchten Twitter-Accounts mit russischen Namen auf, die pro-Duterte Inhalte verbreiteten. Das zeigt: Die neuen Informationskriege sind transnational vernetzt. Fazit: Teil 1 macht klar, dass wir uns in einer neuen Ära befinden, wo autoritäre Regime durch Manipulation der digitalen öffentlichen Sphäre immense Macht ausüben. Es herrscht eine Art “Krieg gegen die Realität”. Der Leser erfährt: Troll-Armeen und Social-Media-Desinformation haben klassische Zensur ersetzt. Ein markantes Zitat fasst das zusammen: „Was, wenn die Mächtigen ‚Informationsfülle‘ nutzen, um dich mundtot zu machen?“. Damit ist der Grundstein gelegt für die weiteren Kapitel, in denen Pomerantsev diese Taktiken global untersucht.

Kapitel 2 (Teil 2): Democracy at Sea

In diesem Teil zeichnet Pomerantsev nach, wie die errungenen demokratischen Ideale in einem Meer aus Desinformation ins Schwanken geraten. Thema: Die großen Volksbewegungen der 1980er – vom Fall der Diktaturen in Osteuropa, Südafrika bis zu den Philippinen – galten als Triumph der Demokratie. Doch was, wenn clevere Machthaber lernen, genau diese demokratischen Bilder und Begriffe für ihre Zwecke zu kapern?. Beispiel Srdja Popović: Pomerantsev trifft Srdja Popović, den serbischen Aktivisten, der 2000 Slobodan Milošević mit der Studentengruppe Otpor! zu Fall brachte und danach weltweit gewaltfreien Widerstand lehrte. Popović sitzt in Belgrad in einem unscheinbaren Büro mit dem Symbol der geballten Faust (Otpor-Logo) an der Wand und erzählt, wie er Schulungen für Demonstranten rund um den Globus gibt. Doch während er über revolutionäre Handbücher spricht, erhält er einen Anruf: Eine Verschwörungstheorie macht Schlagzeilen, die ihn selbst im Visier hat. Russische und türkische Medien beschuldigen Popović, für die CIA zu arbeiten und hinter den arabischen Aufständen zu stecken. Dynamik: Pomerantsev zeigt hier, wie autoritäre Regime zur Gegenoffensive übergegangen sind: Sie erklären jede pro-demokratische Bewegung zur vermeintlichen ausländischen Verschwörung. In Russland und in der Türkei wird Popović als professioneller Unruhestifter dämonisiert. Russische Staatssender schicken sogar Kamerateams zu ihm, um “Beweise” für seine CIA-Verbindungen zu suchen. Dabei hat er mit jenen Ländern nie gearbeitet. Popović erkennt zynisch: „Sie erweitern das Schlachtfeld; sie kopieren unsere Botschaften, obwohl sie keine Alliierten sind, und greifen aus verschiedenen Winkeln an“. Das heißt: Diverse autoritäre Akteure – von Moskau bis Ankara – kolportieren dieselben Verschwörungstheorien, ohne sich abzusprechen, einfach weil sie wirksam sind. Zentrale Narrative: “Farbrevolutionen sind vom Westen gesteuert” – diese Master-Verschwörung ist das narratives Gegengift der Autokraten gegen die demokratische Welle. Wo immer Bürger auf die Straße gehen (Ukraine, Georgien, Arabischer Frühling), wird behauptet, dahinter stecke Soros, die CIA oder eben Leute wie Popović. Damit rauben sie legitimen Protestbewegungen die Glaubwürdigkeit. Pomerantsev betont, dass die Sprache der Demokratie selbst gekapert wird: Autokraten inszenieren Scheindemonstrationen, gründen staatliche “GONGOs” (Regierungs-NGOs) und sprechen von “Volkswillen”, während sie eigentlich nur ihre Macht sichern. So hat Putin etwa eigene Jugendorganisationen (Nashi) geschaffen, die westliche Protestästhetik imitieren, aber seinem Regime dienen. Gleichzeitig nutzen sie Desinformation: Im Netz werden die echten Aktivisten diffamiert (z.B. als Faschisten in der Ukraine). Orte und Namen: Neben Popović tauchen Namen wie Gleb Pawlowski auf – ein früherer Kreml-Berater, der als “Polittechnologe” in den 2000ern solche Strategien entwickelte. Auch Viktor Janukowytsch (ukrainischer Präsident, gestürzt 2014) und die russische Propaganda darum (Stichwort: Maidan = faschistischer Putsch) gehören hierher. Pomerantsev zeigt, wie z.B. in Russland scheinbar zivilgesellschaftliche Gruppen auftauchten, die aber in Wahrheit gelenkt waren – ein “demokratisches Theaterstück” aufzuführen, um echte Opposition zu neutralisieren. So nutzt der Kreml die gleiche Sprache der Bürgerrechte, aber für entgegengesetzte Ziele. Mythos: Demokratie an sich wird zum relativen Begriff erklärt. Autokraten behaupten: Wir sind auch Demokraten, aber “auf unsere Weise”. Gleichzeitig verbreiten sie die Meinung, die westliche Demokratie sei Heuchelei – schließlich mische der Westen sich überall ein (was durch die Verschwörungsnarrative gestützt wird). Fazit: Democracy at Sea – Demokratie auf hoher See – suggeriert, dass die festen Landmarken der demokratischen Prinzipien in stürmischem Gewässer treiben. Nichts ist mehr eindeutig: Jeder Protest könnte ja “gesteuert” sein. Dieses Teilkapitel ruft den Leser auf, die Systematik dahinter zu erkennen: Es ist eine bewusste Strategie der Machthaber, Dissens zu entwerten. Popovićs Erfahrung – wie seine eigenen Methoden gegen ihn verwendet werden – bringt es auf den Punkt: Die Autokraten haben von den Demokraten gelernt. Sie „weiten das Schlachtfeld“, indem sie alle Mittel (Medien, NGOs, Narrative) adaptieren und pervertieren. Demokratie wird so von innen heraus angegriffen, ohne dass Panzer rollen – es ist ein Kampf um Bedeutungen. Pomerantsevs Schluss: Die Symbole der Freiheit sind gekapert worden. Die demokratische Revolution ist nicht mehr eindeutig gut; das Bild des “Protestlers” wurde von Verschwörungstheorien vergiftet. Damit ist Demokratie weltweit “in Seenot” – auf einem Meer, auf dem Fakten und Fiktion verschwimmen.

Kapitel 3 (Teil 3): The Most Amazing Information Warfare Blitzkrieg in History

Der dramatische Titel – „Der erstaunlichste Informationskrieg-Blitzkrieg der Geschichte“ – ist ein Zitat des amerikanischen Strategen Steve Bannon über die Trump-Kampagne 2016. Pomerantsev widmet diesen Teil den Entwicklungen ab 2014: insbesondere der russischen Intervention in der Ukraine und der globalen Desinformationsoffensive, die damit einherging. Schwerpunkt Russland/Ukraine: 2014 annektiert Russland die Krim und entfesselt einen Krieg in der Ostukraine – begleitet von einer beispiellosen Propagandakampagne. Pomerantsev beschreibt, wie russische Staatsmedien und Internet-Trolle ein verzerrtes Paralleluniversum erschaffen: Ukrainische Demonstranten werden als „Neonazis“ dargestellt, die neue Regierung als „faschistischer Junta“ verleumdet, während russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen als “einheimische Selbstverteidigungskräfte” ausgegeben werden. Russische Generäle und Ideologen begreifen dies als neue Art der Kriegsführung. Pomerantsev zitiert aus einem russischen Handbuch “Information-psychologische Kriegsführung – Enzyklopädie”, das er gefunden hat. Darin steht: „Der Einsatz von Informationswaffen wirkt wie unsichtbare Strahlung. Die Bevölkerung merkt nicht einmal, dass sie bestrahlt wird, daher aktiviert der Staat keine Abwehrmechanismen“. Dieses Zitat zeigt die zynische Methodik: Propaganda soll unfühlbar, aber tiefgreifend sein. Ideologie: In Moskau wird eine ganze Weltanschauung aus der Informationskriegsführung abgeleitet. Pomerantsev erläutert, dass russische Denker (teils ehemalige KGB-Offiziere) die Niederlage der UdSSR als Ergebnis westlicher “Informationsviren” deuten. Ideen wie Pressefreiheit oder Menschenrechte seien demnach gezielte Trojaner gewesen, die das sowjetische System sprengten – genannt Operation Perestroika. Heute, so die Propaganda in Moskau, befinde man sich erneut in einem totalen Informationskrieg gegen den Westen. Alles – von Nachrichten bis Popkultur – wird als Waffe betrachtet. Pomerantsev führt aus, dass diese Denke in Russland mainstream wurde, als nach 2011/12 Proteste in Moskau aufflackerten: Der Kreml sah “farbige Revolutionen” überall und verstärkte seine Informationsabwehr. Dazu zählt auch das “Trollen” im Ausland. Russische Trollfabriken mischen z.B. 2016 im US-Wahlkampf mit. Der Titel zitiert ja Bannons Ausspruch, aber Pomerantsev deutet an, dass parallele russische Kampagnen (z.B. die Internet Research Agency aus St. Petersburg) das Online-Klima in den USA anheizten. Beispiel Ukraine 2014: Er greift die Geschichte von Tetyana in Kiew auf, einer Digital-Aktivistin während der Maidan-Revolution. Tetyana nutzte Facebook, um Proteste zu koordinieren, und sah sich gleichzeitig einer Flut von Desinformation gegenüber: Während sie online Hilfe organisierte, streuten Unbekannte via Facebook Panikmeldungen, dass Scharfschützen alle töten würden – eine perfide Methode, um Demonstranten zu zerstreuen. Tetyana stand buchstäblich vor der Entscheidung: Ruft sie die Leute zurück auf den Platz oder rät sie ihnen zu fliehen? Ihr Finger schwebte über der Tastatur, wissend, dass ihre Worte Leben und Tod bedeuten konnten. Dieser Moment zeigt den enormen Druck im Info-Krieg: “Wie gewinnt man einen Informationskrieg, wenn die gefährlichste Komponente die Idee des Informationskriegs selbst ist?” fragt Pomerantsev. Damit meint er: Indem Russland alles als Info-Krieg definiert, zwingt es auch Demokraten, in diesen Kategorien zu denken – was wiederum den russischen Blick bestätigt. “Information Warfare Blitzkrieg”: Diese Worte fallen, als Pomerantsev die Anfangsphase des Ukraine-Kriegs analysiert: Binnen Tagen überrollte Russland die Krim und bombardierte das Informationsumfeld mit so vielen Lügen (es gäbe keine russischen Truppen, die Krimbevölkerung habe 90% für Anschluss gestimmt etc.), dass die Welt staunte. Westliche Analysten nannten es “Firehose of Falsehood” – Lügen mit dem Feuerwehrschlauch verspritzt. Die russische Seite prahlte intern, dies sei der größte Infokrieg-Sieg aller Zeiten. Pomerantsev bestätigt: Es war ein beispielloser Blitzkrieg auf der Informationsfront. Doch – und hier kommt sein wichtiger Punkt – wer stoppte die Ausweitung? Nicht hochgerüstete Armeen, sondern gewöhnliche Bürger und unabhängige Journalisten. In der Ukraine selbst konterten Aktivisten die russische Propaganda mit eigenen Mitteln: Sie gründeten z.B. die Faktenprüfseite StopFake, um russische Lügen (etwa zig Versionen zum Abschuss von Flug MH17) aufzudecken. Sie organisierten Online-Gruppen, die prorussischen “Bots” entgegentraten. Freiwillige IT-Experten spürten Troll-Farmen auf. Ordinary people leisteten Widerstand im Infokrieg. Schlüsselszene: Tetyana in Luhansk (Ostukraine) überwacht 2014 zwei konkurrierende Facebook-Feeds: Einer ruft “kommt alle zum Maidan, wir brauchen euch”, der andere “flieht, ihr werdet erschossen!”. Diese surrealen simultanen Botschaften symbolisieren perfekt den Informationskrieg. Schließlich entscheidet Tetyana sich, weiter zur Mobilisierung aufzurufen – ein Akt des Vertrauens in ihre Realität. Fazit: Teil 3 demonstriert, dass wir uns mitten in einer globalen Informationskrieg-Ära befinden. Russland spielt eine Vorreiterrolle mit einer regelrechten Info-Weltanschauung. Die “unglaublichste Infowar-Blitzkrieg” zeigt, wie schnell Realitäten heute manipuliert werden können. Doch Pomerantsev lässt durchblicken: Der Sieg ist nicht garantiert. Ukrainische Bürger, Journalisten, Hacker – die Zivilgesellschaft – finden Wege, sich zu wehren. Allerdings steht am Ende eine Warnung: Wenn Propaganda das Denken der Menschen als permanenten Kriegszustand formt, droht eine Selbstwahrmachung. Anders gesagt: Wer überall Informationskrieg wittert, kann am Ende keine nüchterne demokratische Debatte mehr führen. So droht die offene Gesellschaft sich selbst zu verlieren. Diese Erkenntnis führt Pomerantsev zum nächsten Teil, in dem er den Wert von Tatsachen und deren Erosion untersucht.

Kapitel 4 (Teil 4): Soft Facts

Der Begriff “Soft Facts” steht hier für die biegsamen, “weichen” Fakten im Zeitalter der Post-Wahrheit. Pomerantsev beleuchtet, wie Fakten an Verbindlichkeit verlieren und Lügen offener denn je toleriert oder gar gefeiert werden. Ausgangspunkt: In den 1980ern, zur Zeit von Glasnost (Gorbatschows Politik der Offenheit), herrschte das Ideal: “Die Wahrheit wird uns frei machen.” Diktatoren schienen panische Angst vor Fakten zu haben – sie zensierten, weil sie wussten, dass wahre Informationen ihr Regime gefährden. Doch heute hat sich etwas drastisch verändert: Wir ertrinken in Informationen, doch Fakten scheinen ihre Kraft eingebüßt zu haben. Politiker lügen schamlos und kommen damit durch. Beispiele: Vladimir Putin behauptete 2014 vor laufender Kamera grinsend, es seien keine russischen Soldaten auf der Krim – obwohl die ganze Welt das Gegenteil sah. Später gab er lässig zu, doch Truppen entsandt zu haben. Die Botschaft dahinter war: Fakten sind irrelevant; wir machen, was wir wollen. Ebenso Donald Trump: 76% seiner Aussagen im Wahlkampf 2016 waren überwiegend falsch oder glatte Lügen (laut PolitiFact). Trotzdem wurde er Präsident. Offenkundige Unwahrheit ist kein Ausschlusskriterium mehr; im Gegenteil, sie gilt manchen als Zeichen von “Authentizität”, weil der Lügner sich nicht um politische Korrektheit schert. Narrative: Autokraten und Populisten betreiben eine Demontage der objektiven Wahrheit. Pomerantsev zitiert: „Die Mächtigen unserer Zeit tun gar nicht mehr so, als ob sie immer die Wahrheit sagen – sie zeigen offen, dass es ihnen egal ist“. Putin’s smirks und Trumps prahlerische Falschaussagen sind Symptome dieses Phänomens. Es handelt sich um einen Angriff auf das Konzept der Wahrheit an sich. Wenn nichts mehr Fakt ist, zählt nur noch Loyalität, Identität, Emotion. Putin signalisierte 2014: “Ja, ich lüge euch ins Gesicht – und ihr könnt nichts tun.” Trump’s Stabschefin Kellyanne Conway prägte den Begriff “alternative Fakten”, um Lügen salonfähig zu machen. Konsequenzen: Pomerantsev fragt: Was bedeutet das für unsere Zukunft? Können Verbrechen ungestraft vor aller Augen passieren, weil man sie einfach abstreitet oder in Zweifel zieht? Er verweist auf brutale Beispiele: In Syrien wurde mit Hilfe russischer Propaganda und Internet-Verschwörungen versucht, die dokumentierten Giftgas-Angriffe und Bombardierungen als Fälschungen hinzustellen (Weißhelme als “Betrüger” etc.). Die Strategie: Verwirrung stiften, damit die Öffentlichkeit ermüdet aufgibt, nach Wahrheit zu suchen. Fallstudie BBC vs. RT: Pomerantsev schildert symbolisch, wie die alte Wahrheitsinstitution BBC sich in einer neuen Medienwelt wiederfindet. Die BBC World Service, einst Stimme der objektiven Berichterstattung, ist selbst verunsichert. In London hat die BBC ihr traditionsreiches Hauptquartier (Bush House) aufgegeben und sich verkleinert. BBC-Redakteure klagen Pomerantsev gegenüber, dass ihre alten Werte – Genauigkeit, Unparteilichkeit – in einer Welt von Troll-Armeen und extrem polarisierten Publika untergehen. “Das Publikum ist in Echo-Kammern zersplittert; die Idee eines gemeinsamen objektiven Fundaments bröckelt”, so der Tenor. Die BBC ringt mit Fragen: Wie berichtet man “impartial”, wenn es nicht mehr nur Links vs. Rechts gibt, sondern Fakten vs. Fiktion? Beispielsweise hatten BBC-Journalisten zunächst Mühe, die Lügen der Brexit-Kampagne oder Trump direkt als Lügen zu benennen – aus Angst vor Parteinahme. Dadurch wirkten sie schwach und die Lügner stark. Objektivität als Mythos: In einem Gespräch (das Pomerantsev hier paraphrasiert) sagt jemand: “Objektivität ist ein Mythos, der uns einst aufgezwungen wurde”. Dieser Ausspruch spiegelt die Haltung wieder, die z.B. kremlnahe Medien propagieren: Alle Medien lügen doch, also haben wir genauso das Recht, unsere “Wahrheit” zu verbreiten. Russische Propagandisten wie Dmitri Kisseljow argumentieren: “Es gibt keine objektive Wahrheit; wir präsentieren nur eine alternative Perspektive.” Damit entwerten sie westliche Kritik als scheinheilig. Fazit: Soft Facts illustriert die beunruhigende Erosion des Fakts als gesellschaftlicher Bezugspunkt. Pomerantsev verknüpft dies mit Delmers Erkenntnis aus Buch 1: Propaganda triumphiert, wenn Menschen nichts mehr glauben – wenn nichts mehr wahr ist. Das Kapitel macht uns klar, dass wir in genau dieser Phase leben. Es endet mit drängenden Fragen: Kann die Demokratie überleben, wenn es keine gemeinsamen Fakten mehr gibt? (Das greift Pomerantsev im folgenden Teil auf). Er beschreibt, wie in einem britischen Parlamentsausschuss (zu dem er als Experte geladen war) parteiübergreifend erkannt wurde: „Unser Rechtsrahmen ist nicht mehr zweckmäßig… Die Spaltung in Echokammern und verzerrte Infos bedrohen das Gewebe unserer Demokratie“. Diese Einsicht – aus offiziellen Stellen – unterstreicht: Wir stehen vor dem Problem, dass Soft Facts die harten Fundamente der Aufklärung untergraben. Pomerantsevs Botschaft: Das Zeitalter der Soft Facts verlangt neue Antworten, um die “Fabric of democracy” – das Gefüge der Demokratie – zu retten.

Kapitel 5 (Teil 5): Pop-Up People

Hier untersucht Pomerantsev, wie im aktuellen Chaos neue Identitäten und Bewegungen “aufpoppen”. Traditionelle Identitätsanker – stabile politische Lager, Religionen, Klassenzugehörigkeiten – lösen sich auf, und allerorts entstehen flexible, teils radikale Identitätsangebote. These: Nicht nur in Russland sind die Sinnstifter zerfallen; auch im “Siegerlager” des Westens herrscht Sinn- und Identitätskrise. Zeichen sind entleert, die Welt scheinbar ohne Bedeutung – Pomerantsev zitiert hier den russischen Konzeptkünstler Boris Groys mit dem Begriff „Big Tsimtsum“, einer Art alles verschlingender Lücke, die nun auch die Sieger des Kalten Krieges erfasst. Die Frage steht: Wer formt als Erster neue Identitäten aus diesem Fluss?. Geschichte von Rashad Ali (Radikalisierung in Großbritannien): Pomerantsev erzählt, wie Mitte der 1990er ein junger britischer Muslim (Rashad) in Sheffield von der islamistischen Gruppierung Hizb ut-Tahrir angeworben wurde. Damals, vor 9/11, hielt man Islamisten in Großbritannien noch für harmlose Spinner – doch sie pflanzten in Jugendlichen wie Rashad das Konzept einer reinen, “vollständigen” muslimischen Identität. Die Rekrutierer fragten: “Bist du nur ein Freitag-Moslem oder ein ganzer Moslem?”. Sie erzählten von Bosnien und Tschetschenien – Muslimen, die trotz Integration abgeschlachtet wurden. Die Botschaft an Rashad: Deine wahre Familie sind die Muslime weltweit, nicht deine englischen Nachbarn. Rashad, der sich nie völlig zugehörig fühlte (sein Elternhaus roch anders, er hatte eine andere Hautfarbe), fand in dieser transnationalen Umma-Identität vermeintlich einen festen Anker. Er radikalisierte sich, distanzierte sich vom “asiatisch-britischen” Mischidentitätsmodell und setzte auf eine pure islamische Identität. Späteres Schicksal: Rashad stieg irgendwann aus dem Extremismus aus und wurde selbst Aktivist gegen Radikalisierung. Pomerantsev deutet an, wie Rashad erkannte, dass die Versprechen der absoluten Identität letztlich hohl waren – Hizb ut-Tahrir versprach das Kalifat, doch es blieb eine Utopie. Dennoch zeigt sein Werdegang: In der Sinnleere postmoderner Gesellschaften sind solche Pop-up-Identitäten (plötzlich auftauchenden Ideologien) äußerst verlockend. Gegenbeispiel Identitäre Bewegung: Pomerantsev vergleicht, wie in Europa zur selben Zeit rechtsextreme Bewegungen mit ähnlichem Bauplan entstehen. Er erwähnt Martin Sellner, den Kopf der Identitären Bewegung Österreichs, der ein „kulturell homogenes Europa“ und die “Remigration” von Muslimen propagiert. Sellner kopiert Methoden der Aktivisten: Flashmobs, provokative Aktionen (z.B. in Deutschland besuchten Identitäre eine Frauenrechts-Demo und ließen dann Rape Alarms los, um auf Vergewaltigungen durch Migranten hinzuweisen). Sie nutzen moderne Kommunikationskanäle perfekt, um ihre Idee einer “weißen Identität” an junge Leute zu bringen. Auch das ist eine Pop-up-Ideologie, entstanden ab ca. 2014, transnational vernetzt (Stichwort Generation Identity in vielen Ländern). Parallelen: Sowohl die Islamisten um Hizb ut-Tahrir als auch die Identitären besetzen die Lücke, die traditionelle Integrations- und Identitätsmodelle hinterlassen haben. Beide sagen: “Die multikulturelle ‘normale’ Identität reicht nicht – du musst dich voll und ganz dieser einen Sache verschreiben.” Das gibt Sinn, Gemeinschaft, Feindbilder. Beide verwenden Narrative des “anderen” – bei Hizb: die Nicht-Muslime werden nie deine Brüder sein; bei Identitären: die Muslime gehören nicht zu uns, wir sind “wahre Europäer”. Mythen und Narrative: Pop-up-Ideologien pflegen Schlüsselmotive: “Othering” – Abgrenzung gegen die Anderen (Rashad lernte, dass die Bosnier seine Brüder seien, nicht die Engländer; der Identitäre lernt, dass der muslimische Nachbar immer Fremder bleibt). “Reinheit vs. Vermischung” – Hizb ut-Tahrir versprach die “vollständige” religiöse Identität, unbefleckt von westlicher Lebensweise; Identitäre fordern kulturelle Reinheit (keine Vermischung der Völker). Opfer-Narrativ – beide sagen: “Unsere Gruppe wird bedroht von einer übermächtigen anderen (Westen vs. Muslime, oder Islam vs. Abendland) – wir müssen uns wehren.” So entstehen Pop-up-Gemeinschaften, die in kurzen Zeiträumen tausende Anhänger mobilisieren. Reale Folgen: Pomerantsev deutet an, wohin das führte: Der Islamismus mündete in Terror und islamistischen Extremismus (Al-Qaida, ISIS). Die Neue Rechte mündet in Phänomene wie das Weltbild eines Anders Breivik oder Attentäter von Christchurch, die sich als Teil einer “überall präsenten”, online generierten Identität (weißer Widerstand) sehen. Beide Strömungen speisen sich aus dem Gefühl, in der gewöhnlichen Gesellschaft unsichtbar oder “nicht ganz dazugehörig” zu sein – was wieder an Delmers “ordinary ordinary”-Erkenntnis erinnert: Das Gefühl, nicht normal dazuzugehören, öffnet Menschen für radikale Zugehörigkeitsangebote. Fazit: Pop-Up People führt eindringlich vor Augen, dass der Kampf um Narrative längst auch ein Kampf um Identitäten ist. Die liberale Demokratie hat (gerade in jugendlichen Subkulturen) an Strahlkraft verloren; neue extreme Ideologien springen hervor wie Pilze nach dem Regen. Pomerantsev impliziert, dass diese Pop-up-Bewegungen ebenso Produkt der neuen Informationsumwelt sind: Sie organisieren sich online, verbreiten Memes, umgehen traditionelle Medien. Sie sind spontan, flüchtig, aber können enormen Schaden anrichten. Die zentrale Herausforderung lautet: Wie kann eine offene Gesellschaft sinnstiftende Narrative bieten, bevor Extremisten es tun? Dieses Thema leitet zum finalen Teil über, in dem Pomerantsev Lösungsideen diskutiert.

Kapitel 6 (Teil 6): The Future Starts Here

Im abschließenden Teil bündelt Pomerantsev Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Der Titel entstammt einer Ausstellung im Victoria & Albert Museum, die Pomerantsev mit Nigel Oakes, dem Gründer der Firma SCL/Cambridge Analytica, besucht. Nigel Oakes und Cambridge Analytica: Oakes war ein Pionier in Sachen Massenbeeinflussung. In den 1990ern gründete er SCL, wollte “die ultimative Einflusswaffe” entwickeln. Pomerantsev schildert, wie Oakes in der Ausstellung plötzlich vor einem Exponat über Cambridge Analytica steht – die Firma, die behauptete, 2016 mit 5.000 Datenpunkten pro US-Wähler psychometrische Wahlwerbung betrieben zu haben. Oakes zittert vor Aufregung: Hier, öffentlich ausgestellt, ist die Bestätigung seiner Lebensarbeit. Cambridge Analytica, ein Ableger seiner Firma, hat mitgeholfen, Trump zum Sieg zu verhelfen – für Oakes der Beweis, dass er recht hatte: Verhaltensmanipulation auf Massenbasis funktioniert. Einflussindustrie: Pomerantsev interviewt Oakes. Dieser prahlt: “Die meisten Werbe- und PR-Kampagnen sind Humbug. Mein Traum war immer, die ultimative Einflusswaffe zu schaffen. Wie jede Waffe kann sie gut oder böse gebraucht werden”. Er gibt unumwunden zu, amoralf zu sein. Oakes’ Philosophie: Statt Menschen rational zu überzeugen, muss man ihre tiefsten Triebe ansprechen und die Botschaft maßschneidern. Cambridge Analytica habe genau das getan: Daten genutzt, um herauszufinden, wer ängstlich ist und dem dann Wahlwerbung für Waffenrecht (“Du brauchst eine Waffe zur Sicherheit”) zu zeigen. Auswirkungen auf Demokratie: Pomerantsev nutzt den Cambridge-Analytica-Skandal, um zu illustrieren, dass unsere demokratischen Prozesse technologisch überholt wurden. Im britischen Parlament führte dies zu einem parteiübergreifenden Ausschuss “Fake News & Desinformation”, in dem Pomerantsev selbst als Berater mitwirkte. Dieser Ausschuss erkannte: “Unser Gesetzesrahmen ist nicht mehr zeitgemäß. Menschen können Informationen glauben, egal wie verzerrt – das polarisiert und zerstört den gemeinsamen Boden für Debatten… Das Gewebe unserer Demokratie ist bedroht.”. Im Bericht forderten die Abgeordneten neue Definitionen und Regeln – z.B. Regulierung für politische Werbung online, Transparenzpflichten für soziale Medien, stärkere Strafen für Wahlmanipulation aus dem Ausland. Pomerantsev schildert diese Szene im House of Commons fast ehrfürchtig: Die detailverliebte, langsame Debatte der Abgeordneten über jeden Begriff, jede Empfehlung, erschien ihm “heldenhaft” in einer Zeit der zerfließenden Bedeutungen. Es symbolisiert: Die Demokratie versucht mit akribischer Gesetzesarbeit Boden unter die Füße zu bekommen, während rundum der Sinn erodiert. Tradition vs. Zukunft: Er beschreibt den Sitzungssaal: an den Wänden Gemälde aus dem 18./19. Jahrhundert mit Parlamentariern in höflicher Debatte – ein Idealbild, das nie ganz Realität war, aber ein Leitbild. Jetzt sitzen die aktuellen Parlamentarier darunter und fragen sich: Können wir diese Tradition an die Gegenwart anpassen? Sie beginnen mit Grundlegendem: gemeinsame Begriffsdefinitionen – z.B. ersetzten sie den schwammigen Begriff “Fake News” durch präzisere Kategorien wie “Desinformation” (absichtliche Lüge) vs. “Misinformation” (irrtümliche Falschinfo). Diese sprachliche Reparaturarbeit wirkt unscheinbar, ist aber essenziell, um das “gemeinsame Fundament” wiederherzustellen. Empfehlungen: Aus dem Kontext lässt sich entnehmen, dass Pomerantsev verschiedene Lösungsansätze unterstützt:

  • Regulierung der Plattformen: So wie der Ausschuss vorschlägt, brauchen soziale Medien Regeln, z.B. bezüglich Transparenz bei politischen Anzeigen, dem Entfernen eindeutig strafbarer Inhalte, der Eindämmung anonymer Bot-Netzwerke usw.
  • Aufklärung und Bildung: Menschen müssen lernen, Informationsmanipulation zu erkennen. Pomerantsev erwähnt, wie Henry Dicks in den 1940ern Nazi-Gefangene psychologisch untersuchte – analog müssten wir heute begreifen, was Menschen in Verschwörungsmythen treibt, um Gegenmittel zu finden.
  • Positive Narrative schaffen: Um dem “Heilmittel gegen Einsamkeit” der Propaganda entgegenzuwirken, brauchen Demokratien eigene Inklusions-Erzählungen. Pomerantsev hat angedeutet, dass Civic Initiatives wichtig sind – etwa Projekte gegen “Civic Deserts” (Bürger-Ödnis), die er in Fußnoten erwähnt. Also: örtliche Vereine, Debattenräume, Kultur, die Gemeinschaft stiften, damit Pop-up-Extremisten weniger Nährboden haben.
  • Transparenz und Wahrheitsoffensive: Pomerantsev plädiert dafür, offensiv Wahrheit zu verteidigen. Das heißt, Faktenprüfer wie StopFake, aber auch staatliche Stellen, müssen schnell Desinformation entlarven. Zudem solle man pro-aktiv narrativesetzen: Etwa russische Lügen über die Ukraine nicht nur widerlegen, sondern eine eigene überzeugende Geschichte der Ukraine erzählen (eine Aufgabe, die nach 2022 – dem russischen Großangriff – noch dringlicher wurde).
  • Internationale Kooperation: Desinformation macht nicht an Grenzen halt, daher fordert er westliche Demokratien auf, gemeinsam Normen und Gegenstrategien zu entwickeln (z.B. NATO/EU-Konzepte für “digitale Verteidigung”).

Synthese: Pomerantsev endet mit einem vorsichtigen Optimismus: Es gibt Menschen in Institutionen, die das Problem erkannt haben und handeln. Die Demokratie hat bereits Krisen überstanden, indem sie sich reformierte. Jetzt muss sie es wieder tun – durch Innovation und Rückbesinnung zugleich. Ein Kernsatz im Buch lautet: „Wenn Propaganda das Heilmittel gegen Einsamkeit ist, dann brauchen wir ein besseres Heilmittel“. Das impliziert: Wir müssen die sozialen Bedürfnisse der Menschen – nach Gemeinschaft, Sicherheit, Identität – auf positive Weise erfüllen, damit die Verführer der Propaganda weniger Chancen haben. Genau diese Überlegung führt in die übergreifende Synthese aller drei Bücher.

Übergreifende Synthese: Strategien zum Gewinnen des Informationskriegs

Die drei Bücher von Peter Pomerantsev – Nothing is True and Everything is Possible, This is Not Propaganda und How to Win an Information War – zeichnen ein Panorama der modernen Informationskriege: von den post-sowjetischen Propagandawelten Russlands über die globalen Schlachten um die Wirklichkeit bis hin zur historischen Fallstudie des britischen Propagandakampfes gegen Hitler. Zusammen entfalten sie eine doppelte Botschaft. Erstens: Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem Desinformation, Mythos und Narrative zu entscheidenden Waffen geworden sind – “der Krieg gegen die Realität” ist längst in vollem Gange. Zweitens – und das ist die hoffnungsvoll stimmende Lehre – lassen sich aus Geschichte und Gegenwart Strategien ableiten, wie demokratische Gesellschaften diesen Krieg gewinnen können. Im Folgenden werden die Erkenntnisse und Empfehlungen aus Pomerantsevs Werken gebündelt, mit besonderem Fokus auf den Lösungsansatz von How to Win an Information War, der die historische Analyse mit aktuellen Handlungsoptionen verknüpft.

Lektionen aus der Geschichte: Sefton Delmer und der kreative Gegenschlag

Pomerantsevs Rückblick auf Sefton Delmers Propagandafeldzug gegen die NS-Diktatur liefert verblüffend aktuelle Einsichten. Delmer bewies, dass man eine mächtige Lügenmaschine mit Kreativität, Empathie und kühner Täuschung zersetzen kann. Er übernahm die Sprache und Emotionen der Zielgruppe und drehte sie gegen deren Führer. Zentrale Lektion 1: Man muss das Publikum verstehen und seine Bedürfnisse ansprechen. Delmer wusste, deutsche Soldaten sehnten sich nach ehrlichen Nachrichten und sorgten sich um ihre Familien – er gab ihnen beides (wenn auch mit manipulativer Absicht) und gewann so Vertrauen. Übertragen auf heute heißt das: Demokratische Gegenkommunikation muss empfängernah sein. Es reicht nicht, abstrakte Fakten zu präsentieren – man muss zeigen, dass man die Ängste und Wünsche der Menschen ernst nimmt. So betont Pomerantsev, dass z.B. Populisten Erfolg haben, weil sie (wenn auch zynisch) das Gefühl vermitteln, die “gewöhnlichen Leute” zu verstehen, während traditionelle Medien häufig als abgehoben wahrgenommen werden. Die Gegenstrategie liegt darin, Bürgerdialoge, lokale Medien und partizipative Formate zu stärken, die direkte Rückkopplung erlauben.

Zentrale Lektion 2: Narrative Stärke schlägt nackte Lüge. Delmer zeigte, wie man das gegnerische Narrativ kapert und umschreibt: Aus Hitlers “Endsieg”-Pathos wurde bei ihm das Bild vom wahnsinnigen Führer im Todestrieb, der alle mit in den Abgrund reißt. Diese Erzählung war letztlich überzeugender, weil sie der Realität entsprach – Hitler war bereit, Deutschland zu opfern. Heute sehen wir ähnliches: Autoritäre Propaganda (etwa aus dem Kreml) malt den Westen als dekadenten Feind – doch man kann dieses Narrativ kontern, indem man die Widersprüche der Autokraten offenlegt. So entlarven ukrainische und belarussische Aktivisten die zynische russische Linie – etwa die Lügen zu MH17 oder zu Gräueltaten – mit Faktensammlungen, investigativen Recherchen und emotional ansprechender Gegenpropaganda. Ein Beispiel: Nach dem Giftanschlag auf den Ex-Agenten Skripal in England 2018 überschüttete Moskau die Welt mit Dutzenden Versionen (Briten seien es selbst gewesen etc.). Die britische Gegenstrategie war, proaktiv Transparenz herzustellen – man präsentierte Beweise und führte russische Vertreter in der UNO vor, indem man sie konkrete Fragen stellen ließ. Die Lehre ist: Offenheit und konsistente eigene Erzählungen können die “Firehose of Falsehood” eindämmen, weil sie dem Publikum einen roten Faden bieten.

Zentrale Lektion 3: Moral und Glaubwürdigkeit sind langfristig entscheidend. Delmer bewegte sich in moralischen Grauzonen, doch nach dem Sieg musste er – und Großbritannien – zur Wahrheit zurückfinden. Sein Ziel war nie Desinformation um ihrer selbst willen, sondern um den Krieg zu verkürzen und Leben zu retten. Pomerantsev macht deutlich: Auch heute dürfen Demokratien nicht einfach die schmutzigen Methoden der Autokraten übernehmen, ohne sich selbst treu zu bleiben. Das Heilmittel darf nicht giftiger sein als die Krankheit. Strategien wie “Don’t feed the troll” (Trolle nicht füttern) oder gezielte Account-Sperren für Koordinatoren von Hasskampagnen sind legitim, aber Zensur im großen Stil oder staatliche Gegenpropaganda mit Lügen würden die eigene Glaubwürdigkeit zerstören. Stattdessen gilt es, Fakten mit überzeugenden Werten zu verbinden. Demokratische Werte – Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaat – müssen nicht trocken vorgetragen, sondern mit Leben gefüllt werden. Zum Beispiel gelang es dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (selbst mit Medienkompetenz ausgestattet) in den ersten Kriegstagen 2022, durch authentische Videobotschaften in den Straßen Kyivs ein globales Gegennarrativ zur russischen Invasionspropaganda zu setzen: Hier steht einer von euch, ein normaler Mensch, der für echte Werte kämpft. Solche emotional glaubwürdigen Appelle sind Gold wert im Info-Krieg, weil sie Vertrauen schaffen – ein Gut, das autoritäre Regime durch ihre notorischen Lügen irgendwann verlieren. Wie Pomerantsev schreibt: Propaganda mag kurzfristig wirken, aber sie hat eine Tendenz, sich selbst zu boomerangen, das Vertrauen zu untergraben. Das sah man z.B. in der COVID-Krise: Populisten, die das Virus leugneten, verloren schließlich viele Anhänger, als die Realität der Krankheit nicht mehr zu leugnen war. Wahrheit und Vertrauen sind also langfristig die stärksten Waffen der Demokratie.

Gegenwart und Zukunft: Abwehr, Anpassung, Angriff im Informationskrieg

Aus This is Not Propaganda und aktuellen Entwicklungen geht hervor, dass liberale Demokratien ihre Verteidigung hochfahren und zugleich offensiv um die öffentliche Meinung kämpfen müssen – auf neue Weise. Pomerantsev plädiert für einen Mehrsäulen-Ansatz:

  • Rechtliche und technische Abwehrmaßnahmen: Die “Zukunft beginnt hier”, wo Parlamente neue Regeln erarbeiten. Dazu zählen: Transparenzpflichten für soziale Netzwerke (wer schaltet politische Werbung für wen?), Regulierung von Bots und Fake-Accounts, Datenschutz gegen Mikrotargeting. Wenn Cambridge Analytica Millionen Profile auswerten konnte, dann müssen Demokratien entsprechende Schranken und Kontrollen einziehen – z.B. strenge Gesetze gegen den Missbrauch personenbezogener Daten im politischen Kontext. Ebenso wichtig: Wahlkampf- und Parteiengesetze anpassen (Foreign Agents Registrierung, Offenlegung von Online-Spenden und Kampagnen). Estland etwa hat nach 2007 (russische Cyberattacke) Pionierarbeit geleistet, Cyber-Abwehr in seine nationale Sicherheit zu integrieren. Die EU hat mit dem “Action Plan gegen Desinformation” erste Schritte getan (z.B. Code of Practice mit Plattformen). Dies muss vertieft werden – Pomerantsev regte im britischen Ausschuss sicherlich an, dass ein starker Regulator geschaffen wird, analog zu einer “digitalen Gesundheitsbehörde”, die kontinuierlich Desinformationskampagnen überwacht und enttarnt.
  • Gesellschaftliche Resilienz aufbauen: Hier kommen die “civic deserts” ins Spiel, die Pomerantsev erwähnt – Landstriche oder Milieus, wo es kaum zivilgesellschaftliches Leben gibt und damit fruchtbarer Boden für Extremismus. Das Gegenmittel: Bürgersinn fördern, lokale Gemeinschaften stärken. Beispielsweise kann man Bürgerversammlungen (Citizen Assemblies) zu kontroversen Themen veranstalten, so dass Menschen aus ihren “Echo-Kammern” herauskommen und einander zuhören. Schulen müssen Medienkompetenz lehren – nicht nur Faktencheck, sondern auch Empathie und Diskussionskultur. Ein informierter Bürger, der zudem in Vereinen oder lokalen Initiativen vernetzt ist, wird weniger anfällig für Troll-Narrative sein, weil er erlebte Realität und echte soziale Bindungen gegen deren “virtuelle Realitäten” setzen kann. Pomerantsev weist auf Beispiele hin: In der Ukraine konterten freiwillige Netzwerke von IT-Spezialisten russische Hacks, und durch die Einbindung normaler Bürger in die Verteidigung entstand ein landesweites Bewusstsein für das Problem – was Russland die Zähne zog. So etwas ließe sich adaptieren: z.B. “Freiwillige Fakten-Feuerwehren” in Gemeinden, die bei Wahlen auftauchende Gerüchte schnell richtigstellen (unterstützt von zentralen Stellen). Ein informierter, engagierter Bürger ist der beste Sensor und Filter gegen Desinformation – er meldet Lügen weiter, klärt im Freundeskreis auf etc. Dieses soziale Immunsystem gilt es zu stärken.
  • Offensive Strategie: eigene Narrative und Werte fördern: Demokraten dürfen das Feld der Gefühle nicht den Demagogen überlassen. Es gilt, die besseren Geschichten zu erzählen. Pomerantsevs Werke zeigen ja auf, dass Autoritäre mit Emotion und Identität punkten. Also muss man positive Emotionen und inklusive Identitäten anbieten: z.B. Erzählungen vom gelingenden Miteinander, Helden des Alltags, vom Wert der Wahrheit. Ein starkes Beispiel ist die #FactsMatter-Kampagne, die Journalisten als mutige Wahrheitskämpfer darstellt und so Vertrauen in Qualitätsmedien stärken will. Auch die Vermittlung von demokratischen Erfolgsstorys (z.B. wie Kooperation Pandemien eindämmt, wo Diktatoren versagen) gehört dazu. Letztlich müssen wir die Demokratie selbst “verkaufen”, aber ehrlich. So wie Delmer Nazi-Deutschland ein redliches Angebot machen wollte nach dem Motto: “Ergebt euch, dann könnt ihr überleben und wiederaufbauen”, brauchen heutige Demokratien ein Zukunftsnarrativ: Offene Gesellschaften ermöglichen Wohlstand, Frieden und Freiheit – schaut her, hier sind die Belege. Pomerantsev betont, dass im Informationskrieg Zynismus der Feind ist: Die Kreml-Strategie war oft, die Leute so zu verwirren, dass sie gar nichts mehr glauben (und sich zurückziehen). Dem muss man Hoffnung und Sinn entgegensetzen: “Doch, es gibt eine Wahrheit und sie lohnt sich. Doch, Engagement bewirkt etwas.” Projekte, die Bürgerbeteiligung erfolgreich zeigen, sind Gold wert. Zum Beispiel die Stadtverwaltung von Madrid (unter Manuela Carmena) führte Online-Mitbestimmung ein – zigtausende nahmen teil und es entstanden konkret umgesetzte Bürgerideen. Solche Erfolgsgeschichten sollten breit kommuniziert werden, um das Narrativ “Politiker tun eh, was sie wollen” zu entkräften.
  • Internationale Zusammenarbeit und Normsetzung: Ähnlich wie nach 1945 Regeln gegen Goebbels’sche Hetze (z.B. Anti-Genozid-Konvention, Menschenrechtscharta) erarbeitet wurden, braucht es im Digitalzeitalter neue Verhaltenskodizes. Das kann heißen: globale Abkommen für Social-Media-Konzerne (gegen staatliche Trollarmeen), Sanktionen gegen Desinformations-Täter (z.B. Sanktionierung russischer Medienmacher, was EU/NATO teilweise tun). Ebenso sollte die freie Welt Länderkontakte nutzen, um Menschen in geschlossenen Staaten Infos zugänglich zu machen (ähnlich wie früher Radio Free Europe) – aber modern, via Internetumgehung, VPN-Angebote, Satelliteninternet. Pomerantsev erwähnt, dass im Kalten Krieg westliche Sender die “Wetterlage in autoritären Staaten veränderten”, indem sie Wahrheit hinein strahlten. Heute könnten man Ähnliches mit digitalen Mitteln erreichen. Etwa durch Stützpunkte für unabhängige russische Journalisten im Exil, die dann via YouTube und Telegram russisches Publikum erreichen (was tatsächlich geschieht). Solche Ansätze verdienen Förderung, denn Informationskrieg heißt auch: Die Gegner auf ihrem Terrain herausfordern. So wie Delmer auf Deutsch im Naziland sendete, müssen heutige Demokraten Mandarine, Arabisch, Russisch sprechen und dort Fakten und humane Narrative verbreiten.

Zusammengefasst: Gewinnen werden wir den Informationskrieg, wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen und zugleich lernfähig bleiben. Pomerantsevs besonderer Beitrag ist, Brücken zwischen Historie und Gegenwart zu bauen. Sefton Delmer lehrt uns, dass Einfühlungsvermögen, Erfindungsreichtum und der Mut zum Narrativ kraftvolle Waffen sind – aber auch, dass nach dem Gefecht Wahrhaftigkeit und Versöhnung stehen müssen, damit der Sieg nachhaltig ist. Peter Pomerantsev selbst – Sohn sowjetischer Dissidenten – verkörpert die Idee, dass man Wahrheit und Freiheit immer wieder neu verteidigen muss, mit alten und neuen Mitteln. Seine Bücher enden nicht in Resignation, sondern in einem Aufruf: Die Zukunft beginnt hier und jetzt – sie hängt von unserem Handeln ab. Wir verfügen über das bessere “Heilmittel” für die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, die Propagandisten ausnutzen: ein demokratisches Miteinander, das Sinn stiftet, ohne zu lügen.

Um im Bilde zu bleiben: Wir müssen die Informations-See beruhigen, auf der die Demokratie in Seenot geraten ist. Das bedeutet, Leuchttürme der Wahrheit zu errichten, Rettungsboote der Gemeinschaft auszusenden und die Anker der Rechtsstaatlichkeit neu auszuwerfen. Pomerantsev zeigt uns die Gefahr, aber auch den Weg. Letztlich kann der Informationskrieg gewonnen werden, indem wir genau das verteidigen, was die Lügner uns nehmen wollen: unsere gemeinsame Realität, unsere Freiheit, und das Vertrauen zueinander. Wie es in How to Win an Information War sinngemäß heißt: Wenn Propaganda einsam macht und hetzt, dann muss Demokratie Gemeinschaft bieten und Sinn stiften – dann wird die Wahrheit auch gehört.