Dossier: Das souveräne Individuum – Der Übergang zum Informationszeitalter
Einleitung: Politische und ideologische Einordnung des Werks
Das souveräne Individuum von James Dale Davidson und Lord William Rees-Mogg (deutsch 2024 erschienen) ist ein Werk mit deutlich erkennbarer ideologischer Schlagseite. Es propagiert einen radikal libertären und techno-utopischen Blick auf die Zukunft: Die Autoren begrüßen den „Übergang zum Informationszeitalter“ als epochalen Umbruch, der das Individuum befreit und die Macht des Staates drastisch beschnitten wird . Zentrale Annahme ist, dass Mikroprozessor-Technologie den Nationalstaat „unausweichlich untergraben und zerstören“ wird und neue, dezentralisierte Gesellschaftsformen hervorbringt . Politische Institutionen, insbesondere die demokratischen Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts, sehen die Autoren als überholt und „räuberisch“ an . Sie zeichnen ein Zukunftsbild, in dem repräsentative Demokratie und Gleichheitsversprechen verschwinden und durch eine „neue Demokratie der Wahlfreiheit auf dem Cybermarktplatz“ ersetzt werden – mit anderen Worten: durch ein System, in dem Individuen als Kunden unter konkurrierenden Governance-Angeboten wählen. Diese Vision weist starke neoliberale bzw. marktlibertäre Züge auf, geht aber noch weiter: Der Staat soll faktisch durch den Markt ersetzt werden, Souveränität wird privatisiert und kommerzialisiert . Damit vertritt das Buch eine extrem anti-etatistische Haltung, die in Richtung Anarchokapitalismus tendiert.
Die ideologischen Narrative des Buches lassen sich klar erkennen. Davidson und Rees-Mogg argumentieren wiederholt, dass Gewalt und Zwang die treibenden Kräfte der Geschichte seien (“Logik der Gewalt”), und dass technologische Entwicklungen die „megapolitischen“ Bedingungen – also die Rahmenbedingungen dafür, wie Gewalt zur Durchsetzung von Macht und zur Ressourcenaneignung eingesetzt werden kann – verändern . Aus dieser technodeterministischen Perspektive leiten sie ab, dass mit sinkender Bedeutung physischer Gewaltmittel im Informationszeitalter der Staat seine Grundlage verliert. Ihre Sprache ist oftmals apokalyptisch-utopisch: Sie sprechen explizit davon, ihr Werk sei „apokalyptisch im ursprünglichen Sinne“ eines Enthüllens einer neuen geschichtlichen Epoche . Zugleich durchziehen polemische Begriffe und Zuspitzungen den Text. So wird der moderne Staat als „Nanny-Staat“ (Bevormundungsstaat) und als historischer Anachronismus dargestellt . Die Autoren setzen Demokratie mit Sozialismus gleich und bezeichnen den demokratischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts provokativ als effizientere Variante dessen, was der Kommunismus erreichen wollte – nämlich die nahezu vollständige Abschöpfung privaten Reichtums durch den Staat . Mit Begriffen wie „räuberische Steuersätze“ und dem Vergleich von westlichen Demokratien mit de-facto-Sozialismus machen sie eine eindeutig staatsskeptische, neoliberal-marktradikale Haltung deutlich .
Auffällig ist, dass die Autoren Gegenmeinungen kaum differenziert diskutieren, sondern meist durch historische Analogien oder vermeintliche Naturgesetze der Geschichte entkräften. Komplexität wird reduziert, indem große Narrative bemüht werden: etwa der Vergleich zwischen dem Zerfall der mittelalterlichen Kirche und dem bevorstehenden Ende des Nationalstaats . Widerspruch oder “konventionelles Denken” wird als kurzsichtig abgetan – so wie im Spätmittelalter die Menschen den Niedergang des Feudalsystems nicht erkannten, würden heutige Eliten die Anzeichen für das Ende der demokratischen Nationalstaaten übersehen . Kritik an der eigenen These taucht fast nur indirekt auf, indem die Autoren anticipieren, man könne ihre Prognosen für abwegig halten – um dann zu betonen, dass ihre Logik „nüchtern“ und „altmodisch“ rational sei . Der Tonfall wechselt zwischen analytisch-sachlich (etwa in historischen Exkursen) und visionär-pathetisch. Insbesondere wenn es um die Verheißungen der Cyber-Zukunft geht, schlagen die Autoren einen optimistischen, fast messianischen Ton an – so etwa mit einem Zitat, das den Cyberspace als „Vorbote intellektueller und wirtschaftlicher Freiheit“ feiert, die „alle autoritären Mächte der Welt auslöschen könnte“ . Andererseits finden sich drastische Warnungen vor den “düsteren” Begleiterscheinungen des Umbruchs, etwa einem Anstieg der Kriminalität und Chaos während des Übergangs (die „neuen Barbaren“ und „Neoludditen“) .
Insgesamt dominiert eine elitäre und antiegalitäre Perspektive: Gesellschaftliche Gleichheit wird als Fehlentwicklung des Industriezeitalters gesehen, die nun enden werde . Die Autoren sympathisieren offen mit einer neuen digitalen Elite von Kapitalbesitzern und Wissensarbeitern, welche künftig ihre Verdienste behalten und der Besteuerung entgehen sollen . Die breite Masse, insbesondere gering Qualifizierte, kommen im Weltbild des Buches schlecht weg: Sie werden als träge, überversorgt und den Anforderungen der Zukunft nicht gewachsen geschildert – teils mit polemischer Schärfe (so zitieren die Autoren zustimmend den US-Autor Bill Bryson, der funktionale Analphabeten als „so dumm wie Schweinesabber“ bezeichnet) . Empathie oder soziale Lösungsansätze sucht man vergebens; stattdessen herrscht ein sozialdarwinistischer Unterton: Die Tüchtigen werden sich befreien und profitieren, während traditionelle Mehrheiten ihren Einfluss verlieren. Komplexe Wechselwirkungen oder positive Aspekte staatlicher Gemeinwesen blendet das Buch weitgehend aus – etwa wird Demokratie auf die Formel reduziert, sie sei nur erfolgreich gewesen, weil sie dem Staat erlaubte, effizienter Ressourcen zu konfiszieren . Insgesamt ist die Sprache der Autoren zwar gebildet und referenzreich – es wimmelt von historischen Anekdoten, Zitaten und Querverweisen – doch immer im Dienst einer klaren Agenda. Sachlich-neutrale Analyse wechselt mit polemischer Zuspitzung, wenn es darum geht, den Nationalstaat als Auslaufmodell und moralisch bankrotten Akteur darzustellen (“räuberisch”, “Parasiten”, “Körperfresser” etc. ). Diese Mischung aus intellektuellem Duktus und ideologischem Eifer macht deutlich, dass das Buch eine Streitschrift des libertären Zukunftsdenkens ist, weniger eine ausgewogene Zukunftsstudie.
Im Folgenden wird das Werk kapitelweise zusammengefasst. Jedes Kapitel wird im Kontext der Gesamtthesen beleuchtet, zentrale Inhalte und Narrative werden dargestellt und durch prägnante Originalzitate belegt. Historische Bezüge und Beispiele der Autoren werden angeführt, um ihre Argumentationsmuster zu illustrieren. Abschließend folgt eine Gesamtbewertung zur aktuellen Relevanz und ideologischen Einordnung des Buches.
Kapitel 1 – Der Übergang in das Jahr 2000
Zentrale Thesen: Gleich im ersten Kapitel entwerfen Davidson und Rees-Mogg ein endzeitliches Stimmungsbild der 1990er Jahre: Die Welt stehe an der Schwelle zu einem beispiellosen Umbruch, „dem Ende von allem, was wir kennen“, gefolgt von etwas fundamental Neuem . Die Autoren verweisen auf die weitverbreitete Millenniumsangst – von Nostradamus’ Prophezeiungen über den Weltuntergang bis zur Hysterie um den Y2K-Computerfehler – um die gespannte Atmosphäre am Vorabend des Jahres 2000 zu skizzieren . In dieser „Dämmerung des Jahrtausends“ diagnostizieren sie einen Umschwung von optimistischem Fortschrittsglauben hin zu diffuser Unruhe und Zukunftsangst in den westlichen Gesellschaften . Vor diesem Hintergrund verkünden die Autoren ihre Kernbotschaft: „Wir sind der Überzeugung, dass die moderne Phase der westlichen Zivilisation ihrem Ende entgegengeht“ . Ein neues Zeitalter – das Informationszeitalter – stehe unmittelbar vor seiner Enthüllung (griechisch Apokalypsis) .
Narrative und Argumentationsmuster: Kapitel 1 nutzt stark apokalyptische Narrative und Bezüge zur religiösen und mythologischen Symbolik. So zitieren die Autoren etwa das biblische Evangelium nach Matthäus („nichts Verborgenes, das nicht ans Licht gebracht wird“) , um ihren Anspruch zu untermauern, kommende Veränderungen aufzudecken. Gleichzeitig verorten sie sich in der Tradition vergangener Propheten und Prognostiker: Von mittelalterlichen Theologen über Isaac Newton bis Carl Jung werden Beispiele dafür angeführt, wie Menschen früherer Epochen das Jahrtausendende als bedeutsam oder unheilschwanger ansahen . Dieser historische Rückblick relativiert zwar die damals aktuelle Jahr-2000-Hysterie (Y2K), dient aber vor allem dazu, die eigene Prognose als kühn, aber notwendig darzustellen – nach dem Motto: Früher lachte man auch über Prophezeiungen, doch diesmal liegen wir richtig. Die Sprache in diesem Abschnitt ist bewusst dramatisch und bildreich: Unsichtbare Vorboten eines Gewitters, spürbar in der Atmosphäre, sollen die nahende „tiefgreifende Umwälzung“ ankündigen . Die Autoren sprechen von einem „mörderischen Jahrhundert“, das zu Ende geht, und einem „glorreiches Jahrtausend“ menschlicher Errungenschaften, das nun abschließe – Pathos, der den Übergang als gigantische historische Zäsur erscheinen lässt.
Befreiung des Individuums und Ende des Nationalstaats: Nach dieser stimmungsvollen Einleitung werden die Hauptthesen direkt benannt. Davidson und Rees-Mogg definieren das Informationszeitalter als „vierte Stufe“ der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, nach der Jäger-und-Sammler-, der Agrar- und der Industriegesellschaft . Jede Phase sei durch eine spezifische Logik der Gewalt gekennzeichnet; im Informationszeitalter werde diese Logik zugunsten des Individuums verschoben. Zitat: „Mit einer Geschwindigkeit, die nur wenige vorhersehen können, wird die Mikroprozessortechnik den Nationalstaat untergraben und zerstören und dabei neue Formen der sozialen Organisation hervorbringen“ . Dies ist eine der zentralen Aussagen des ganzen Buches. Die Autoren stellen den kommenden Wandel als etwas unausweichlich Technologisches dar – nahezu naturgesetzlich. Allerdings fügen sie hinzu: „Diese Entwicklung wird keineswegs ohne Komplikationen verlaufen.“ Bereits hier deutet sich an, dass der Übergang nicht friedlich oder linear verlaufen wird, was später im Buch ausführlicher ausgeführt wird (Stichwort „neue Barbaren“ und Chaos).
Relevante Zitate und Begriffe: Ein prägnantes Zitat fasst die Vision dieses Kapitels zusammen: „Wir sind der Ansicht, dass eine neue Geschichtsepoche – das Informationszeitalter – kurz vor seiner ‘Enthüllung’ steht.“ . Die Autoren verwenden das Wort Enthüllung in Anspielung auf die Offenbarung (Apokalypse), was ihre ganze Haltung illustriert – sie sehen sich als Künder einer Wahrheit, die sich bald manifestieren wird. Ebenfalls wichtig ist der Begriff “vierte Stufe der menschlichen Gesellschaft”, mit dem sie ihre geschichtsphilosophische Einordnung geben . Diese Stufentheorie der Geschichte wird im Buch mehrfach referenziert, z.B. wenn historische Analogien bemüht werden (etwa die Ablösung des Feudalismus durch die Moderne). Ferner fällt bereits in Kapitel 1 der Begriff “Cyberspace” (angelehnt an William Gibson), den sie als virtuelle, allgegenwärtige Sphäre beschreiben, die der Kontrolle von Tyrannen entzogen sei – ein erster Hinweis auf den entstehenden digitalen Raum als Refugium der Freiheit.
Umgang mit Gegenmeinungen: Interessant ist, dass die Autoren schon in Kapitel 1 potenzielle Skeptiker ansprechen: Die alten apokalyptischen Voraussagen, die sich nicht erfüllten (etwa Jüngstes Gericht im Jahr 1000 oder Nostradamus’ Antichrist 1999), könnten zu Spott einladen . Davidson und Rees-Mogg räumen ein, dass solche Prophezeiungen leicht belächelt werden können . Doch anstatt an ihrer eigenen Prognose zu zweifeln, nutzen sie dies als Kontrast, um ihr eigenes „nüchternes“ Herangehen zu betonen. Sie verurteilen die Y2K-Angst nicht einfach als Hysterie, sondern deuten an, dass – berechtigt oder nicht – solche Phänomene ein Symptom dafür sind, dass „mehr als nur gewöhnliche Zweifel“ an der Zukunft angebracht sind . So drehen sie die möglichen Einwände (Apokalypse-Übertreibung) geschickt um: Wenn selbst rationale Menschen wie Ökonomen Y2K als Gefahr sahen, dann dürfe man die wirklich tiefgreifenden Anzeichen erst recht nicht ignorieren.
Dominierende Sprachebene: In Kapitel 1 herrscht eine utopisch-prophetische Sprachebene vor, durchsetzt mit sachlichen Beobachtungen. Die Autoren zitieren Denker wie den Computerpionier Danny Hillis („Es fühlt sich an, als stünde etwas Großes bevor… die Singularität. Das Ende von allem, was wir kennen.“ ) oder den Cyberspace-Vordenker Michael Grasso, der den Cyberspace als „säkuläres Paradies“ mit unbegrenzten Gemeinschaften schildert . Solche Zitate dienen als Stimmungsmacher. Ihnen gegenüber stehen nüchterne Feststellungen der Autoren, z.B. die Einordnung des kommenden Wandels als größte politische und ökonomische Veränderung seit Jahrhunderten . Im Wechsel dieser Tonlagen – visionär und analytisch – setzen Davidson und Rees-Mogg bereits im ersten Kapitel den Ton für das gesamte Buch: eine Mischung aus wissenschaftlich anmutender Geschichtsbetrachtung und fast missionarischem Zukunftsentwurf.
Kapitel 2 – Megapolitische Veränderungen im historischen Kontext
Zentrale Thesen: In Kapitel 2 weiten die Autoren den Blick und ordnen den bevorstehenden Umbruch in die lange Dauer der Geschichte ein. Ihre Hauptthese hier: Die moderne Weltordnung (sprich: das Zeitalter der Nationalstaaten und der Massenindustrie) verfällt einer „gnadenlosen, aber verborgenen Logik“, die ihr Ende herbeiführt . Das nächste Jahrtausend werde „nicht mehr ‘modern’ sein“, sondern qualitativ anders . Davidson und Rees-Mogg argumentieren, dass wir einen Epochenbruch erleben, ähnlich fundamental wie der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. So wie damals niemand das eigene Zeitalter als „mittelalterlich“ erkannte, weil der Begriff erst in der Renaissance geprägt wurde, seien wir heute blind gegenüber dem Ende des „Modernen“ . In diesem Kapitel führen sie den Begriff der “megapolitischen Veränderungen” ein: Gemeint sind strukturelle Verschiebungen der Machtfaktoren (Technologie, Demografie, Ressourcen), die ganze Gesellschaftsordnungen umwälzen. Die Autoren behaupten, der moderne Nationalstaat habe sich über Jahrhunderte halten können, weil die Renditen der Gewalt hoch und steigend waren – sprich: Große staatliche Gebilde konnten durch militärische Macht und Massenorganisation enorme Vorteile erzielen . Doch diese Ära sei vorbei. Seit dem späten 20. Jahrhundert sinken die Erträge organisierter Gewalt rapide, was das Fundament der bisherigen Ordnung untergräbt . Als symbolisches Datum für diesen Wendepunkt nennen sie insbesondere den Fall der Berliner Mauer 1989 oder den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 . Rückblickend, so spekulieren sie, könnte ein zukünftiger Historiker feststellen, dass „das moderne Zeitalter bereits zu Ende gegangen ist, während Sie gerade dieses Buch lesen“ .
Historische Narrative und Analogien: Die Autoren untermauern ihre Thesen in Kapitel 2 mit zahlreichen historischen Analogien. Ein zentrales Motiv ist der Vergleich zwischen dem Ende des Mittelalters und dem Ende der Moderne. Sie zitieren den Historiker Johan Huizinga, der die Chronisten des 15. Jahrhunderts als „Dummköpfe einer absoluten Fehleinschätzung ihrer Zeit“ bezeichnete, weil sie die wahren Veränderungskräfte nicht erkannten . Genauso – so die Parallele – klaffe heute eine gewaltige Lücke zwischen den überlieferten Mythen (z.B. dass Demokratie und nationale Souveränität ewig währende Prinzipien seien) und der Realität der schwindenden Staatsmacht . Ein markantes Zitat illustriert diese Analogie: „Die Vorstellung, dass der Lauf der Geschichte durch demokratische Abstimmungen bestimmt wird, ist genauso albern wie die mittelalterliche Vorstellung, dass sie durch … Ritterlichkeit bestimmt wird.“ . Indem sie die demokratische Willensbildung als Fiktion entlarven, die ähnlich wie der Ehrenkodex der Ritter nur der Legitimierung einer bestimmten Machtordnung diente, bereiten die Autoren argumentativ das Feld für ihre späteren Angriffe auf die Demokratie (Kapitel 10).
Ferner nutzen Davidson und Rees-Mogg technologische Meilensteine als Marker für Epochenwechsel: So verweisen sie auf die Einführung des Schießpulvers um 1500, die das Ende des Feudalismus einläutete – in ihren Worten „die erste Explosion der Schießpulverrevolution … markierte das Ende der feudalen Phase“ . Analog dazu stehe der Fall der Berliner Mauer für das Ende der Industrieära: „Der Fall der Berliner Mauer markiert … den Übergang vom Industriezeitalter zum neuen Informationszeitalter.“ . Die Berliner Mauer habe einen “so großen symbolischen Triumph der Effizienz über die Macht” verkörpert, da sie zeigte, dass selbst ein gigantischer Gewaltapparat (Ostblock) einem ökonomisch effizienteren System (Westen) unterlag . Diese Interpretation – Effizienz schlägt Gewalt – untermauert die Kernthese, dass im Informationszeitalter Produktivität und Technologie wichtiger sein werden als konventionelle militärische Stärke.
Mythen und ihre Entlarvung: Das Kapitel demaskiert herrschende Mythen der Moderne aus Sicht der Autoren. Dazu gehört vor allem der Mythos der unbegrenzten Leistungsfähigkeit des Nationalstaats. Die Autoren führen aus, dass der Nationalstaat in seiner Blütezeit (ca. 1500–2000) tatsächlich enorm erfolgreich war: Er eliminierte interne Fehden, schuf Sicherheit und wurde „zum erfolgreichsten Instrument der Geschichte für die Aneignung von Ressourcen“, indem er die Reichtümer seiner Bürger abschöpfte . Aber diese Erfolgsgeschichte basierte eben auf bestimmten megapolitischen Bedingungen (u.a. Massenheere, territoriale Kontrolle, industrielle Massenproduktion), die nun im Schwinden begriffen sind. Ironie und Überspitzung kommen hier zum Einsatz, um die Abnutzung der alten Ordnung zu illustrieren. Ein Beispiel: „Die Zivilisation, die Ihnen den Weltkrieg, das Fließband, die soziale Sicherheit, die Einkommensteuer, das Deodorant und den Minibackofen brachte, stirbt aus. Das Deodorant und der Minibackofen könnten überleben. Die anderen nicht.“ . Mit dieser auf den ersten Blick humorvollen Aufzählung (die existenziellen wie banalen Errungenschaften nebeneinander stellt) machen die Autoren pointiert klar, dass Kerninstitutionen des 20. Jahrhunderts (Weltkrieg als politisches Projekt, Sozialstaat, Einkommenssteuer) auf dem Prüfstand stehen. Was bleibt vom 20. Jahrhundert? – Vielleicht nur der Toaster und das Deo, so der sarkastische Unterton. Diese Polemik zielt darauf ab, dem Leser die Vergänglichkeit scheinbar selbstverständlicher Institutionen vor Augen zu führen.
Tabu der Zukunftsprognose: Ein weiterer gedanklicher Kunstgriff in Kapitel 2 ist der Hinweis darauf, dass es sozusagen “tabu” sei, das Ende des eigenen Systems zu denken . Die Autoren behaupten, jede Gesellschaft enthalte ein Tabu, sich den Zusammenbruch ihrer eigenen Ordnung vorzustellen – so wie auch im Mittelalter niemand das nächste System erdenken konnte, weil man in der Vorstellungswelt der eigenen Zeit gefangen sei . Indem Davidson und Rees-Mogg dieses Tabu benennen, stilisieren sie sich selbst zu Ketzerndenken im positiven Sinne: Sie brechen bewusst die Konvention, das Bestehende (den Nationalstaat, die Demokratie) als gegeben hinzunehmen. Dies verleiht ihrer Argumentation einen gewissen rebellischen Anstrich – sie positionieren sich als diejenigen, die aus der Außenperspektive auf das System schauen und dadurch klarer sehen. Hier schwingt implizit eine Kritik an Mainstream-Intellektuellen mit, denen eine Art Betriebsblindheit unterstellt wird.
Sprachebene und Belege: Kapitel 2 bewegt sich sprachlich zwischen wissenschaftlich-historischer Abhandlung und pointierter Essayistik. Es werden viele Historiker zitiert (Huizinga, I. F. Clarke, John B. Morrall, Carroll Quigley u.a.), um den Anschein akademischer Fundierung zu erwecken . Gleichzeitig sind die Schlussfolgerungen zugespitzt formuliert. Eine bildhafte Metapher ist z.B. die vom „alten, einst mächtigen Mann“ Nationalstaat, dessen Zukunft nur noch in Jahren und Tagen gemessen sei . Auch die „blinden Flecken menschlicher Kulturen“ werden erwähnt – der fehlende Wortschatz, um Paradigmenwechsel zu beschreiben . Diese fast literarische Sprache soll dem Leser vermitteln, dass etwas Unaussprechliches im Gange ist, das erst benannt werden muss. Insgesamt untermauert Kapitel 2 die im ersten Kapitel aufgestellten Behauptungen, indem es sie historisch relativiert: Was heute geschieht, so die Botschaft, ist kein isoliertes Wunder, sondern reiht sich in Muster ein, die man z.B. beim Niedergang Roms oder des Feudalismus beobachten konnte. Dies verleiht der Prognose ein Gefühl von Zwangsläufigkeit.
Zwischenfazit Kapitel 2: Die Autoren bereiten hier argumentativ den Boden: Die Moderne – definiert durch Nationalstaat, Massendemokratie und industrielle Massenproduktion – ist historisch betrachtet nur eine Episode, die unter spezifischen Umständen florierte. Diese Umstände ändern sich gerade radikal (durch Technologie und Globalisierung), weshalb das Fortbestehen des Alten unwahrscheinlicher wird als die Geburt von etwas Neuem. Dieser historisierende Zugang untermauert die ideologische Stoßrichtung: Wenn Nationalstaat und Demokratie nur Produkte bestimmter Waffen- und Kommunikationsbedingungen waren, gibt es keinen Grund, sie als „Ende der Geschichte“ zu betrachten – vielmehr erscheinen sie als entstehungs- und somit auch wieder vergehbar.
Kapitel 3 – Östlich von Eden: Die Landwirtschaftliche Revolution und die Kultivierung der Gewalt
Zentrale Thesen: In Kapitel 3 wechseln Davidson und Rees-Mogg in die tiefe Vergangenheit, um ihre Theorien zu untermauern. Sie zeichnen die Landwirtschaftliche Revolution vor ca. 10.000 Jahren als erstes Beispiel dafür nach, wie eine Veränderung der ökonomischen Basis und der Logik der Gewalt die gesamte Gesellschaftsordnung transformierte. Die Kernthese lautet: Mit dem Übergang von nomadischen Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern stieg die Bedeutung von Gewalt und Hierarchie sprunghaft an. Landwirtschaft erlaubte die Produktion von Überschüssen und Eigentum – und damit entstand ein Anreiz zur Gewaltanwendung, um diese Überschüsse zu kontrollieren. Die Autoren schreiben: „Überall dort, wo die Landwirtschaft Wurzeln schlug, wurde Gewalt zu einem wichtigeren Merkmal des sozialen Lebens. Hierarchien… begannen, die Gesellschaft zu dominieren.“ . In ihrer Darstellung ist die neolithische Revolution also auch eine Gewaltrevolution: Der sanfte Titel „Östlich von Eden“ spielt ironisch darauf an, dass mit der Vertreibung aus dem (Jäger-und-Sammler-)Paradies Eden auch die Unschuld verlorenging – Kain erschlug Abel (Genesis 4,9-10, eine Bibelstelle, die dem Kapitel voransteht ), und fortan prägten Kampf und Unterwerfung die menschlichen Gemeinwesen.
Narrative und historische Bezüge: Dieses Kapitel ist reich an anthropologischen und historischen Details. Die Autoren schildern ausführlich, wie Jäger-und-Sammler-Gruppen lebten: Kleinstgruppen von 20–50 Personen, die nur in sehr geringer Bevölkerungsdichte existieren konnten, da sie andernfalls ihr Gebiet leergejagt hätten . Sie stellen fest, dass die Menschheit zu 99% ihrer Geschichte in dieser Lebensweise verharrte, in einem „prähistorischen Dornröschenschlaf“, in dem sich Generation um Generation kaum etwas änderte . Diese fast idyllische, statische Urzeit kontrastieren sie mit der langsame Revolution des Ackerbaus: Obwohl diese Übergangszeit Jahrtausende dauerte, rechtfertigen die Autoren den Begriff Revolution, da sich prinzipiell alles änderte – insbesondere das Gewaltpotential. Eindringlich formulieren sie: „Es mag übertrieben erscheinen, einen Prozess, der über Jahrtausende stattfand, als ‘Revolution’ zu bezeichnen. Dennoch war genau das der Beginn der Landwirtschaft: eine langsame Revolution, die das menschliche Leben veränderte, indem sie die Logik der Gewalt veränderte.“ .
Der Titel „Östlich von Eden“ wird durch den Untertitel „Kultivierung der Gewalt“ erläutert: Mit dem cultivieren des Bodens begann auch das Kultivieren der Gewalt – Gewalt wurde systematisch eingesetzt und gesellschaftlich verankert. Die Autoren greifen auch hier auf biblische Mythen zurück, um ihrem Narrativ Nachdruck zu verleihen. Die Geschichte von Kain und Abel (der Ackerbauer erschlägt den Hirtenbruder) symbolisiert den Auftritt von Mord und Besitzansprüchen im Gefolge der Sesshaftwerdung . Solche mythischen Anspielungen verleihen dem Text literarische Tiefe, sind aber zugleich Teil der Argumentation: Sie suggerieren, dass gewisse Entwicklungen quasi archetypisch und unvermeidbar sind – als hätte schon die Bibel gewusst, dass mit dem Ackerbau Zwietracht einzieht.
Analogie zur Informationsrevolution: Warum dieses Exkurs in die Frühgeschichte? – Die Autoren ziehen eine deutliche Parallele zwischen der landwirtschaftlichen Revolution und der anstehenden Informationsrevolution. Wörtlich: „Das Verständnis der Agrarrevolution ist der erste Schritt zum Verständnis der Informationsrevolution.“ . Sie sehen die Einführung von Ackerbau als Paradigma dafür, „wie eine scheinbar einfache Verschiebung in der Beschaffenheit von Arbeit die Organisation der Gesellschaft radikal verändern kann“ . Indem sie detailliert darlegen, wie Ackerbau neue Herrschaftsstrukturen (Stammesfürsten, Könige, stehende Heere usw.) erforderlich machte, wollen sie den Leser darauf vorbereiten, dass auch die Digitalisierung und Vernetzung der Wirtschaft neue Strukturen (und Freiheiten) hervorbringen wird. Im Umkehrschluss implizieren sie: So wie niemand 10.000 v. Chr. in einer Jägergruppe sich die künftigen Reiche und Imperien vorstellen konnte, so können sich heute nur wenige ausmalen, was die nächste gesellschaftliche Phase bringt – außer natürlich die Autoren selbst, die diese Vorausschau wagen.
Gewalt und Staatlichkeit: Kapitel 3 liefert auch eine Theorie der Entstehung von Staatlichkeit. Durch den Ackerbau konnten Menschen erstmals Überschüsse erwirtschaften und gebietsgebundene Reichtümer anhäufen (Ernten, Vieh, Land selbst). Dies machte es attraktiv, andere anzugreifen, Reichtum zu erbeuten oder zu beherrschen. Die Autoren betonen, dass in allen Gebieten, wo Landwirtschaft Fuß fasste, die durchschnittliche Gewaltbereitschaft und die Vorteile von Gewalt stiegen . Das führte zur Ausbildung von Hierarchien, die auf Gewaltkontrolle basierten – de facto den ersten proto-staatlichen Strukturen. Mit der Metapher „Kultivierung der Gewalt“ wird deutlich gemacht, dass Gewalt nun wie ein Feld bestellt werden konnte: organisiert, geplant, systematisch. Diese Sichtweise entspricht der klassischen Idee, dass der Staat das Gewaltmonopol an sich zieht – nur bewerten Davidson und Rees-Mogg dies nicht als zivilisatorischen Fortschritt (wie es etwa Hobbes oder Weber taten), sondern als eine Art geschichtliches “Übel”, das zwar effizient war, aber auch Freiheitsverlust bedeutete.
Prägnante Zitate: Ein Schlüsselsatz aus diesem Kapitel lautet: „Hierarchien, die geschickt darin waren, Gewalt zu manipulieren oder zu kontrollieren, begannen, die Gesellschaft zu dominieren.“ . Dies könnte man als eine Art Definition von Herrschaft oder Frühstaat lesen. Ein weiteres Zitat, das den Bogen zur heutigen Zeit schlägt, ist: „Schaut man diese vergangene Revolution im richtigen Licht an, ist man viel besser in der Lage, Vorhersagen zu treffen, wie die Geschichte sich aufgrund der neuen Logik der Gewalt entwickeln könnte, die mit Mikroprozessoren eingeführt wurde.“ . Hier nehmen die Autoren explizit für sich in Anspruch, aus dem historischen Beispiel konkrete Prognosen für die Zukunft ableiten zu können. Diese Gleichsetzung struktureller Muster – Ackerbau zu seiner Zeit und Mikrochip heute – ist fundamental für die Argumentation des Buches.
Wissenschaftliche Anleihen: Die Autoren stützen sich auf anthropologische Befunde (z.B. zitieren sie Stephen Boyden für Zahlen zur Gruppengröße von Jägern oder Details zur Ernährung von Eskimos ). Dadurch verleihen sie ihrer Erzählung Glaubwürdigkeit. Allerdings werden diese Fakten immer zielgerichtet eingesetzt, um ihre These zu untermauern: So dient die Beschreibung, dass Jägergruppen sehr klein sein mussten und kaum Eigentum kannten , dem Zweck zu zeigen, wie radikal anders und konfliktreicher das Leben in größeren, sesshaften Gemeinschaften wurde.
Sprachebene: Kapitel 3 ist überwiegend sachlich und deskriptiv geschrieben, um dem Leser ein Bild der prähistorischen Lebensweise zu vermitteln. Doch auch hier fehlt es nicht an eindringlichen Formulierungen, etwa wenn sie den prähistorischen Zustand als „langen prähistorischen Dornröschenschlaf“ bezeichnen – eine märchenhafte Metapher, die den plötzlichen „Weckruf“ der Landwirtschaft kontrastiert. Bibelzitate (Genesis) und Farbanalogien (Vertreibung aus Eden) sorgen erneut für eine leicht archaisch-mythologische Färbung. Alles in allem erfüllt Kapitel 3 eine legitimatorische Funktion: Es zeigt, dass tiefgreifende gesellschaftliche Revolutionen historisch schon einmal stattgefunden haben und damals zu einer enormen Machtverschiebung führten. Somit erscheint es plausibel, dass die heutige technologische Revolution ebenso dramatische Folgen – nur diesmal zugunsten des Individuums – haben wird.
Kapitel 4 – Die letzten Tage der Politik: Parallelen zwischen dem altersschwachen Niedergang der Heiligen Mutter Kirche und dem Nanny-Staat
Zentrale Thesen: In Kapitel 4 wenden die Autoren ihren Blick auf die Politik als Institution und verkünden deren nahendes Ende. Sie ziehen eine provokante Parallele: So wie im Spätmittelalter die allmächtige katholische Kirche an Legitimation verlor und schließlich durch Reformation und Säkularisierung entmachtet wurde, so stehe nun der moderne “Nanny-Staat” (Fürsorgestaat) vor dem Niedergang . Die Kernthese: Politik, wie wir sie heute kennen, ist eine historisch zeitgebundene Erscheinung des Industriezeitalters und wird mit diesem zusammen verschwinden. „Vom bevorstehenden Tod der Politik zu sprechen, kann je nach Veranlagung lächerlich oder optimistisch erscheinen. Doch genau das ist es, was die Informationsrevolution wahrscheinlich bringen wird.“ . Die Autoren behaupten, Politik im modernen Sinne (Parteienwettbewerb, staatliche Gesetzgebung etc.) habe vor der Neuzeit praktisch nicht existiert und sei erst erfunden worden, als die Bedingungen – namentlich die stark gestiegenen Renditen der Gewalt durch Waffentechnologien wie Schießpulver – dies erforderlich machten . Mit dem Aufkommen großer Nationalstaaten und stehender Heere sei es plötzlich entscheidend geworden, wer den Staat kontrollierte, und daraus sei die moderne Politik geboren. Nun jedoch, da im Informationszeitalter die Macht des Staates schrumpft, werde auch Politik als gesellschaftliches Hauptthema obsolet. Die Autoren schreiben: „Wir glauben, dass [die Politik] mit der modernen Welt enden wird, so wie … die Verpflichtungen, die die Aufmerksamkeit der Menschen im Mittelalter in Anspruch nahmen, mit dem Mittelalter endeten.“ .
Argumentationsgang: Kapitel 4 beginnt mit einem Zitat von Arthur C. Clarke, das bereits den Ton setzt: Clarke hoffte, dass Politik und Wirtschaft in Zukunft nicht mehr so wichtig sein werden wie in der Vergangenheit, und dass unsere heutigen Debatten irgendwann trivial erscheinen mögen – genauso trivial wie die theologischen Dispute des Mittelalters uns heute vorkommen . Dieses Zitat spiegelt genau die Sicht der Autoren wider. Sie bekräftigen es mit dem Hinweis, dass der Begriff „Politik“ im Mittelalter tatsächlich keine gebräuchliche Kategorie war . Historisch belegbar tauchte das Wort „Politik“ im heutigen Sinne erst im 16. Jahrhundert auf, und war zunächst sogar ein Schimpfwort (für Ränkeschmiederei) . Diese historischen Details sollen zeigen, dass Politik als eigenständige Sphäre eben nicht naturgegeben ist, sondern ein Produkt bestimmter Umstände.
Die Autoren führen das weiter aus: Erst als die Feuerwaffen die militärische Beute stark vergrößerten, wurde der Kampf um die Kontrolle des Staates – also Politik – zentral . „Die Politik begann vor fünf Jahrhunderten mit der Frühphase der Industrialisierung. Jetzt liegt sie im Sterben.“ . Hier formulieren sie eine klare historische Periodisierung: 1500–2000: Zeitalter der Politik; nach 2000: Post-Politik-Ära. Dass Politik „im Sterben liegt“, versuchen sie mit Zeitdiagnosen zu untermauern. So verweisen sie auf die weltweit um sich greifende Verdrossenheit und Verachtung gegenüber Politikern. Sie listen eine beeindruckende Reihe von Skandalen der 1990er Jahre auf: Von Whitewater und dem Mord an Vince Foster (USA) über Rücktritte in John Majors Umfeld (UK), Mafia-Verbindungen Giulio Andreottis (Italien), Korruption um Willy Claes (NATO), bis hin zur schwedischen Vize-Ministerpräsidentin Mona Sahlin, die wegen privater Einkäufe mit der Regierungskreditkarte (Windeln und Pralinen) zurücktreten musste . Quer über den Globus finden die Autoren Beispiele, dass „fast überall … die Menschen ihre politischen Führer hassen“ . Diese Aufzählung dient dazu, einen verallgemeinerten Vertrauensverlust in politische Institutionen zu belegen – vergleichbar der wachsenden Empörung über die Korruption der mittelalterlichen Kirche kurz vor der Reformation.
Parallele zur Kirche: Besonders hervorzuheben ist der kunstvolle Vergleich zwischen dem damaligen Klerus und heutigen Politikern. Die Autoren sprechen von „Verachtung als Frühindikator“ – so wie im späten 15. Jahrhundert die Leute die Kirchenoberen verabscheuten (wegen Ablasshandel, Sittenverfall etc.), so verachten heute viele ihre Regierungen . Diese Moralische Empörung sei stets der Vorbote eines Systemwechsels. Im Falle der Kirche folgte darauf die Reformation und eine „Revolution des gesunden Menschenverstands“, die das Undenkbare (Religionsfreiheit, Zölibatsbruch etc.) plötzlich denkbar machte. Davidson und Rees-Mogg erwarten analog eine Revolution des Denkens im politischen Bereich: Was heute als selbstverständlich gilt – dass es z.B. Staaten geben muss, die uns regieren – könnte morgen obsolet sein.
Sie nennen auch konkret einige Erwartungen: Mit dem Niedergang der Politik rechnen sie z.B. mit der Auflösung bislang unantastbarer staatlicher Funktionen. Etwa würden Regierungen gezwungen sein, künftig wie Unternehmen um Kunden (Steuerzahler) zu konkurrieren und nur noch Leistungen anzubieten, für die die Bürger wirklich zu zahlen bereit sind . Hier klingt eine Marktlogik an: Der Staat der Zukunft – falls es ihn noch gibt – muss sich legitimieren wie ein Dienstleister. Dies ist ein klares libertäres Ideologem, das die Autoren in das historische Narrativ einweben.
Sprache und Ton: Kapitel 4 kombiniert analytische Geschichtsdeutung mit scharfer Polemik. Wenn sie etwa sagen, „der demokratische Wohlfahrtsstaat stellte sogar noch mehr Ressourcen in die Hände des Staates als es die kommunistischen Systeme tun konnten“, sei das „durchaus bemerkenswert“, bedenkt man doch, dass Kommunisten nominell alles verstaatlichten . Solche Vergleiche (Demokratie = verkappter Sozialismus) sind rhetorisch gewagt, aber prägnant. Die Abwertung des Politischen zeigt sich auch in Wortwahl: Politik wird als „Beschäftigung mit der Kontrolle und Rationalisierung der Staatsgewalt“ definiert und als „größtenteils moderne Erfindung“ abgetan . Für Politiker finden sie Ausdrücke wie “Opportunisten und Rückgratlose” (eine historische Bedeutung des Wortes politique im Altfranzösischen) .
Gleichzeitig ist der Ton teilweise sarkastisch-unterhaltsam: Die Anekdote um Mona Sahlin und die Windeln auf Staatskosten führt dem Leser mit einem Augenzwinkern vor, wie banal und lächerlich Politik sein kann, wenn sie auf solche Skandälchen reduziert ist. Der Subtext: Diese Leute da oben sind korrupt und kleinlich – warum sollten wir ihnen noch Macht überlassen?
Narrative Muster: Wie in den vorigen Kapiteln arbeiten die Autoren mit einer historischen Schablone: mittelalterliche Kirche = heutiger Staat. Sie sprechen sogar explizit von „Parallelen zwischen Ritterlichkeit und Staatsbürgerschaft“ . Dort argumentieren sie, dass die Ritter-Eide im Feudalismus eine ähnliche Funktion hatten wie das Bürgerschafts-Konzept im Nationalstaat: Beide dienten der Legitimation von Herrschaft unter spezifischen Umständen . Wie die Ritterideale verschwanden, als Schießpulver das feudale Gefüge sprengte, so werde die Idee von Staatsbürgerschaft und patriotischer Loyalität schwinden, wenn die megapolitischen Bedingungen des Informationszeitalters es erlauben, dass Individuen ihre Souveränität woanders suchen . Hier bereiten die Autoren bereits die Themen der folgenden Kapitel (Sezession, Globalisierung, “Souveränes Individuum”) vor.
Prägnante Zitate: Ein knapper, bezeichnender Satz aus Kapitel 4 ist: „Die Politik begann vor fünf Jahrhunderten … Jetzt liegt sie im Sterben.“ . Ebenso provokativ: „Während der Feudalzeit … gab es keine Politik (der Begriff selbst musste erst noch erfunden werden)“ . Und: „Wir glauben, dass [die Politik] mit der modernen Welt enden wird.“ . Diese Zitate fassen den Inhalt in aller Deutlichkeit zusammen.
Zwischenfazit Kapitel 4: Davidson und Rees-Mogg sehen die Demontage der traditionellen politischen Sphäre im vollen Gange. Die politische Klasse hat in ihren Augen an moralischer Autorität verloren (Skandale, Korruption), und die jungen Kräfte des Informationszeitalters haben mit Politik immer weniger am Hut. Das Kapitel stärkt die ideologische Tendenz: Es entzaubert Politik als historisch transient und moralisch bankrott. Damit ist die Bühne bereitet, um in den nächsten Kapiteln über die neuen Formen von Souveränität, Wirtschaft und Loyalität zu sprechen, die an die Stelle der alten politischen Ordnung treten sollen.
Kapitel 5 – Das Leben und die Gesundheit des Nationenstaates: Demokratie und Nationalismus als Ressourcenstrategien im Zeitalter der Gewalt
Zentrale Thesen: In Kapitel 5 analysieren die Autoren explizit den Nationalstaat – seine Entstehung, seine Mechanismen zur Ressourcenmobilisierung (Steuern, Nationalismus, Demokratie) und sein absehbares Schicksal im Informationszeitalter. Die Hauptthese: Der Nationalstaat war historisch gesehen die effizienteste Organisation, um Gewaltmittel in großem Maßstab einzusetzen und dadurch enorme Ressourcen abzuschöpfen, aber eben diese Fähigkeit verliert er nun rapide. Eingangs schildern sie zwei symbolische Ereignisse, um den Aufstieg und Fall der staatlichen Gewaltkapazität zu veranschaulichen: die Sprengung der Mauern von San Giovanni 1495 und den Fall der Berliner Mauer 1989 . Ersteres markiert das Ende des mittelalterlichen Kleinstaatenwesens – ein französischer König zerstörte mit Kanonen eine Festung in Italien und leitete damit das Zeitalter ein, in dem große, zentralisierte Staaten dominierten . Die Berliner Mauer hingegen markiere „einen weiteren historischen Wendepunkt, den Übergang vom Industriezeitalter zum Informationszeitalter“ . Nie zuvor, so die Autoren, habe es „einen so großen symbolischen Triumph der Effizienz über die Macht“ gegeben wie 1989 . Damit meinen sie: Das wirtschaftlich effizientere System (der kapitalistische Westen) triumphierte über das bloß auf Gewalt beruhende, ineffiziente System (den Ostblock). Dies wird als Zeichen gewertet, dass nun die “Rendite der Gewalt” sinkt – was den Nationalstaat seiner Grundlage beraubt.
Die Autoren beschreiben den klassischen Nationalstaat (1500–2000) als ein ungeheuer erfolgreiches Ausbeutungssystem: „Der Nationalstaat wurde zum erfolgreichsten Instrument der Geschichte für die Aneignung von Ressourcen. Sein Erfolg beruhte auf seiner überlegenen Fähigkeit, den Reichtum seiner Bürger auszuschöpfen.“ . Diese Fähigkeit speiste sich aus zwei Pfeilern: Nationalismus und Demokratie – die im Untertitel des Kapitels als Ressourcenstrategien bezeichnet werden. Nationalismus schweißte die Bevölkerung zusammen und legitimierte große Opfer (Steuern, Wehrdienst), Demokratie band die Massen politisch ein und erhöhte ebenfalls die Zahlungsbereitschaft für den Staat. In diesem Sinne sei Demokratie eine Art Mitbestimmungsillusion gewesen, die die Akzeptanz enormer Steuerlasten steigerte (eine These, die in Kapitel 10 ausführlich dargelegt wird). Kurz gesagt: Der Nationalstaat des Industriezeitalters konnte seinen Bürgern loyale Identifikation abringen – entweder durch nationalistische Gefühle oder durch das Versprechen politischer Mitsprache und sozialer Sicherheit – und hat so beispiellose Ressourcen mobilisiert.
Nun argumentieren Davidson und Rees-Mogg, dass diese Zeit vorbei ist. Die jüngeren Generationen empfinden bereits weniger Bindung an ihren Geburtsstaat. Als Beleg zitieren sie eine internationale Umfrage unter 20.000 Mittelschülern (Schuljahr 1995/96), bei der „fast die Hälfte der Teenager sagte, sie würden das Land ihrer Geburt verlassen, um ihre Ziele zu erreichen“ . 90% stimmten zudem dem Satz zu: „Es liegt an mir, das zu bekommen, was ich vom Leben will.“ – ein Ausdruck gesteigerter individueller Autonomievorstellung . Diese Ergebnisse deuten die Autoren als Zeichen einer Erosion der nationalen Loyalität: Die “MTV-Generation” denke globaler, sei mobiler und nicht mehr gewillt, sich vom Staat einengen zu lassen . Passend dazu erwähnen sie, dass US-Präsident Bill Clinton 1995 angesichts dieser Tendenzen eine „Ausreisesteuer“ vorgeschlagen habe – gewissermaßen „eine ‘Berliner Mauer’ für Kapital“ . Diese geplante Steuer auf die Vermögensabgabe bei Emigration reichern die Autoren mit scharfer Kritik an: Sie vergleichen Clintons Vorstoß direkt mit den Methoden der DDR unter Erich Honecker und sogar mit dem spätrömischen Reich, das verzweifelt versuchte, die Abwanderung wohlhabender Bürger zu verhindern . In einem längeren Zitat aus der Cambridge Ancient History schildern sie, wie im Römischen Reich Soldaten als Steuereintreiber ausschwärmten und die Oberschicht ihr Vermögen vergrub oder „zwei Drittel opferte“, nur um der Steuerpflicht zu entkommen . Die Parallele ist eindeutig: Der heutige Staat greift – wie Rom im Niedergang – zu immer drakonischeren Mitteln, um die flüchtenden Leistungsträger zu halten oder zu schröpfen.
Narrative und Ideologie: Dieses Kapitel ist zutiefst ideologisch gefärbt. Die Autoren kehren den moralischen Spieß um: Nicht die Wohlhabenden, die Steuern vermeiden wollen, handeln illegitim, sondern der Staat ist illegitim, der sie durch “Exit Taxes” festhalten will. Sie formulieren drastisch: Wenn man die Prämisse akzeptiere, dass Menschen Eigentum des Staates seien, dann mache Honeckers Mauer oder Clintons Ausreisesteuer Sinn . Aber diese Prämisse weisen sie als absurd zurück – insbesondere im Fall der USA, wo der Staat ja kaum in die Ausbildung oder den Erfolg der Reichen investiert habe, diese ihren Reichtum vielmehr trotz des Staates erworben hätten . Damit zeichnen sie das Bild eines ausbeuterischen Staates, der keinerlei moralischen Anspruch mehr hat, die Abwanderung von Kapital oder Individuen zu verhindern. Ein prägnantes Zitat dazu: „Mit dem Herannahen des neuen Jahrtausends werden die neuen megapolitischen Bedingungen des Informationszeitalters immer deutlicher machen, dass … der Nationalstaat eine räuberische Institution ist.“ . Hier fällt das Wort „räuberisch“ – eine klare delegitimierende Wertung.
Demokratie und Umverteilung als Mittel zum Zweck: Kapitel 5 bereitet bereits den Gedanken vor, der in Kapitel 10 vollständig entfaltet wird: dass Demokratie im Grunde eine Methode war, die Kontrolle des Staates über Ressourcen zu maximieren. Die Autoren sprechen von Demokratie und Nationalismus als “Ressourcenstrategien”. Sie erläutern beispielsweise, dass im 20. Jahrhundert die großzügigen Wohlfahrtsstaaten die Mehrheit der Wähler faktisch zu Angestellten des Staates machten, was den Etat wachsen ließ . Demokratie wird zynisch als Methode der Mitarbeiterkontrolle des Staates gedeutet – im Sinn von: Die Politiker bedienen die Wähler mit Leistungen, die Wähler stimmen zu und legitimieren immer höhere Steuern (Brot und Spiele).
Ein Blick in die Geschichte soll das stützen: Die Autoren erwähnen z.B., dass Phasen der Infanteriedominanz (wo also viele kleine Leute mit Muskete bedeuteten) tendenziell demokratischere Gesellschaften begünstigten, laut Historiker Carroll Quigley . Doch im späten 20. Jahrhundert, wo Waffen teuer und hochtechnologisch wurden (Panzer, Atomwaffen), passte das Modell eigentlich nicht – und dennoch florierten demokratische Staaten. Warum? Weil – so ihre Erklärung – diese demokratischen Staaten es schafften, dank Marktwirtschaft und Privateigentum eine gewaltige Steuerbasis zu generieren, weit größer als jede Planwirtschaft . In ihren Worten: „Verglichen mit dem Kommunismus war der Wohlfahrtsstaat … ein viel effizienteres System [zur Bereicherung des Staates].“ . Der demokratische Staat habe im Westen mehr Geld für Rüstung mobilisieren können als jede Diktatur, eben weil er die Kuh (die Wirtschaft) nicht schlachtete, sondern melkte – bis zu 90% Abschöpfungsquote, wie sie anhand kombinierter Steuersätze vorrechnen . Diese detaillierten Zahlen (73% auf jeden verdienten Dollar, bis zu 99% auf vererbtes Vermögen in den USA, wenn man alle Steuern kumuliert ) sollen den Leser schockieren: Tatsächlich habe der demokratische Staat die Bürger ähnlich gründlich ausgeplündert wie ein sozialistisches Regime – nur subtiler und mit deren Zustimmung. Diese Argumentationslinie formt sich in Kapitel 5, auch wenn sie in Kapitel 10 abschließend diskutiert wird. Wichtig festzustellen ist: Der Neoliberalismus der Autoren kommt hier voll zum Tragen. Staatliche Umverteilung wird ausnahmslos negativ konnotiert (als Diebstahl oder “Schutzgeldsystem” – an einer späteren Stelle nennen sie es so ).
Globalisierung und Steuerflucht: Ein Schlagwort in Kapitel 5 ist „Love It or Leave It (Es sei denn, du bist reich)“ . Damit spielen die Autoren auf das patriotische Motto an, man solle sein Land lieben oder verlassen – und fügen ironisch an: die Reichen werden es verlassen. Sie beschreiben sehr konkret den Mechanismus der Kapital- und Personenmobilität: Bereits bevor der Staat formal zerfällt, werden viele Wohlhabende “nach draußen” zu entkommen suchen, analog zu den Ost-Berlinern 1989 . Junge Generationen seien bereit zur Auswanderung, was dem alten Nationalstaat die Basis entzieht. Bill Clintons versuchter Gegenschlag, die Exit Tax, wird – wie erwähnt – als kurzsichtiger letzter Reflex dargestellt.
Die Analogie zum späten Römischen Reich ist hier ein wichtiger narrative Baustein. Im Rom des 4. Jahrhunderts flohen Großgrundbesitzer vor den Steuern (deserti agri), woraufhin Rom versuchte, Bauern an die Scholle zu binden – ein Schritt hin zur Leibeigenschaft. Die Autoren zitieren, wie in Ägypten die Orakel befragt wurden: „Soll ich fliehen und wird meine Flucht gestoppt werden?“ – das seien Standardfragen wohlhabender Römer gewesen . Sie übertragen das auf die Gegenwart: Clintons vorgeschlagene Maßnahme sage im Grunde „Ja“ – deine Flucht wird gestoppt werden (zumindest finanziell) . Doch sie glauben, solche Maßnahmen werden in Zukunft noch viel härter ausfallen, je mehr den Staaten die finanziellen Felle wegschwimmen . Dies ist eine Warnung an die Leser (viele dürften Investoren oder wirtschaftlich Interessierte sein): Man solle sich darauf einstellen, dass sterbende Staaten unberechenbar und strafend reagieren könnten.
Sprache und Duktus: Kapitel 5 ist in weiten Teilen analytisch und argumentativ, aber immer wieder flammt scharfe Polemik auf. Etwa wenn sie Honeckers Argument pro Mauer paraphrasieren: Ostdeutschland habe in die Ausbildung der Flüchtenden investiert, daher sei ihre Flucht wirtschaftlicher Schaden – diese Logik wird sofort mit Clintons Argument verglichen und als „ähnlich … aber noch weniger logisch“ abqualifiziert . Die spöttische Note (“weniger logisch” weil die USA ja gar nicht investiert hat) unterstreicht die Geringschätzung für derartige staatliche Rechtfertigungen. Überhaupt sind Begriffe wie „Lösegeld“ für die Exit Tax , „Schlupfloch“ (Berlin ohne Mauer = Schlupfloch für Kommunisten, Steuerflucht = Schlupfloch für US-Steuerbehörde) oder „Mikroparasiten“ für Verbrecherclans (im nächsten Kapitel) prägnante Schlagwörter, die hängen bleiben. Hier in Kapitel 5 dominieren Worte wie „auspressen“, „erpresst“, „Steuerüberschuss“, „überbezahlt“ etc., wenn sie vom Staat reden . Die Autoren zeichnen damit ein Bild des Staates als übermächtigen Vampirs, der am Ende alle Säfte aus seinen Bürgern zieht – bis diese sich wehren.
Relevante Belege: Ein bezeichnendes Beispiel, das die Ideologie von Kapitel 5 illustriert, ist ihr Vergleich der Berliner Mauer mit den Mauern von San Giovanni: „Die Berliner Mauer wurde zu einem ganz anderen Zweck gebaut … nicht um Räuber von außen am Eindringen zu hindern, sondern um die Menschen im Inneren an der Flucht zu hindern.“ . Allein diese Beobachtung – dass moderne Staaten eher Gefängnismauern nach innen bauen als Festungsmauern nach außen – spricht Bände und untermauert die These des alles vereinnahmenden Staates. Ein weiteres wichtiges Zitat: „Diejenigen, die Zwang und lokale Vorteile genutzt haben, um Einkommen umzuverteilen, sind dazu bestimmt, einen Großteil ihrer Macht zu verlieren. … Privat generiertes Vermögen, das bisher vom Nationalstaat beansprucht wurde, wird … von denen einbehalten, die es verdienen.“ . Hier kommen sehr klar die Wertvorstellungen der Autoren heraus: Zwang und Umverteilung (durch Staat, Gewerkschaften, Lobbyismus etc.) verlieren, Verdienst und Können gewinnen. Das ist der libertäre Kernpunkt – “wer verdient hat, behält”.
Zwischenfazit Kapitel 5: In diesem Kapitel schärfen Davidson und Rees-Mogg das Verständnis des Nationalstaats als historisch mächtigen, aber nun dysfunktional werdenden Akteur. Seine früheren Erfolgsrezepte – Massenloyalität durch Nationalgefühl, Massenmobilisierung durch Demokratie – greifen im neuen Zeitalter immer weniger, weil Individuen und Kapital mobiler werden und der Nutzen großflächiger Gewalt sinkt. Die ideologische Botschaft an den Leser lautet: Bereite dich darauf vor, dass der Staat dich nicht mehr schützen kann und stattdessen versuchen wird, dich noch stärker auszuquetschen, solange es geht. Die Autoren legen damit die Grundlage, um im nächsten Kapitel detailliert darzustellen, wie die Informationsrevolution die “Logik der Gewalt” verändert und welche neuen Freiheiten (für die gut Positionierten) daraus entstehen.
Kapitel 6 – Die Megapolitik des Informationszeitalters
Zentrale Thesen: Kapitel 6 beschäftigt sich mit den konkreten mechanismen, durch die das Informationszeitalter die “Logik der Gewalt” transformiert. Hier werden die eher abstrakten Prognosen der Vorchapitel technisch und ökonomisch untermauert. Die Hauptthese: Die Digitalisierung und Vernetzung der Wirtschaft reduzieren die verwertbare Angriffsfläche für staatliche Gewalt drastisch. Handel und Vermögen verlagern sich in Bereiche, die mit physischer Gewalt kaum kontrollierbar sind – insbesondere in den Cyberspace und in mobile, virtuelle Strukturen. Dadurch sinkt die Erpressbarkeit durch Gewalt; Staaten und auch andere große Organisationen verlieren ihr Druckmittel. Die Autoren formulieren es so: „Große Massen an Handel [können] nahezu immun gegen die Hebelwirkung der Gewalt gemacht werden.“ . Dies ist eine Kernidee: Wenn Transaktionen und Werte digital und verschlüsselt stattfinden, kann ein Staat sie nicht so leicht beschlagnahmen oder besteuern. Frederic C. Lane, ein Wirtschaftshistoriker, wird zitiert mit seinem grundlegenden Punkt, dass Schutz vor Gewalt ein universelles Bedürfnis jeder Wirtschaft ist und in organisierten Gesellschaften vom Staat bereitgestellt wurde . Doch nun, argumentieren die Autoren, entzieht die Technologie dem Staat genau diese Monopolstellung als Schutzanbieter.
Lane hatte analysiert, dass Regierungen sich dadurch auszeichnen, „Recht und Ordnung zu schaffen, indem sie selbst Gewalt anwenden und … kontrollieren.“ . Im Informationszeitalter aber wird diese Zentralgewalt weniger wichtig, weil es schlicht weniger physische Angriffsziele gibt. Die Autoren nennen mehrere Entwicklungen dafür:
Von materiellem zu immateriellem Wert: „Informations- und Rechenleistung [sind] das primäre Gut, weit vor Maschinenkraft.“ . Die Wirtschaft verlagert sich von fabrikenbasierten, leicht sabotierbaren Strukturen hin zu dezentralen Wissens- und Dienstleistungsnetzwerken. Eine Fabrik konnte man besetzen oder bestreiken; ein verteiltes Softwareunternehmen mit weltweiten Mitarbeitern hingegen nicht so leicht. Kleinere, mobile Einheiten: „Mikrotechnologie ermöglicht es Unternehmen, kleiner und mobiler zu sein. … Prinzipiell könnten diese Geschäfte fast überall auf dem Planeten betrieben werden.“ . Firmen müssen nicht mehr an Rohstoffe oder geographische Bedingungen gebunden sein (anders als z.B. ein Bergwerk oder Hafen). Sie können ihren Standort nach Belieben wechseln – insbesondere dorthin, wo die Steuer- und Regulierungsumgebung günstig ist. Hier zitieren die Autoren ein chinesisches Sprichwort: „Von den sechsunddreißig Möglichkeiten, sich aus Schwierigkeiten herauszuwinden, ist die beste – zu gehen.“ . Im Informationszeitalter, so folgern sie, wird es leichter denn je, einfach “zu gehen”, wenn es einem Ort zu unbequem wird (Stichwort: digitale Nomaden, Offshore-Firmen, etc.). Virtuelle Unternehmen: Die Autoren gehen noch weiter und postulieren die Entstehung von “virtuellen Unternehmen”, die gar keinen festen rechtlichen Sitz mehr haben, sondern je nach Bedarf von Rechtsordnung zu Rechtsordnung “wandern”. „Es wird möglich sein, virtuelle Unternehmen zu gründen, deren Domizil in jeder Rechtsordnung vollständig vom aktuellen Markt abhängt.“ . Bei erhöhtem Druck – sei es durch Besteuerung oder Regulierung – könnten solche Unternehmen „mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Rechtsgebiet fliehen“ . Hier ist offensichtlich von digital operierenden Firmen die Rede, die sich etwa durch Server-Standorte, Firmeneintragungen und Banken in verschiedenen Ländern der direkten staatlichen Zugriffsmacht entziehen. (Man denkt an heutige Phänomene wie Krypto-Börsen, die ihren Sitz schnell verlagern, oder Briefkastenfirmen in Offshore-Zentren.)
All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Staaten weniger effektiv Gewalt ausüben können, um Ressourcen abzuschöpfen. Selbst Gewerkschaften verlieren an Schlagkraft: In einem Beispiel erzählen die Autoren vom Scheitern eines langen Streiks der amerikanischen Automobilarbeiter-Gewerkschaft UAW bei Caterpillar 1995 – dank Automatisierung und hochqualifizierten Arbeitern konnte das Unternehmen den Ausstand aussitzen . Die Message: klassische kollektive Machtinstrumente (Streik = gewerkschaftliche “Gewalt”, könnte man sagen) greifen schlechter, weil die Produktion flexibler und weniger störanfällig geworden ist.
Ein weiterer Punkt: Kryptographie und digitale Sicherheit. Zwar wird das im Text erst in Kapitel 7/8 ausführlicher, aber hier in Kapitel 6 ist schon implizit klar: Wenn Werte als Bits in der Cloud existieren und verschlüsselt sind, nützt dem Räuber (oder dem Fiskus) auch die Pistole wenig. Davidson und Rees-Mogg erwähnen konkret „Vermögenswerte im Cyberspace“, einen Bereich ohne physische Existenz, den Frederic Lane sich nicht hatte vorstellen können . „Lane hatte nichts über die Auswirkungen der Möglichkeit zu sagen, dass große Massen an Handel nahezu immun gegen … Gewalt gemacht werden könnten.“ . Aber genau das, so die Autoren, finde nun statt. Hier schwingt das Cypherpunk-Narrativ mit, das im ganzen Buch wichtig ist: Durch Verschlüsselungstechnologie (Public-Key-Kryptographie etc.) entsteht ein Raum, in dem Zwang weit weniger greift. Im Vorwort der deutschen Ausgabe wird das retrospektiv hervorgehoben: „Eines der auffälligsten Merkmale von ‘Das Souveräne Individuum’ ist seine weitsichtige Antizipation der verändernden Kraft der Cypherpunk-[Bewegung].“ (Zitat aus Max Hillebrands Vorwort).
Narrative: Schutzgelderpressung vs. Exit-Freiheit: Die Autoren rahmen das Informationszeitalter als eine Art Befreiung von Schutzgelderpressung. In Kapitel 6 finden sich Ansätze zu einem Vergleich zwischen staatlicher Steuer/Gewerkschaftsforderung und Mafia-Methoden. Wenn etwa ein Unternehmen nicht mehr leicht bestreikt oder blockiert werden kann, verliert die Gewerkschaft ihren “Erpressungshebel”. Ebenso verliert ein Staat seinen, wenn Firmen dank Digitalisierung jederzeit ins Ausland wechseln können. Die Machtverlagerung zum Individuum wird hier technisch begründet: Jeder mit Know-how und Laptop kann unternehmerisch tätig werden; „die Verlagerung findet statt von der Fabrik zum Arbeitsplatz, von der Massenproduktion zu kleineren Teams oder sogar zu Einzelpersonen“ . Und ein Ein-Personen-Dienstleister ist für keinen Staat der Welt leicht zu fassen, wenn er online agiert.
Wichtige Zitate: Ein markantes Zitat aus Kapitel 6 lautet: „Wenn sich die Logik der Gewalt ändert, verändert sich die Gesellschaft.“ . Dies wiederholt im Grunde das Motto aus Kapitel 3 (Agrarrevolution), nun angewandt auf die Gegenwart. Ebenfalls wichtig: „Schutz … ist eine der Funktionen … der Regierung. … Das ist … zu grundlegend, um ignoriert zu werden, wenn man die sich entfaltende Informationsrevolution verstehen will.“ . Daraus folgern die Autoren, dass ein Staat, der keinen Schutz mehr bieten kann bzw. dessen Schutz nicht mehr nachgefragt wird, seine Daseinsberechtigung verliert.
Sehr bildhaft ist auch ihr Hinweis auf die chinesische Weisheit des Weggehens . Sie fahren fort: „Im Informationszeitalter wird diese östliche Weisheit leicht anwendbar sein. Wenn Betriebe … unbequem werden, wird es wesentlich leichter sein, umzuziehen.“ . Und: „Virtuelle Unternehmen“ könnten binnen einer Nacht ihre Aktivitäten und Vermögenswerte in Lichtgeschwindigkeit verlagern . Diese Zitate evozieren ein atemloses, dynamisches Bild der Wirtschaft der Zukunft: alles ist flüchtig und mobil, cloud-ähnlich bevor es den Begriff Cloud gab.
Umgang mit Gegenargumenten: In diesem Kapitel antizipieren die Autoren die Einwände, dass kleine Einheiten und Mobilität eventuell ineffizient sein könnten. Sie argumentieren jedoch, die Technologie mache Kleinteiligkeit effizienter als Größe. Als Beispiel nennen sie, dass in hochorganisierten Großunternehmen das Potential für Sabotage und Erpressung (Streiks etc.) höher sei, während kleinere Einheiten schwerer zu fassen und zu organisieren sind . Somit drehen sie den früheren Vorteil von Größe (Economies of Scale) um: Im Informationszeitalter werden “Economies of Scale in Violence” irrelevant, ja hinderlich. Selbst Produktionsbetriebe mit physischen Gütern werden dank Mikrotechnik weniger anfällig für Gewalt – etwa, weil Automatisierung Streiks unwirksam macht, wie bei Caterpillar .
Sprachebene: Kapitel 6 ist relativ technisch-sachlich gehalten, mit vielen rationalen Argumenten. Der Ton ist hier weniger polemisch als in Kap. 4 oder 5, mehr prognostisch-analytisch. Es werden zahlreiche Beispiele und hypothetische Szenarien beschrieben, um den Leser von der Machbarkeit zu überzeugen. So sprechen sie z.B. davon, dass im Informationszeitalter “Gewinne in Cyber-Banken verbucht” und “Bezahlung in Cyberwährung erfolgen” wird , auch wenn das zum Zeitpunkt des Schreibens (Ende der 90er) noch Zukunftsmusik war. Diese Passagen zeigen eine gewisse Begeisterung für die Möglichkeiten der Technik, die hier als Befreiungsinstrument gesehen wird. Der Stil erinnert teils an Zukunftsforscher wie Alvin Toffler (der auch über “The Electronic Cottage” schrieb), gepaart mit dem radikal-libertären Jubel auf Ausweichstrategien.
Konkrete Prognosen: Ausdrücklich prognostizieren die Autoren z.B., dass “die Aktivitäten und Vermögenswerte des virtuellen Unternehmens … mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Rechtsgebiet fliehen” können , oder dass “immer mehr Transaktionen, die den Globus umspannen, … zumindest von einer Partei in einer Währung abgewickelt werden, die für sie kein gesetzliches Zahlungsmittel ist” . Hier kündigt sich das Thema Cyberwährungen (Kapitel 7/8) an: die Loslösung vom staatlichen Geldmonopol. Insgesamt bildet Kapitel 6 die Brücke: Es erklärt die Mechanik, warum die in Kap. 5 noch mächtigen Staaten in Kap. 7/8 machtlos sein werden, wenn Wertschöpfung digital wird und überall stattfinden kann.
Zwischenfazit Kapitel 6: In diesem Kapitel entwerfen Davidson und Rees-Mogg die technologische Infrastruktur der Freiheit. Die Botschaft lautet: Die Informationsrevolution entzieht großen Zwangsapparaten den Nährboden, da sie Dezentralität, Anonymität und Mobilität begünstigt. Wo physische Gewalt keinen Zugriff mehr hat, endet die Ära der großen Gewaltorganisationen (Staaten, Armeen, auch Gewerkschaften). Im Hintergrund steht hier natürlich ein idealisiertes Bild vom Netz als rechtsfreiem Raum, wie es in den 1990ern von Cypherpunks und Internet-Pionieren gezeichnet wurde (Barlows Declaration of the Independence of Cyberspace lässt grüßen). Kapitel 6 bestätigt, aus “objektiv-technischer” Warte, den zuvor ideologisch behaupteten Abgesang auf Staat und Territorialmacht. Es untermauert die libertäre Vision mit scheinbar zwangsläufigen technischen Trends – eine Symbiose aus Technologie-Determinismus und Freiheitsideal. Damit ist die Grundlage gelegt, um in den folgenden Kapiteln detailliert aufzuzeigen, wie diese neuen digitalen Freiräume konkret aussehen (Kap. 7: Cyberökonomie) und welche sozialen Konsequenzen (stark wachsende Ungleichheit, Kap. 8; Gegenreaktionen, Kap. 9; Niedergang der Demokratie, Kap. 10; etc.) sich daraus ergeben.
Kapitel 7 – Die Überwindung des Räumlichen: Das Aufkommen der Cyberökonomie
Zentrale Thesen: Kapitel 7 taucht tief ein in die entstehende Cyberökonomie und deren Auswirkungen auf klassische Grenzen. Der Leitgedanke: Der Cyberspace hebt die Bedeutung geographischer Räume radikal auf. „Der Cyberspace überwindet Räumlichkeit. Er beinhaltet … das sofortige Teilen von Daten überall und nirgendwo gleichzeitig.“ . Für die Ökonomie bedeutet dies, dass Geschäfte unabhängig vom physischen Ort durchgeführt werden können. Wirtschaftsräume entkoppeln sich von Landesgrenzen, was die Autorität von Nationalstaaten fundamental in Frage stellt. Ein kerniges Zitat gleich zu Beginn: „Durch die Schaffung einer reibungslosen globalen Wirtschaftszone, die sowohl anti-souverän als auch unregulierbar ist, stellt das Internet die bloße Idee eines Nationalstaates in Frage.“ (John Perry Barlow). Die Autoren stimmen dem voll zu und entfalten im Kapitel, was es heißt, wenn das Internet einen „neuen sozialen Raum, global und anti-souverän“ bietet, „in dem jeder, egal wo, … ohne Angst sagen kann, was er glaubt“ .
Die Kapitelüberschrift „Überwindung des Räumlichen“ deutet an, worum es geht: Entterritorialisierung der Wirtschaft, der Gemeinschaften und letztlich der Macht. Die Autoren argumentieren, dass wir gedanklich noch sehr in territorialen Metaphern verhaftet sind – z.B. spricht man von der „Datenautobahn“, als sei das Internet einfach eine Art Straße, die Orte verbindet . Dabei, so betonen sie, ist der Cyberspace selbst der Ort, kein Weg von A nach B . Unsere Sprache hinke der Realität hinterher, weil wir uns kaum vorstellen können, wirklich ortsunabhängig zu sein: „Die Metapher der ‘Super-Autobahn’ verrät, inwieweit wir der Tyrannei des Ortes ausgeliefert sind. … Unser Bewusstsein ist immer noch tief von Vorstellungen der Räumlichkeit gezeichnet.“ .
Aufkommen der Cyberökonomie: Konkret sagen Davidson und Rees-Mogg voraus, dass im Internet komplett neue Märkte und Währungen entstehen werden. Geschäfte werden virtuell abgeschlossen, bezahlt wird mit Cyberwährungen, Gewinne liegen in Cyber-Banken, Investitionen werden in virtuellen Räumen getätigt . Sie beschreiben einen stufenweisen Übergang: Zunächst nutzen Händler das Netz nur für den Vertrieb, rechnen aber noch in alten Währungen ab; bald jedoch – so ihre Prognose – werden sie das Netz auch nutzen, um Gewinne zu verbuchen und Alternativwährungen zu verwenden . Endziel: „Die Bezahlung wird in Cyberwährung erfolgen. Gewinne werden in Cyber-Banken verbucht.“ . Das ist eine erstaunlich präzise Vorhersage, wenn man an heutige Kryptowährungen und Offshore-Konten denkt.
Ein weiteres wichtiges Thema ist E-Commerce und Steuerflucht: Die Autoren prophezeien, dass Transaktionen zunehmend in Währungen stattfinden, die nicht die Landeswährung sind und dass man problemlos aus einer instabilen Währung in eine stabile fliehen kann, sobald diese droht an Wert zu verlieren . Letztlich, so folgern sie, „wird es keine Notwendigkeit geben, in gesetzlichen Zahlungsmitteln zu handeln“ . Sie verweisen auf Friedrich von Hayek, der schon in den 1970ern die Entstaatlichung des Geldes forderte: Hayek argumentierte, dass konkurrierende private Währungen entstehen würden, die Regierungen zur Währungsdisziplin zwingen . Genau das sehen sie im Kommen – nur befeuert durch Technologie.
Überwindung nationaler Währungen: Kapitel 7 befasst sich ausführlich mit dem Ende der “nationalen Monopole auf gesetzliches Zahlungsmittel”. Die Autoren kritisieren, dass im 20. Jh. praktisch alle Staaten ihr Geld entwertet haben (Inflation). Sie führen z.B. an, dass selbst die Deutsche Mark von 1949 bis 1996 rund 70% ihres Wertes verlor, der US-Dollar sogar 84% . Diese Enteignung durch Inflation sei quasi institutionalisiert gewesen. „Das neue digitale Geld … [wird] dieses klassische Mittel zur Enteignung von Vermögen durch Inflation aus[schließen].“ – weil es nicht beliebig vermehrbar und absolut fälschungssicher sein werde . Hier antizipieren sie praktisch Bitcoin: „Indem es die Macht der Kryptographie und des verteilten Konsens nutzt, hat Bitcoin eine neue Form des Geldes geschaffen, die nicht den Launen der Zentralbanken unterliegt.“ (so kommentiert es Max Hillebrand im Vorwort rückblickend) . Im Haupttext spekulieren die Autoren analog, dass Mikrochip-basierte, kryptographisch signierte Währungen fälschungssicher und vor Inflation geschützt sind . „Cyberwährungen werden … praktisch unmöglich zu fälschen sein, ob offiziell oder inoffiziell.“ . Dies sei „das neue digitale Geld des Informationszeitalters“ .
Folgen für den Staat: All das bedeute, dass Staaten ihr wichtigstes Kontrollinstrument – das Geldmonopol – verlieren. Die Autoren schreiben unverblümt: „Die Nutzung dieser neuen Cyber-Währung wird Sie weitgehend von der Macht des Staates befreien.“ . Hier werden die Freiheitsverheißungen des Buches sehr konkret: Wer in Bitcoin & Co. operiert, entzieht sich Steuern und Kapitalkontrollen. Sie sprechen von einer „Erklärung wirtschaftlicher Unabhängigkeit“ jedes Menschen, der Cybergeld nutzt . Das deckt sich mit dem, was die Cypherpunks tatsächlich anstrebten (z.B. Timothy C. May’s Crypto Anarchist Manifesto, 1992, proklamierte ja ähnliches).
Auch in diesem Kapitel erscheint der Begriff “Privatisierung der Souveränität”, nun in monetärer Hinsicht. Der Staat, der in der Industrieära jeden Binnenhandel in seiner Währung erzwingen konnte, verliert dieses Privileg. Die Autoren merken an, der Zwang zu nationaler Währung habe dem globalen Wirtschaftssystem eher geschadet als genutzt . Eine Anekdote: Traditionelle Währungsnamen wie Pfund oder Peso leiten sich von Gewichtsangaben für Edelmetalle ab; Papiergeld aber habe Regierungen erlaubt, dieses Gewichtsmäß zu verlassen und durch Fiat-Money Vermögen umzuschichten . In Zukunft hingegen könnten digitale Währungen wieder so “hart” sein wie Gold – aber gleichzeitig bequem im Gebrauch dank hoher Rechenleistung, die Preisvergleiche auch bei vielen parallel umlaufenden Währungen ermöglicht .
Tyrannei des Ortes und Mentalitätswandel: Ein interessanter Aspekt, den Kapitel 7 auch streift, ist der mentale Anpassungsprozess. Sie sprechen von der „Tyrannei des Ortes“, die unser Denken prägt . Jahrtausende der Ortsgebundenheit (die meisten Menschen lebten und starben unweit ihres Geburtsortes ) haben einen psychologischen Home-Bias erzeugt. Historische Beispiele: Marco Polo war berühmt, weil Reisen so selten waren; Sir John Mandeville erfand Reiseberichte voller Fantasie, weil kaum jemand die Ferne kannte . Erst die Entdeckungsreisen Ende 15. Jahrhundert schufen dauerhafte interkontinentale Kontakte . Bis ins 20. Jahrhundert war das Leben der meisten „durch Unbeweglichkeit geprägt“ . Diese historischen Reminiszenzen untermauern, wie fundamental neu die anbrechende Ära ist: Heute, schreiben sie (1997), sei es in Hongkong normal, dass jeder Restaurantgast per Mobiltelefon mit der ganzen Welt verbunden ist . Der Putsch in Moskau 1991 scheiterte u.a., weil Jelzin Mobiltelefone hatte, sodass die Hardliner die Kommunikation nicht kappen konnten . Kommunikation überwindet souveräne Blockaden – das ist die Lektion. Diese Beispiele wirken im Jahr 2025 trivial, aber Ende der 90er waren sie Indikatoren einer neuen globalen Konnektivität.
Sprache und Ton: Kapitel 7 verbindet visionäre Begeisterung mit sachlicher Erklärung. Der Ton wird an manchen Stellen fast schwärmerisch: etwa wenn Barlow zitiert wird mit „Diese neuen Medien sind eine Vorahnung der intellektuellen und wirtschaftlichen Freiheit, die alle autoritären Mächte der Welt auslöschen könnte.“ . Das Buch macht sich diese Aussage im Grunde zu eigen. Die Internet-Euphorie der 90er ist hier spürbar. Gleichzeitig wird aber auch nüchtern argumentiert und mit Zahlen belegt (Inflationsraten, Umfrageergebnisse, historische Daten zum Reiseverhalten etc.). Die Autoren verstehen es, ihre Ideologie in ein Gewand konkreter Beispiele zu kleiden. Ein gutes Beispiel ist die Darstellung der MTV-Globaljugend und deren Einstellungen (siehe Kapitel 5), oder hier in Kapitel 7 die Anekdote, dass Prinz Edward 1990er in Buckingham Palace mit seiner Freundin schlief – etwas, das in Großbritannien keiner mehr skandalös fand . Was hat das mit Cyberökonomie zu tun? Es zeigt einen Wertewandel, weg von traditionellen Normen, hin zu pragmatischeren, liberaleren Einstellungen in einem globaleren Kontext. So fügen die Autoren viele kleine Indizien zusammen, um das Bild einer entstehenden neuen Welt zu zeichnen.
Prägnante Zitate: Ein prägnantes Zitat: „Die Informationstechnologie … stellt die bloße Idee eines Nationalstaates in Frage.“ . Und: „Das Netz … [ist] global und anti-souverän.“ . Weiteres: „Die Nutzung dieser neuen Cyber-Währung wird Sie weitgehend von der Macht des Staates befreien.“ . Hier ist die Freiheitsverheißung ganz deutlich. Im selben Atemzug warnen sie aber vor einem möglichen Haken: Der Konsument wird vorübergehend gefordert sein, mit vielen Währungen umzugehen – aber dank Computer sei das handlebar .
Zwischenfazit Kapitel 7: In Kapitel 7 malen Davidson und Rees-Mogg die ökonomische Landkarte der nahen Zukunft: ein globaler Markt ohne Barrieren, mit privaten, stabilen Währungen und virtuellen Geschäftsmodellen. Territorialstaaten erscheinen darin wie Dinosaurier, die versuchen mögen, an den Grenzübergängen Zölle zu erheben, während über ihren Köpfen Datenströme und Geldwerte fließen, die sie nicht fassen können. Dieses Kapitel verleiht der zuvor theoretischen Behauptung (“Nationalstaat stirbt”) griffige Inhalte: Cyberwährung statt Fiat-Money, Online-Markt statt Binnenmarkt, virtuelle Gemeinschaften statt staatlicher Zwangskollektive. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist, wie viele dieser Prophezeiungen in Ansätzen Realität wurden (Kryptowährungen, digitale Nomaden, E-Commerce-Steuerschlupflöcher). Allerdings ist auch festzustellen, dass die völlige „Unregulierbarkeit“ des Netzes so nicht eingetreten ist – Staaten haben Gegenstrategien (Internetfilter, Regulierungen für Kryptobörsen etc.). Doch diese Bewertung steht auf einem anderen Blatt. Im Duktus des Buches wird hier die ökonomische Unabhängigkeit des Individuums gefeiert, die durch Technologie ermöglicht werde. Damit kommen die Autoren ihrem Buchtitel “Souveränes Individuum” inhaltlich immer näher: Das Individuum als sein eigener Souverän, entbunden von Ort, von nationaler Währung, von staatlicher Regulierung.
Kapitel 8 – Das Ende der egalitären Ökonomie: Die Revolution der Einkommensfähigkeit in einer Welt ohne Arbeitsplätze
Zentrale Thesen: Kapitel 8 lenkt den Fokus auf die sozial-ökonomischen Folgen der Informationsrevolution, insbesondere auf die Verteilung von Einkommen und Chancen. Die zentrale Aussage ist provokativ: Das Informationszeitalter wird der vergleichsweise egalitären Massenwohlstands-Ökonomie des Industriezeitalters ein Ende setzen und eine viel stärkere Ungleichverteilung von Einkommen mit sich bringen. Die Autoren sprechen von einer „Revolution der Einkommensfähigkeit in einer Welt ohne Arbeitsplätze“ – worunter zu verstehen ist, dass traditionelle Arbeitsplätze in großer Zahl wegfallen und nur noch diejenigen mit sehr hohen Fähigkeiten oder Kapital sich steigende Einkommen sichern können. Ein Kernsatz: „Da der Grenzwert, der durch herausragende Leistungen erzeugt wird, so enorm sein wird, wird die Verteilung der Verdienstmöglichkeiten … ähnlich aussehen wie jetzt in Leistungsberufen wie der Leichtathletik und der Oper.“ . Hier beschwören die Autoren das “Superstar-Prinzip”: In Oper und Profi-Sport verdienen einige wenige Stars ein Vielfaches der vielen Durchschnittlichen. Genauso, so behaupten sie, werde es in allen Branchen sein – global gesehen – im Informationszeitalter: Winner takes all, verstärkt durch globale Märkte, die dem Allerbesten eines Fachs weltweite Nachfrage bieten, während Mittelmaß schnell ersetzt und marginalisiert wird.
Die Autoren stützen diese These historisch und statistisch: Sie rekapitulieren zunächst, dass das 19. Jahrhundert bereits enorme Ungleichheit kannte (New York 1890: 12% der Bevölkerung besitzen 86% des Vermögens) . Das 20. Jahrhundert mit seinen Arbeitnehmerrechten, Massenbildung und Sozialstaaten war demgegenüber (zumindest in der westlichen Welt) deutlich egalitärer – jedenfalls in dem Sinne, dass eine breite Mittelschicht entstand und extreme Armut zurückging. Doch dieser Zyklus dreht sich nun zurück. Als Indikator nennen sie etwa, dass 1% der US-Bevölkerung bereits 28,7% der Einkommensteuer zahlt (Stand 1996) – was impliziert, dass 1% auch einen entsprechend hohen Anteil am Gesamteinkommen hat. Sie erwarten, dass mit Fortschreiten des Informationszeitalters die Verteilung „noch schiefer“ sein wird als die berühmten 80/20 von Vilfredo Pareto . Also z.B. 90/10 oder 95/5 (Konzentration bei Wenigen).
Bildungskluft und “nutzlose” Klasse: Ein drastischer Punkt in Kapitel 8 ist die Herausarbeitung einer neuen kognitiven Unterschicht. Sie zitieren eine US-Studie, wonach 90 Millionen erwachsene Amerikaner (von über 15 Jahren) massive Defizite in grundlegenden Kompetenzen haben . Diese Menschen – ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung – können keinen einfachen Brief schreiben oder Busfahrplan verstehen . Bill Bryson wird mit der boshaften Charakterisierung zitiert, diese Leute seien „so dumm wie Schweinesabber“ . Diese große Gruppe, so die Autoren, „wird wahrscheinlich nicht viel von der Informationsautobahn mitbekommen“ . Sie bilden „eine wütende Unterschicht“ im kommenden Zeitalter . Demgegenüber steht eine kleine Elite – „vielleicht 5 Prozent“ – hochgebildeter Informationsarbeiter oder Kapitalbesitzer, „die im Informationszeitalter das Äquivalent der Landaristokratie des Mittelalters bilden“ . Der einzige Unterschied zu früheren Eliten: Sie sind Spezialisten in Produktion, nicht in Gewalt (eine Spitze gegen die alte Feudalelite, die ja primär Kriegerkaste war). Damit zeichnen die Autoren das Bild einer auseinanderklaffenden Gesellschaft: Ganz unten ein abgehängtes Drittel, das vielleicht politisch frustriert und gefährlich wird (Stichwort “Ludditen” in Kap. 9), und ganz oben eine transnationale Klasse von “sovereign individuals” – also genau jene, an die das Buch sich positiv wendet.
Mythen und Narrative: Der Titel “Ende der egalitären Ökonomie” impliziert, dass das Industriezeitalter eine Zeit relativer Gleichheit war. Tatsächlich argumentieren die Autoren, dass viele Soziologen irrigerweise dachten, technischer Fortschritt mache Gesellschaften zwangsläufig egalitärer (Stichwort Modernisierungstheorie), was sich aber nicht bestätigt hat . Sie drehen diesen Gedanken um: In Wirklichkeit führte Industrialisierung zunächst zu extremer Ungleichheit (siehe 19. Jahrhundert), dann sorgten spezielle Umstände (z.B. zwei Weltkriege, die Massen mobilisierten, Angst vor sozialistischer Revolution, Nachkriegsboom) für eine Phase relativer Gleichheit zwischen ca. 1945 und 1975 im Westen. Doch jetzt, ohne den Druck des Kalten Krieges und mit globaler Konkurrenz, schlägt das Pendel zurück zu mehr Ungleichheit.
Sie sehen dies bereits als Ursache für die “Verbitterung der modernen amerikanischen Politik” . Die veränderte Wohlstandsverteilung – viele haben stagnierende oder fallende Realeinkommen, während wenige Tech-Milliardäre entstehen – sät Unmut, der sich politisch äußert (im Kapitel 9 wird dies mit Populismus verknüpft).
Interessant ist auch die Wortwahl “Welt ohne Arbeitsplätze”. Gemeint ist, dass traditionelle, langfristige Anstellungen rar werden. Stattdessen projektbasierte Arbeiten, Selbstaändigkeit, Gig-Economy – Tendenzen, die wir heute kennen. Dadurch wird aber für viele die wirtschaftliche Sicherheit geringer. Nur Top-Leute können sich durchsetzen und hohe Honorare erzielen; Mittelmaß geht leer aus oder muss sich mit prekären Jobs begnügen.
Zitate und Beispiele: Ein prägnantes Zitat: „Diejenigen, die Zwang und lokale Vorteile genutzt haben, um Einkommen umzuverteilen, sind dazu bestimmt, einen Großteil ihrer Macht zu verlieren. … Privat generiertes Vermögen … wird … von denen einbehalten, die es verdienen.“ . Hier werden explizit Gewerkschaften, regulierte Berufe, Politiker etc. angesprochen . Ihre “Vetternwirtschaft und Handelshemmnisse” sind im neuen Zeitalter weniger wert, also wird weniger Lobbyismus betrieben, weniger wird an diese Gruppen verteilt . Es ist eine deutliche Absage an alle egalisierenden Institutionen: Der Markt wird’s richten und die “Fähigsten” werden endlich das meiste behalten dürfen. Hier findet man unverhohlen das ideologische Ideal der Autoren: Leistungselite statt Umverteilungsstaat. Sie begrüßen es ausdrücklich, dass Einkommen wieder stärker nach Können differenziert werden: „Es werden immer mehr Vermögen in die Hände der fähigsten Unternehmer und Risikokapitalgeber weltweit gelangen.“ . Auch: „Globalisierung … wird dazu tendieren, das Einkommen der talentiertesten Personen in jedem Bereich zu erhöhen.“ .
Im Gegensatz dazu stehen die 90 Millionen “Schweinesabber”. Das Zitat von Bryson ist bewusst schockierend und zeigt den wenig mitfühlenden Ton. Wo andere Analysten vielleicht von “Bildungsverlierern” sprächen, sagen die Autoren knallhart: Diese Leute sind zu dumm für die neue Welt und werden abgehängt. Das Buch macht keinen Hehl daraus, auf welcher Seite seine Sympathien liegen: bei der cleveren, mobilen Minderheit.
Narrative im Kapitel: Die Autoren bemühen hier u.a. das Pareto-Prinzip (80/20) und extrapolieren es. Sie verweisen auf historische Immigration: Dass Ende 19. Jh. massenhafte Zuwanderung in die USA die Ungleichheit statistisch erhöhte, weil viele mittellose Immigranten dazukamen . Dies werten sie positiv als “echter Aufstieg der Chancen”, der zwangsläufig Ungleichheit kurzzeitig erhöht . Der Subtext ist: Ungleichheit ist nicht per se schlecht, sie kann das Ergebnis von mehr Freiheit und Durchlässigkeit sein (Chancengleichheit vs. Ergebnisgleichheit).
Sprachebene: Kapitel 8 ist einerseits analytisch (Zahlen, Studien), andererseits äußerst wertend. Begriffe wie “talentierteste Personen” vs. “wert- und qualifikationsarme Menschen” zeigen eine deutliche Abgrenzung. Wer nicht mithält, ist “qualifikationsarm” und hat früher ungerechtfertigt ein hohes Einkommen genossen (z.B. Industriearbeiter in reichen Ländern). Die Autoren sprechen das offen aus: Vor allem in den derzeit reichen Ländern mit vielen mittelmäßig Qualifizierten, die früher hohe Löhne hatten, wird die reaktionäre Tendenz am stärksten sein . Sie haben hier die Gruppe der westlichen Facharbeiter oder Angestellten im Blick, die durch Globalisierung und Automatisierung unter Druck geraten – die kommende Basis für Populismus (wird in Kap. 9 aufgegriffen).
Ein treffendes Bild ist auch das vom “Grenzwert der Leistung”, der im Infozeitalter enorm hoch sein wird . Das impliziert, dass Top-Leute ein globales Publikum bedienen (Software, Entertainment, Forschung) und daher exponentiell verdienen, während früher lokale Begrenzung (z.B. als Arzt konnte man nur lokale Patienten betreuen, als Musiker nur lokalen Saal füllen) Einkommen deckelte.
Quintessenz Kapitel 8: Dieses Kapitel ist quasi die Kehrseite der Medaille des souveränen Individuums. Es zeigt, dass die neue Freiheit und Souveränität einigen großen Wohlstand bringen wird, vielen aber relative und absolute Verluste. Die Egalisierungstendenzen der Nachkriegszeit – steigende Löhne für einfache Arbeiter, starke Gewerkschaften, wohlfahrtsstaatliche Umverteilung – werden entkräftet. Übrig bleibt ein “natürlicherer” Zustand, in dem Leistungsfähigkeit und Kapital die Hierarchie bestimmen (daher sprechen die Autoren von „natürliche Wirtschaft“, was sich im Titel von Kapitel 11 wiederfindet). Ausdrücklich knüpfen sie an das Pareto-Optimum an: Pareto beobachtete ~80/20, aber sie erwarten noch extremere Verteilungen .
In diesem Kapitel blitzt auch eine gewisse Härte und Sozialdarwinismus auf. Die Rede von “wertlosen Menschen” oder “dummen Unterschichten” ist fast schon elitär-verächtlich. Es passt aber zu ihrer Weltsicht: Im evolutionären Wettbewerb (nun global und digital) setzt sich nur eine kleinere Elite durch; das ist naturgegeben und letztlich gut für Fortschritt. Hierin sind deutliche neoliberale bzw. libertäre Narrative (Markt als Ausleseinstanz, gegen Gleichmacherei) erkennbar.
Für den Leser, insbesondere wenn er Entscheidungsträger ist (das Dossier richtet sich ja auch an Entscheider), ist Kapitel 8 einerseits eine Warnung: Achtung, soziale Konflikte kommen, weil viele verlieren. Andererseits auch eine Aufforderung zur Positionierung: Es wird Gewinner und Verlierer geben – sorge dafür, zu den Ersteren zu gehören.
Kapitel 9 – Nationalismus, Reaktionismus und die neuen Ludditen
Zentrale Thesen: Kapitel 9 behandelt die Gegenreaktionen auf den beschriebenen Wandel. Die Autoren prognostizieren, dass die Verlierer des Informationszeitalters – seien es absteigende Mittelschichten in reichen Ländern, schlecht qualifizierte Arbeiter oder Bürokraten, die ihre Pfründe verlieren – mit Nationalismus, Populismus und Technikfeindlichkeit reagieren werden. Sie nennen dies die “nationalistisch-ludditische Reaktion”. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass viele annehmen könnten, die “Welt werde kleiner und Nationalismus dadurch obsolet” . Zwar sei es logisch, dass mit intensiverer Kommunikation über Grenzen hinweg der enge Nationalismus an Bedeutung verlieren müsste – aber die Autoren warnen: “Der Übergang wird eine Krise mit sich bringen.” . Das moderne Zeitalter der Nationalstaaten stirbt, aber nicht geräuschlos und vernünftig, sondern mit heftigen Verwerfungen.
Sie stellen die These auf, dass die geballte Macht des Staates privatisiert und kommerzialisiert wird (das haben sie bereits vorher gesagt), was jedoch eine “Revolution des ‘gesunden Menschenverstandes’” erfordert – sprich, ein radikales Umdenken . Solche fundamentalen Änderungen passieren nie linear und friedlich. Im Gegenteil, sie erwarten deutliche Brüche mit den Institutionen und dem Bewusstsein der Vergangenheit . Dazu gehört aus ihrer Sicht, dass es zu Sezessionsbewegungen kommt – viele Regionen oder sogar Individuen werden versuchen, sich von schwächelnden Staaten abzukoppeln . Gleichzeitig aber – und das ist der Kern von Kapitel 9 – wird es eine intensive, teils gewalttätige Gegenreaktion geben von jenen, die an der alten Ordnung hängen oder davon abhängen. Ein Kernsatz: „Eine intensive und sogar gewalttätige nationalistische Reaktion ist vor allem unter jenen Personen zu beobachten, die ihren Status, ihr Einkommen und ihre Macht verlieren, wenn das, was sie als ihr ‘normales Leben’ betrachten, … gestört wird.“ .
Die Autoren listen eine Reihe von Merkmalen dieser Reaktion , die wie eine Beschreibung populistischer Bewegungen wirkt:
Misstrauen und Widerstand gegen Globalisierung, Freihandel und ausländisches Eigentum. Feindseligkeit gegenüber Einwanderung, besonders gegen ethnisch/kulturell “Andere”. Verbreiteter Hass auf die “Informationselite”, die Reichen und Gebildeten, sowie Klagen über Kapitalflucht und Jobverluste. Extreme Maßnahmen von Nationalisten, um Sezessionen zu verhindern – einschließlich Kriegen und “ethnischen Säuberungen”, um Staatsidentität zu erzwingen und Ansprüche auf Menschen und Ressourcen zu zementieren .
Kurz: populistischer Nationalismus mit einer Prise Fremdenhass und Anti-Establishment-Stimmung, der im schlimmsten Fall in Gewalt umschlägt. Die Autoren nennen explizit “ethnische Säuberungen” – und tatsächlich, wenn man an die 1990er denkt: Jugoslawienkriege, Ruanda, etc., war das aktuell. Sie erwähnen auch die russische Invasion in Tschetschenien (1994/1999) als Beispiel dafür, wie Nationalstaaten brutal gegen Abspaltungen vorgehen und damit aber bei der jungen Generation eher Sympathien verlieren .
Die neuen Ludditen: Neben dem Nationalismus fokussieren sie auf Technikfeindlichkeit als Reaktion. Schon das Kapitelmotto zitiert William Pfaff, der Nationalismus als “intrinsisch absurd” bezeichnet und auf ältere Loyalitäten (Religion, Dynastien) verweist . Pfaff argumentierte, Nationalismus war historisch nicht der Normalfall – das nutzen die Autoren, um zu sagen: Nationalismus ist ein Produkt der Moderne und könnte wieder verschwinden. Aber bis dahin machen die “neuen Ludditen” Randale. Sie schreiben: „Da es offensichtlich sein wird, dass Informationstechnologien es souveränen Individuen erleichtern, der Staatsgewalt zu entfliehen, wird die Reaktion … auch einen neo-luddistischen Angriff auf diese neuen Technologien und diejenigen, die sie nutzen, beinhalten.“ . Hier wird das Bild des Maschinenstürmers (Ludditen im 19. Jh.) bemüht: die Verlierer greifen die Technik und die Technokraten an, die sie verantwortlich machen.
Wer sind diese Neo-Ludditen? Die Autoren verorten sie vor allem in den ehemals privilegierten Mittelschichten reicher Länder. Sie argumentieren, in Schwellenländern, wo alle Einkommensgruppen zulegen, werde es wenig Reaktion geben . Aber „in den derzeit reichen Ländern, insbesondere in Gemeinschaften mit einem hohen Anteil an wert- und qualifikationsarmen Menschen, die früher ein hohes Einkommen genossen haben“, werde der reaktionäre Impuls stark sein . Sie stellen klar: Nicht die Allerärmsten werden am aufrührerischsten sein, sondern die “mittelmäßig Qualifizierten”, die “Durchschnittlichen mit Abschlusszeugnissen”, die im Industriezeitalter ordentlich lebten und nun abstürzen . Diese Gruppe – man könnte sagen: der vielzitierte “abgehängte weiße Arbeiter” oder Kleinangestellte – wird zur Hauptanhängerschaft von populistischen, anti-globalistischen Bewegungen.
Explizit nennen die Autoren den Unabomber (Ted Kaczynski) als Exempel eines Neo-Ludditen, allerdings isoliert (den erwähnen sie, um zu sagen: abgesehen von ihm werden die meisten Ludditen aus der Masse kommen, nicht aus vereinzelten Terror-Intellektuellen) . Die Mehrheit der Neo-Ludditen wird also nicht philosophisch motiviert sein wie Kaczynski, sondern einfach aus Frust und Furcht vor Abstieg.
Prognose des Verlaufes: Sie erwarten, dass diese nationalistisch-ludditische Welle in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht und dann abflaut , sobald sich die Vorteile der neuen dezentralen Souveränitäten zeigen. Junge Generationen, die in den neuen Bedingungen aufwachsen, werden dem alten Nationalismus und den alten Staaten gegenüber weniger symphatisch sein . Aber bis dahin könnten unschöne Dinge passieren: Kriege, Pogrome, totalitäre Rückschläge. Sie sagen z.B., Nationalstaaten könnten versuchen mit “angeborenem Mobbing” alternative Jurisdiktionen zu unterdrücken – was wohl auf Konflikte zwischen Reststaaten und Sezessionsgebieten oder Steueroasen hinweist.
Sehr konkret warnen sie davor, dass der Nationalstaat letztendlich in einer Finanzkrise zusammenbrechen wird, wenn die steigenden Ausgaben und fallenden Einnahmen (vor allem Renten und Gesundheitskosten der alternden Gesellschaft) aufeinanderprallen . Sie erwähnen die Billionen ungedeckter Pensionsverpflichtungen in USA und UK um 2000 . Das ist quasi der Sacknagel: Wenn der Staat pleite geht, bricht alles Alte zusammen, und davor – analog zu Rom – gibt’s Chaos und Barbarei (was sie in Kap. 11 ausführen). Bis dahin verschleiern Medien und Eliten vermutlich das Ausmaß des Zerfalls, wie sie später bemerken .
Sprache und Beispiele: Kapitel 9 ist sehr reich an konkreten Beispielen. Sie zitieren den Historiker William McNeill zur Kommunikations-Intensivierung, die eher die Auflösung von großen Einheiten fördert . Sie arbeiten viel mit Listen (Merkmale der Reaktion). Diese Listen haben wir im Inhalt schon zusammengefasst; bemerkenswert ist die Genauigkeit, mit der sie Phänomene beschreiben, die wir heute mit dem Begriff Populismus verbinden: anti-global, anti-Immigration, anti-Elite, anti-EU/WTO etc., bis hin zu Verschwörungsdenken (Stichwort “Neue Weltordnung” – nicht erwähnt, aber implizit).
Sie ziehen auch hier historische Parallelen: Das späte Mittelalter mit Religionskriegen vs. kommende Zeit mit Nationalismus. Ab 9.2 “Parallelen zur Renaissance” beschreiben sie ausführlich den Zerfall des kirchlichen Monopols und die brutalen Reaktionen darauf: „Die Privatisierung des Gewissens“ nennen sie die Reformation . Sie führen Folter und Scheiterhaufen der Inquisition an, die unzählige Leben kosteten . Der 30-jährige Krieg mit Millionen Toten kommt zur Sprache , ebenso die Hinrichtungen von Katholiken unter Heinrich VIII. und Protestanten unter Maria der Blutigen in England . Die Botschaft: Ein altes Monopol (Kirche) brach unter entsetzlichem Blutvergießen zusammen. Entsprechend könnte der Zerfall des Nationalstaats auch Gewalt in großem Maß nach sich ziehen. Hier appellieren die Autoren indirekt an den Leser, die Zeichen zu erkennen und nicht auf der falschen Seite zu stehen, wenn die Sturmflut kommt.
Beurteilung der Reaktion: Es ist deutlich, dass die Autoren keine Sympathie für die Reaktionäre haben. Sie nennen sie “Fanatiker”, “Barbaren”, “getarnte Barbaren”, “neo-ludditische Angreifer” etc. . Die anbrechende Ära sehen sie als überlegen und die Reaktion als Rückzugsgefecht. Zitat: „Die nationalistische Reaktion wird … verblassen, wenn sich die Effizienz fragmentierter Souveränitäten als überlegen erweist.“ . Gleichzeitig warnen sie: “Bevor die meisten Nationalstaaten sichtbar zusammenbrechen, werden sie von neuzeitlichen Barbaren dominiert.” . Also Vorsicht: Die alten Institutionen könnten noch eine Zeit wie Zombies weiterlaufen, gesteuert von korrupten oder kriminellen Elementen (dazu mehr in Kap. 11).
Zwischenfazit Kapitel 9: Kapitel 9 dient als Warnung vor dem Sturm. Was bisher als verheißungsvolle Entwicklung gepriesen wurde (Aufstieg des souveränen Individuums, Ende des Staates) hat natürlich eine dunkle Seite: jenen, die ihre Privilegien und Sicherheiten verlieren, bleibt oft nur blinder Zorn. Davidson und Rees-Mogg prophezeien ziemlich genau das, was sich in den 2010ern tatsächlich in Teilen zeigte: ein globaler Backlash von Populismus, anti-globaler Rhetorik, Protektionismus, Ethnonationalismus. Sie benennen Feindbilder (Immigranten, Globalisten, Reiche) und Taktiken (Abschottung, notfalls Gewalt). Dieses Kapitel liefert somit auch Anleitungen zur Deutung aktueller Ereignisse: Man kann viele heutige Entwicklungen (z.B. Brexit, Trump, Anti-Tech-Bewegungen) darin wiederfinden. Aus Sicht der Autoren ist das jedoch eine vorübergehende Phase, die das Alte nicht retten wird, sondern nur den Übergang unruhiger macht. Die neuen “Ludditen” werden letztlich scheitern wie die alten, weil die megapolitischen (technologischen) Kräfte stärker sind. Der Ton ist dabei keineswegs triumphalistisch, sondern nüchtern zukunftsgewiss: Das Neue setzt sich durch, aber bereitet euch auf turbulente Zeiten vor.
Kapitel 10 – Die Dämmerung der Demokratie
Zentrale Thesen: In Kapitel 10 kulminiert die politische Analyse des Buches: Davidson und Rees-Mogg widmen sich dezidiert der Zukunft (bzw. Nicht-Zukunft) der Demokratie. Ihre steile These: Die repräsentative Massendemokratie des Industriezeitalters nähert sich ihrem Ende. Was im 19. und 20. Jahrhundert als weltgeschichtlich siegreiches Modell galt, wird im Informationszeitalter an Bedeutung verlieren oder verschwinden. Der Titel „Dämmerung der Demokratie“ deutet an, dass die Autoren die Demokratie bereits im Zwielicht sehen – es bricht die Nacht herein für dieses System.
Zur Untermauerung beginnen sie historisch: Demokratie sei „in historischer Hinsicht eine neuere Angelegenheit“, die es vor der Moderne nur kurz in der Antike gab, dann erst wieder ab dem späten 18. Jahrhundert auftauchte . Und weiter: „Ein Zyklus der Ablehnung [der Demokratie] könnte nun wieder begonnen haben.“ . Sie konstatieren: „Es ist kein Geheimnis, dass Demokratie in der Geschichte der Regierungen relativ selten und vergänglich war.“ . Diese historische Relativierung soll verdeutlichen: Die Selbstverständlichkeit, mit der man Ende des 20. Jh. Demokratie als “Endpunkt der Geschichte” (Fukuyama) sah, ist irrig.
Dann bringen sie ihre Kernargumentation: Demokratie konnte in der Vergangenheit nur unter bestimmten megapolitischen Bedingungen Erfolg haben – nämlich wenn die “militärische Macht der Massen” hoch war . Der Historiker Carroll Quigley wird zitiert mit Bedingungen: Waffen müssen billig und einfach für Laien bedienbar sein (z.B. Gewehre), Infanterie muss dominieren – dann haben breite Bevölkerungen Gewicht und drücken auf politische Mitsprache . Das traf z.B. im antiken Griechenland (Hoplitensoldaten) und in gewisser Weise im frühen Industriezeitalter (Wehrpflichtarmeen) zu. Aber im späten 20. Jh. war genau das nicht mehr der Fall: Waffen wurden teuer (Panzer, Jets, Atom) und erforderten Spezialisten . Dennoch schien Demokratie zu florieren. Dies ist das “Paradox”, das die Autoren erklären wollen.
Ihre Erklärung ist sehr provokant: Demokratie blühte gerade deshalb, weil sie – ähnlich wie der Kommunismus – dem Staat erlaubte, ungehindert über die Ressourcen der Gesellschaft zu verfügen. Sie nennen Demokratie und Kommunismus „Zwillingsbrüder“ . Das klingt zunächst absurd, denn im Kalten Krieg galt ja Demokratie als Gegenmodell zu kommunistischer Diktatur. Aber aus der “megapolitischen Perspektive”, argumentieren sie, hatten beide Systeme etwas Wesentliches gemeinsam: Sie mobilisierten nahezu das gesamte Gesellschaftsvermögen für staatliche Zwecke . Demokratie tat dies sogar effektiver, da sie mit Marktwirtschaft und Privateigentum kompatibel war und so mehr Wohlstand generieren konnte, den man dann besteuern konnte . Sie sagen: „In einem Kontext, in dem Waffen grotesk teuer waren, wurde die Demokratie zum Entscheidungsmechanismus, der die Kontrolle über Ressourcen durch den Staat maximiert.“ . Also: Weil im Atomzeitalter der Staat Unmengen Geld für Rüstung brauchte, brauchte er ein System, das die Menschen dazu brachte, ihm dieses Geld bereitzustellen – und das war die demokratische Besteuerung.
Sie gehen so weit zu behaupten: „Der demokratische Wohlfahrtsstaat legte sogar noch mehr Ressourcen in die Hände des Staates als es die kommunistischen Systeme tun konnten.“ . Und weiter: „Als Mechanismus zur Ressourcensammlung war der demokratische Staat dem staatlichen Sozialismus überlegen.“ . Der Grund: Er erlaubte Privateigentum, die Leute ackerten freiwillig, und dann holte sich der Staat mittels Steuern und Sozialabgaben einen Großteil des Erwirtschafteten . Kommunismus hingegen ruinierte die Wirtschaft, sodass der Staat am Ende weniger abschöpfen konnte, obwohl er formal alles besaß. Paradoxer Befund: Demokratie war aus Staatssicht (sprich dem Ziel maximaler Ressourcen für Machterhalt und Gewalt) effizienter als Kommunismus.
Zum Beleg führen sie sehr hohe effektive Steuersätze an: In den USA 1996 summierten sich alle Bundessteuern auf 73% des lebenslangen Einkommens; Dividendenempfänger zahlten 83%; wer Vermögen an Enkel vererben wollte, hätte theoretisch 99% Abgaben (Einkommen-, Kapitalertrag- plus Erbschaftsteuer) . Rechnet man noch Bundestaat- und Lokalsteuern hinzu, so die Autoren, konfiszierte „eine demokratische Regierung … den Löwenanteil jedes … verdienten Dollars“ – de facto war sie Partner mit 75%–90% Anteil. „Das war sicherlich nicht dasselbe wie Staatssozialismus. Aber es war eine enge Verwandtschaft.“ . Dieser Vergleich ist die Quintessenz ihres Arguments: Demokratie hat wirtschaftlich so viel vom Bürger genommen, dass sie fast wie Sozialismus wirkte – nur auf subtilere Weise.
Folgerungen: Wenn nun im Informationszeitalter diese gewaltigen staatlichen Mittelbeschaffungsaktionen nicht mehr nötig oder möglich sind (z.B. weil keine Riesenheere mehr gebraucht werden oder die Reichen ihr Geld schützen können), dann entfällt der raison d’être für die Massendemokratie in bisheriger Form. Ohne die Notwendigkeit, Massenloyalität für Kriege und Rüstungswettläufe zu sichern, wird Demokratie – so suggerieren die Autoren – von den Eliten als hinderlich empfunden werden, oder von den Bürgern als irrelevant, da der Staat ja ohnehin weniger macht. Außerdem, wenn das Steueraufkommen wegen Cyberökonomie und Steuerflucht einbricht, funktioniert der Wohlfahrtsstaat nicht mehr. Demokratie, die verspricht, man könne sich per Mehrheit Geld zuteilen, wird enttäuscht.
Die Autoren charakterisieren dies auch als “Ineffizienz, wo es darauf ankam” : Demokratie war gut darin, ineffizient zu sein, wo es nicht so wichtig war (Wohlfahrtsstaats-Konsum etc.), aber effizient, wo es wirklich darauf ankam – nämlich in der Mobilisierung gigantischer Ressourcen für den Staat. Gegenüber Kommunismus war sie effizienter, gegenüber purem Laissez-faire (Hongkong) aber ineffizient. Zitat: „Verglichen mit dem Kommunismus war der Wohlfahrtsstaat ein viel effizienteres System. Aber im Vergleich zu einer echten Laissez-faire-Enklave wie Hongkong war der Wohlfahrtsstaat ineffizient.“ . Hongkong hatte fantastische Wachstumsraten, was die Autoren als Beleg nehmen, dass dem Staat weniger Geld zu geben, volkswirtschaftlich besser ist – aber eben weniger Macht für den Staat bedeutet.
Prognose: Wenn nun das Informationszeitalter “Hongkongs” überall ermöglicht (durch die zuvor genannten virtuellen Fluchtmöglichkeiten), werden Demokratien im Wettbewerb alt aussehen. Die Autoren haben bereits in Kap. 1 explizit vorhergesagt: „Die repräsentative Demokratie, so wie wir sie heute kennen, [wird] verschwinden und durch die neue Demokratie der Wahlfreiheit auf dem Cybermarktplatz ersetzt werden.“ . In Kap. 10 untermauern sie theoretisch, warum: Der Staat braucht’s nicht mehr bzw. kann sich’s nicht mehr leisten. Politik wird “vielfältiger, aber weniger bedeutend” sein als gewohnt . Das deutet auf choice-based governance hin – vielleicht konkurrierende Anbieter von Sicherheit/Verwaltung, aus denen man wählen kann (eine Vision, die heutige “Free Private Cities” Konzepte erinnert).
Narrative und Beispiele: Kapitel 10 belegt seine Thesen mit historischen Anekdoten. Sie erwähnen etwa, dass in der amerikanischen Frühzeit nur ~10% (die Steuerzahlenden) überhaupt wählen durften – nach ihrem Dafürhalten gar kein schlechtes Modell, weil nur die Nettosteuerzahler bestimmen. Sie entzaubern auch den gängigen Kontrast Demokratie vs. Kommunismus: Sie sagen, wir seien so gewöhnt, Demokratie als Gegenteil von Kommunismus zu sehen, dass wir ihre Gemeinsamkeiten übersehen . Sie versuchen also den Leser aus dem ideologischen Schwarz-Weiß-Denken zu lösen und auf ihre meta-ökonomische Sicht einzuschwören.
Sprache und Ton: Kapitel 10 ist argumentativ zugespitzt, aber weniger polemisch im Ton als sachlich-provokativ. Es will den Aha-Effekt erzeugen: “Demokratie=Kommunismus? Wie bitte?” – um dann mit Zahlen den Schock zu relativieren. Der Ton bleibt dabei professorial, man fühlt sich an einen dozierenden Historiker erinnert, der ein Paradox löst.
Ein markantes Zitat: „Wenn man es nüchtern lediglich als Mechanismus zur Ressourcensammlung betrachtet, war der demokratische Staat dem staatlichen Sozialismus überlegen.“ . Hier wird die Pointe sachlich serviert. Auch: „Die räuberischen Steuersätze machten den demokratischen Staat zu einem de facto Partner … Das war … eine enge Verwandtschaft [zum Kommunismus].“ . Der Begriff “räuberisch” fällt erneut, diesmal für Steuersätze in Demokratien – wieder klare Wertung: Der Staat stahl vom Bürger.
Abschließende Prognose: Die Autoren haben im Buch verteilt oft betont, dass Wahlrecht und Demokratie eher Folge als Ursache der Nationalstaat-Macht waren . Jetzt, da der Nationalstaat wankt, werden auch Demokratie und Staatsbürgerschaft wanken . Sie sagen: „Die Massendemokratie und das Konzept der Staatsbürgerschaft blühten auf, als der Nationalstaat wuchs. Sie werden ins Wanken geraten, wenn der Nationalstaat ins Wanken gerät.“ . Das ist die Klammer um ihre Argumentation: Demokratie war eine Phase, kein Endzustand.
Was kommt danach? Hier sind sie wie erwähnt vage: Demokratie der Wahlfreiheit auf dem Cybermarktplatz – man könnte interpretieren, dass gemeint ist: Statt periodisch Vertreter zu wählen, wählen Individuen künftig direkt zwischen verschiedenen (privaten) Governance-Angeboten aus, quasi wie man Mobilfunkanbieter wechselt. Das Buch liefert aber kein ausgearbeitetes Modell einer Nach-Demokratie. Es bleibt bei der Feststellung, dass die alte Form (Nationalstaat mit allgemeinem Wahlrecht und Gebietsmonopol) ausgedient hat, und dass dies zu begrüßen sei, weil diese Form in ihren Augen Gleichheit verhieß, aber Knechtschaft brachte (siehe Steuersklaverei).
Zwischenfazit Kapitel 10: Kapitel 10 rundet die politische Analyse mit einem echten Tabubruch ab: die Infragestellung der liberalen Demokratie, die gemeinhin als unantastbarer Wert galt. Indem sie Demokratie als zweckrationales Werkzeug entzaubern, nehmen Davidson und Rees-Mogg Abschied von einem Kernstück der Moderne. Für den Leser ist dies vielleicht der ideologisch brisanteste Teil, da hier die Autoren offen gegen die heilige Kuh “Volksherrschaft” argumentieren. Ihre Perspektive ist elitär-utilitaristisch: Demokratie war nützlich, solange sie dem Staat (und indirekt der kollektiven Sicherheit) diente; wird sie un-nütz, verschwindet sie. Das ist ein klarer Bruch mit jeder idealistischen Auffassung von Demokratie als Wert an sich. Damit positioniert sich das Buch deutlich im libertären Lager, welches individuelle Souveränität über kollektive Entscheidungsprozesse stellt. In der Summe bereitet Kapitel 10 gedanklich auf eine Welt vor, in der Politik viel weniger relevant ist – das hatten sie schon in Kap. 4 gesagt – und wirtschaftliche Austauschbeziehungen anstelle von Wahlen treten. Dieser Gedanke wird im Nachwort weitergeführt, wo Dezentralisierung und das Gesetz abnehmender Erträge (für Gewaltanwendung) besprochen werden.
Kapitel 11 – Moral und Verbrechen in der „natürlichen Wirtschaft“ des Informationszeitalters
Zentrale Thesen: Kapitel 11 blickt in die Übergangsphase und die beginnende Ära einer „natürlichen Wirtschaft“ – einem Wirtschaftsleben, das sich ohne staatliche Überwölbung entfaltet (daher “natürlich”). Die Hauptthese hier: Wenn der Staat zerfällt, wird es zu einer Zunahme von Kriminalität, Korruption und quasi-feudalen Strukturen kommen, bevor sich eine neue Ordnung etabliert. Die Autoren malen ein düsteres Bild: Schon jetzt sei Korruption weit verbreiteter und universeller als gedacht – in Entwicklungsländern sowieso, aber zunehmend auch in Industrieländern . Hohe Amtsträger (Staatschefs, Minister) würden der Korruption beschuldigt; dies stelle eine „Privatisierung des Staates“ dar, allerdings in pervertierter Form: Nicht der Markt übernimmt, sondern einzelne Beamte eignen sich öffentliche Macht privat an .
Sie prognostizieren, dass der moderne Nationalstaat sich auflöst und „Barbaren der Neuzeit“ – sprich organisierte Kriminelle, Mafia-Clans, Drogenkartelle, ehemalige Geheimdienstler – „zunehmend die tatsächliche Macht hinter den Kulissen ausüben“ . Gruppen wie russische Mafia, ethnische Verbrecherbanden und Drogensyndikate werden zu „Rechtsstaaten in sich selbst“ . Diese neuen “Fürsten der Unterwelt” haben die Formen des Staates bereits infiltriert, ohne dessen äußeres Erscheinungsbild stark zu verändern . Sie seien „Mikroparasiten, die sich von einem sterbenden System ernähren“ – so brutal formulieren die Autoren den Gedanken, dass der Staat von innen her ausgehöhlt wird. Diese Gruppen sind „ebenso gewalttätig und skrupellos wie ein Staat im Krieg“ und wenden staatliche Methoden (Gewaltmonopol) im Kleinen an .
Kurz gesagt: Organisierte Kriminalität übernimmt staatliche Funktionen (Schutzgelder = Steuern, Territorien kontrollieren, eigene “Gesetze” durchsetzen). Das passt zur historischen Analogie: Nach dem Fall Roms übernahmen teils lokale Warlords und Banditen die Macht; hier sehen sie moderne Pendants.
Die Autoren betonen, das sei bereits der Fall, ohne dass es groß bemerkt wurde . Die Folge ist eine Verkleinerung der Politik: Gewalt wird zunehmend „außerhalb zentraler Kontrollen organisiert“, und Versuche, Gewalt einzudämmen, setzen mehr auf Effizienz als Größe . Das heißt z.B.: Private Sicherheitsdienste, Hightech-Überwachung etc. könnten lokale Sicherheit gewährleisten, während der große Staat es nicht mehr flächendeckend kann.
Sie sprechen von „heimtückischer und düsterer Variante eines schlechten Films – die Invasion der Körperfresser“ . Bevor Staaten sichtbar kollabieren, werden sie von getarnten Barbaren beherrscht sein . Das Bild “Invasion der Körperfresser” (ein Sci-Fi-Film, in dem Aliens Menschen übernehmen) soll verdeutlichen: Nach außen sieht der Staat vielleicht noch nach Staat aus (Politiker, Gerichte, Polizei existieren nominell), aber innen drin steckt schon das “Alien” – Kriminelle, die eigene Agenda verfolgen. Beispielsweise könnte ein Mafiaboss einen Politiker steuern, oder korrupte Beamte plündern die Staatskasse.
Dies führt zu einer Zunahme intensiver Korruption. „Das Ende einer Ära ist normalerweise eine Zeit intensiver Korruption“ . Die Bindungen ans alte System lösen sich, ebenso der soziale Ethos – wodurch Leute in hohen Positionen öffentliche Anliegen mit privaten kriminellen Aktivitäten vermischen können .
Dabei warnen die Autoren: Man kann sich nicht auf normale Informationskanäle (Medien) verlassen, um zu erkennen, wie der Staat verfällt . Sie sprechen von einer „hartnäckigen Täuschung“, die den Untergang Roms verschleierte, und glauben, so verhüllt sich auch der Niedergang des Nationalstaates . Die Nachrichten werden die Wahrheit nicht offen sagen. Sie nennen mehrere Gründe: Viele Medien sind „konservativ in dem Sinne, dass sie die Parteien der Vergangenheit repräsentieren“, andere haben ideologische Scheuklappen (Sozialismus oder Nationalstaat), wieder andere haben Angst (vor Repression oder Jobverlust) . Und: Reporter und Redakteure seien genauso bestechlich oder befangen wie andere auch . Daher könnten eigentlich verlässliche Medien sich als überraschend unzuverlässig erweisen, teils weil sie ein schwankendes System stützen wollen . „Viele werden andere Beweggründe haben … Sie werden wenig sehen und noch weniger erklären.“ . Eine heftige Medienkritik – implizit ermuntern die Autoren den Leser, selbst hinter die Kulissen zu schauen.
Künstliche Realität und Wahrheitskrise: Unter der Überschrift „Jenseits der Realität“ diskutiert Kapitel 11 dann noch eine andere Facette: die Manipulation der Wahrnehmung im Informationszeitalter. Sie prognostizieren, dass mit immer besseren Virtual-Reality-Technologien und Computergrafik man sich seine Nachrichten selbst zusammenstellen kann . Wenn jemand z.B. sehen will, wie er selbst Olympiasieger wird, kann er das als personalisierte “Nachrichtensendung” bestellen . Jede gewünschte Story – wahr oder falsch – wird auf dem personalisierten TV/Computer abgerufen werden können, „mit größerer Wahrhaftigkeit als alles, was NBC oder BBC derzeit vorweisen können“ .
Das heißt, die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr verschwimmt total, weil man beliebig glaubwürdige Simulationen erzeugen kann. Daher werde die „Integrität des Urteils“ und die Fähigkeit, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden, „noch wichtiger“ werden . Sie stellen jedoch auch fest, dass diese Verwischung nicht völlig neu ist – auch bisher wurden Wahrheiten aus verschiedenen Gründen verzerrt, aber die Technologie verstärkt es .
Sie weisen darauf hin, dass Regierungen zwar Handel mit Gütern behindern können (Zölle, Kontrollen), aber „viel weniger tun können, um die Übertragung von Informationen zu stoppen“ . Das Beispiel mit Moskau 1991 (siehe oben) unterstreicht das . Hier zeigt sich: Während einerseits Info genutzt wird, um Propaganda und Illusion zu schaffen (Deep Fakes etc.), gibt es andererseits die Unaufhaltsamkeit von Information: Wahrheiten (oder auch Lügen) finden ihren Weg.
In der Summe entsteht ein Bild: Die Endphase des alten Systems ist moralisch verwahrlost (Korruption, Kriminalität im Nadelstreif) und epistemisch chaotisch (man weiß kaum noch, was echt ist). Dies ist gleichsam die “düstere Nacht vor der digitalen Morgendämmerung” – die Autoren deuten aber an, dass diese Phase vorübergeht, wenn erst das neue System sich durchsetzt (nach dem Peak der nationalistischen Reaktion, siehe Kap. 9).
Sprache und Tonebene: Kapitel 11 ist in Teilen fast thrillerhaft geschrieben. Die Invasion der Körperfresser-Metapher ruft ein Horrorfilm-Feeling hervor. Begriffe wie “Barbaren”, “Mikroparasiten”, “Körperfresser” sind sehr emotiv. Das unterstreicht, dass die Autoren hier kein Hehl daraus machen, wie schlimm sie den Zustand sehen. Der Spott gegenüber Medien (“so tun, als würden sie alles berichten, während sie in Wahrheit…” ) zeigt ihre Enttäuschung oder Kritik am Establishment.
Die Beschreibung der künftigen personalisierten Medien (Nachrichten nach Wunsch) wirkt geradezu satirisch – aber im Grunde beschreiben sie Phänomene, die wir heute ansatzweise kennen (algorithmische Filterblasen, Deepfake-Entertainment etc.). Der Ton bleibt dennoch belehrend: “Wir bewegen uns rasant auf eine Welt zu…” , “Dies wird erhebliche Auswirkungen haben…” .
Quellen und Beispiele: Sie zitieren Vito Tanzi (einen bekannten Ökonomen vom IWF) zu weltweiter Korruption . Dies verleiht Glaubwürdigkeit: Es ist nicht nur ihr Eindruck, es gibt Studien. Historisch nutzen sie das Römische Reich als Folie (Cambridge History Zitate über Flucht und Zwang , wie bereits in Kap. 5 besprochen) und analog die Inquisition und Religionskriege (Kap. 9). So flechten sie Warnungen aus der Geschichte ein: Wenn Normen zerfallen, drohen dunkle Zeiten (Inquisition, Barbarei).
Moral in der “natürlichen Wirtschaft”: Interessant ist, dass im Titel Moral erwähnt wird. Im Text selber kommt Moral eher indirekt vor – etwa, dass der „soziale Ethos“ sich auflöst . Gemeint ist wohl: Viele Menschen verlieren in der Umbruchszeit moralische Hemmungen, es herrscht “jeder für sich” Mentalität. Das wäre die “natürliche” (im Sinne von ungeregelte) Wirtschaft: ohne staatliche Durchsetzung von Regeln testen viele die Grenzen aus. Erst nachdem sich vielleicht neue, freiwillige Regelwerke etabliert haben, normalisiert sich Moral wieder. Aber dazu äußern sie sich kaum – vermutlich weil sie annehmen, dass in der von ihnen idealisierten Welt der souveränen Individuen dann Markt-Regeln und Vertragsfreiheit die Moral ersetzen.
Zwischenfazit Kapitel 11: Dieses Kapitel schließt den analytischen Teil des Buches mit einem ernsten Ausblick: Die Übergangsphase wird moralisch und sicherheitstechnisch chaotisch. Die Leser werden indirekt gewarnt: Traut nicht blind euren Anführern, seid euch bewusst, dass Schattenmächte (Mafia, Kartelle) an Einfluss gewinnen. Gleichzeitig muss man lernen, eigenverantwortlich Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, da man sich auf gewohnte Institutionen (Presse, Behörden) nicht mehr verlassen kann. Dies ist quasi das “survival training” Kapitel. Die natürliche Wirtschaft scheint hier eher als unregulierte Wildwest-Ökonomie beschrieben: Viel Freiheit, aber auch viel Risiko und wenig Sicherheit. Das entspricht wiederum dem zugrunde liegenden Weltbild der Autoren: Sie akzeptieren (wenn nicht feiern) eine Welt, in der staatliche Garantien (etwa für Sicherheit oder Redlichkeit) schwinden, weil sie glauben, talentierte Individuen werden sich eigene Sicherheiten schaffen und damit besser fahren. Das souveräne Individuum muss also auch in moralischer Hinsicht souverän werden – es darf sich nicht auf einen gesellschaftlichen Moralkonsens oder staatliche Strafverfolgung verlassen, sondern muss in einer Täuschungs- und Unsicherheits-Umgebung bestehen.
Im Buch klingt es wie der Tiefpunkt, bevor es besser wird. Tatsächlich endete die Originalausgabe (1997) danach. Die deutsche Ausgabe 2024 enthält noch ein Nachwort der Autoren von 1999, das auf Dezentralisierung und das Gesetz des abnehmenden Ertrags eingeht – letztlich bekräftigen sie darin, dass große Organisationen jenseits eines Optimums ineffizienter werden, was die Kleinteiligkeit der Info-Ära begünstigt. Es untermauert das Vertrauens der Autoren in Dezentralisierung als Zukunftsprinzip.
Abschließende Bewertung: Relevanz und ideologische Ausrichtung von Das souveräne Individuum
James Dale Davidson und Lord William Rees-Mogg haben mit “Das souveräne Individuum” ein Werk vorgelegt, das gleichermaßen visionär wie kontrovers ist. Aus heutiger Sicht (Mitte der 2020er Jahre) erweist sich vieles von ihrer Analyse als bemerkenswert vorausschauend, anderes als einseitig oder überzeichnet. Die Relevanz des Buches liegt vor allem darin, dass es schon vor über 25 Jahren Kernentwicklungen antizipierte, die unsere Gegenwart prägen. Beispielsweise haben sich die Autoren geradezu prophetisch zur Rolle der Kryptowährungen geäußert: Sie sagten voraus, dass privates, kryptographisch abgesichertes Geld entstehen würde, das staatliche Währungen herausfordert . Tatsächlich ist mit Bitcoin & Co. eine solche Cyber-Währung Realität geworden – noch haben diese zwar nicht das Fiat-Geld abgelöst, aber nach Finanzkrisen und Inflationsschüben sind sie zu einem etablierten Phänomen geworden . Auch die beschriebenen Kapitalflucht-Tendenzen und Steuervermeidungsstrategien globaler Eliten kann man heute täglich beobachten: Multinationale Konzerne verlegen Gewinne in Steueroasen, Digitalkonzerne entziehen sich nationalen Regulierungen, “digitale Nomaden” arbeiten weltweit, wo es ihnen beliebt. Insofern war das Buch seiner Zeit voraus und bietet noch immer einen ergiebigen Deutungsrahmen für Phänomene wie Globalisierungskritik, Populismus oder die Krise des Sozialstaats. Die heftigen populistischen Gegenreaktionen, die sie prognostizierten – anti-globaler Nationalismus, Wut auf Eliten, Fremdenfeindlichkeit – sind im vergangenen Jahrzehnt tatsächlich in vielen Ländern virulent geworden . Die Autoren lieferten gewissermaßen eine Frühdiagnose jener Spannungen, die heute in Brexit, Trumpism oder europäischen Rechts-außen-Parteien sichtbar sind. Dafür verdient das Buch Beachtung.
Allerdings muss man das Werk auch kritisch in seiner ideologischen Schlagseite verorten. Das souveräne Individuum ist klar von einer libertär-neoliberalen Ideologie durchdrungen. Die Autoren argumentieren konsequent aus der Perspektive der ökonomisch leistungsfähigen Individualisten, die den Staat nicht als Schutzgemeinschaft, sondern primär als Bürde und Ausbeuter sehen. Sie begrüßen implizit eine Welt, in der Wohlstandsunterschiede größer werden, weil dies ihrer Ansicht nach den Leistungsprinzipien entspricht . Die Sprache verrät hier viel: Von „wert- und qualifikationsarmen“ Menschen ist die Rede, die „früher ein hohes Einkommen genossen haben“ – im Subtext schwingt mit, diese “Mittelmäßigen” hätten es eigentlich nicht verdient gehabt. Solche Formulierungen – ebenso wie das Zitat über 90 Millionen „so dumme“ Amerikaner – zeigen eine elitäre, wenig empathische Haltung gegenüber jenen, die im Strukturwandel zurückbleiben. Kritiker könnten darin einen Sozialdarwinismus erkennen: Die Fitteren (hier: Hochqualifizierten, Kapitaleigner) setzen sich durch; für die Schwächeren haben die Autoren kaum konstruktive Vorschläge außer dem Hinweis, dass deren Unmut wohl in Gewalt münden wird (und dann vorbeigeht).
Zudem ist das Buch trotz vieler richtiger Trendanalysen einseitig in der Bewertung. Jede Form kollektiver Lösung oder politischen Ausgleichs (Demokratie, Sozialstaat, Gewerkschaft) wird negativ konnotiert – als Betrug, als ineffizient oder moralisch korrupt . Dabei blenden die Autoren aus, dass diese Institutionen historisch nicht nur der Ressourcenkonzentration, sondern auch der Stabilisierung und Befriedung dienten. Ihr Bild des demokratischen Staates als bloßer „räuberischer“ Steuerkartell unterschlägt, dass eben jene Staaten im 20. Jahrhundert Bildung, Infrastruktur, Rechtsstaatlichkeit und breiten Wohlstand förderten – Grundlagen, ohne die auch keine Cybereconomy florieren könnte. In ihrer Begeisterung für die neuen technischen Freiheiten gehen Davidson und Rees-Mogg moralische oder soziale Fragen kaum an. Was bedeutet es gesellschaftlich, wenn Sicherheit nur noch privat gekauft wird? Was passiert mit den Milliarden Menschen, die nicht zur digitalen Elite gehören? Hier bleibt das Buch Antworten schuldig oder begnügt sich mit – aus heutiger Sicht – fragwürdigen Pauschalen (z.B. der Annahme, Entwicklungsländer würden alle profitieren und nur reiche Länder hätten Verlierer , was so nicht eingetreten ist; auch in Entwicklungsländern gibt es Verwerfungen).
Ideologisch lässt sich Das souveräne Individuum am ehesten als radikalisiert-neoliberale Zukunftsvision einordnen, oft auch mit dem Schlagwort “Cyber-Libertarianismus” bedacht. Es steht in einer Tradition mit Werken wie Hayeks “Der Weg zur Knechtschaft” (Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat) oder den techno-anarchistischen Schriften der Cypherpunks. Allerdings gehen Davidson und Rees-Mogg noch weiter: Sie sagen nicht nur, dass der Staat schlecht ist, sondern dass er ohnehin in die Bedeutungslosigkeit gezwungen wird – und dass dies gut so sei. Damit enthalten ihre Thesen auch eine starke normative Komponente: Der Staat soll gar nicht gerettet werden, Demokratie soll ruhig weichen – denn das souveräne Individuum wird es besser machen. Diese normative Freude am Kollaps staatlicher Strukturen teilen längst nicht alle Zukunftsdenker; viele würden die sozialen Kosten und Gefahren betonen.
Dennoch – oder gerade deshalb – ist das Buch bis heute eine wichtige Diskussionsgrundlage. Es zwingt dazu, über liebgewonnene Annahmen (z.B. Ewigkeitswert der Demokratie, Rolle des Nationalstaats) neu nachzudenken und sie an harten ökonomischen Realitäten zu messen. Einige der provokantesten Aussagen (etwa “Demokratie und Kommunismus waren Zwillinge” ) entpuppen sich bei genauer Analyse nicht als platte Polemik, sondern als Gedankenspiel mit realem Kern – nämlich dass beide Systeme in der Hochphase der Industrialisierung enorme staatliche Durchdringung des Lebens bedeuteten. Solche Perspektiven erweitern den Horizont, auch wenn man sie nicht vollständig teilt.
In Summe ist Das souveräne Individuum ein Werk, das hellsichtig, aber parteiisch ist. Es liefert einen analytischen Rahmen, um viele gegenwärtige Trends – Digitalisierung, Steuerwettbewerb, Populismus, Staatskrisen – zu verstehen . Gleichzeitig vertritt es unverhohlen eine Ideologie des ungezügelten Individualismus und Marktradikalismus, die man kritisch hinterfragen muss, insbesondere was die humanen Konsequenzen angeht. Für Laien und Entscheidungsträger bietet das Buch eine Fülle an Denkanstößen: von der Frage, wie man in einem entgrenzten Cybermarkt noch Regulierung gestalten kann, bis zur Überlegung, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt erhalten werden kann, wenn traditionelle Institutionen erodieren. Die “Schlagseite” des Werks – libertär und techno-optimistisch – sollte dabei jedoch immer mitreflektiert werden. Letztlich liest sich Das souveräne Individuum heute sowohl als teilweise erfüllte Prophezeiung eines neuen Zeitalters, als auch als ideologisches Manifest einer neuen Elite, die ihren Aufstieg feiert. Beide Aspekte machen es zu einer aufschlussreichen Lektüre in der Debatte um die Zukunft von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Informationszeitalter.
Quellen: Die Analyse stützt sich auf Originalzitate und Kapitelinhalte aus “Das souveräne Individuum” (dt. Übers. 2024) , auf historische und ökonomische Referenzen im Buch (etwa Quigley, Huizinga, Tanzi) sowie auf die Einordnungen in den Vorworten der deutschen Ausgabe . Diese zeigen, dass das Buch auch heute noch als bedeutsam wahrgenommen wird – gerade weil vieles davon “später eingesetzt hat, als die Autoren vermutet haben; aber es ist jetzt im vollen Gange” . Die hier dargestellten Schlussfolgerungen berücksichtigen sowohl die prognostische Treffsicherheit der Autoren in bestimmten Punkten wie auch ihre normative Färbung, um dem Leser ein ausgewogenes Verständnis dieses einflussreichen, aber polarisierenden Werkes zu vermitteln.