„Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit.“ – Marc Aurel
Mit dieser stoischen Mahnung erinnert uns Kaiser Marc Aurel an die Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung. Unsere Urteile beruhen oft auf subjektiven Eindrücken statt objektiver Gewissheit.
Wahre Weltklugheit entsteht erst, wenn wir diese eigenen Verzerrungen erkennen und demütig akzeptieren. Genau hier setzt das vorliegende Buch an:
Es zeigt, wie leicht wir uns täuschen lassen – und wie wir durch kluge Gestaltung unserer Umgebung bessere Entscheidungen treffen können.
Kurzzusammenfassung (Klappentext)
Nudge – The Final Edition entführt in die faszinierende Welt der Verhaltensökonomie und zeigt, wie winzige Stupser unsere Entscheidungen lenken können. Die Nobelpreisträger Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein präsentieren unterhaltsam und einsichtsreich, warum Menschen oft nicht das wählen, was für sie am besten ist – und wie man das ändern kann, ohne ihre Freiheit einzuschränken.
Anhand lebendiger Alltagsbeispiele lernen wir „Entscheidungsarchitekten“ kennen, die mit cleveren Kniffen – ob in der Schulkantine, beim Organspendeformular oder auf der Stromrechnung oder bei der Bezahlung der Steuerlast – unser Verhalten sanft beeinflussen. Das Buch entfaltet ein neues Politik- und Lebenskonzept namens libertärer Paternalismus: ein Ansatz, der Freiheit bewahrt und doch dabei hilft, gesundere, reichere und glücklichere Entscheidungen zu fördern. Dieses abschließende Dossier zur Final Edition liefert nicht nur die zentralen Thesen und überraschenden Erkenntnisse jedes Kapitels, sondern macht mit prägnanten Originalzitaten Lust darauf, die gesamte Reise selbst anzutreten – eine Reise zu klügeren Entscheidungen und zu einem tieferen Verständnis unserer menschlichen Natur.
Politische Einordnung
Wo verortet man „Nudge“?
Thaler und Sunstein positionieren ihr Konzept als eine unideologische Synthese, die klassisch liberale Freiheitsrechte mit fürsorglicher Politik verbindet – sie nennen es augenzwinkernd „libertären Paternalismus“. Im Kern bedeutet das: Staat und Unternehmen dürfen Menschen sanft anschubsen, ohne Zwang auszuüben oder Optionen zu verbieten. Politisch passt dieses Konzept weder klar links noch rechts in gängige Schubladen.
Es wurde weltweit von ganz unterschiedlichen Lagern aufgegriffen – vom konservativen britischen Premier David Cameron, der als Erster eine eigene „Nudge Unit“ einrichtete, bis zum liberalen US-Präsidenten Barack Obama, der ein eigenes verhaltenswissenschaftliches Team im Weißen Haus aufbaute.
Technokratisch ist der Ansatz insofern, als er Expertise und empirische Evidenz in den Vordergrund stellt: Entscheidungen sollen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über menschliches Verhalten beruhen. Behörden und Organisationen können mithilfe von Behavioral Insights ihre Programme effizienter und wirksamer gestalten. Davon profitieren Idealisten und Pragmatiker gleichermaßen –
jeder, der Politik smarter statt strenger machen will.
Wer hat Nutzen davon? In erster Linie Bürgerinnen und Bürger, die oft unbewusst zu besseren Entscheidungen geführt werden, seien es mehr Altersvorsorge, gesündere Ernährung oder rechtzeitiges Steuerzahlen. Aber auch Entscheidungsträger und Institutionen finden in Nudge einen Schatz an Instrumenten, um Politikziele kostengünstig und freiwillig umzusetzen.
Kein Wunder also, dass sowohl Gesundheitsministerien als auch Finanzbehörden, Stadtplaner wie Versicherungskonzerne Interesse zeigen.
Ein Beispiel: Anstatt teure Regulierung vorzuschreiben, kann ein leichter Anstoß – etwa eine Standardeinstellung für Ökostrom – große Wirkung entfalten, ohne Wirtschaft oder Bürger zu bevormunden.
Wie realitätsnah ist das? Thaler und Sunstein verschließen nicht die Augen vor der Komplexität echter Politik.
Sie betonen, dass Nudges allein keine Allheilmittel sind – große Herausforderungen wie der Klimawandel lassen sich nicht alleine durch freundliche Schubser lösen. Zugleich zeigen empirische Studien, dass Nudges im Kleinen durchaus wirken: Sei es die automatische Anmeldung zu einer Altersvorsorge, die nachweislich zu höheren Ersparnissen führt, oder die Vergleichsanzeige des eigenen Stromverbrauchs mit dem der Nachbarn, die den Verbrauch im Schnitt um etwa 2 % senkt.
(die Versorger mögen das aber wieder eher anders sehen)
Kritiker von rechts monieren mitunter einen subtilen „Big Brother“-Ansatz; Kritiker von links befürchten, Nudging lenke von notwendigen strukturellen Reformen ab. Doch die Autoren begegnen solchen Vorwürfen selbstbewusst: Sie bestehen darauf, dass ihre „sanfte Führung“ stets die Wahlfreiheit respektiert – wer den angebotenen Pfad verlassen will, kann es mit einem Klick tun. Und sie stellen klar, dass Nudging keine Geheimagenda verfolgt, sondern den Menschen zu seinen eigenen Zielen helfen soll. „Wir betreiben einen Paternalismus der Mittel, nicht der Zwecke“, schreiben sie; Nudges sollen die Leute zu dem führen, was sie selbst wünschen würden, wären sie voll informiert und frei von Denkfehlern. So ist Nudge letztlich ein zutiefst demokratisches Konzept: Es traut den Menschen zu, mit einem kleinen Schubs das Richtige für sich zu tun, anstatt sie durch Verbote zu entmündigen. Gleichwohl warnen die Autoren auch vor naiver Euphorie – nicht jeder, der Nudges einsetzt, tut dies im edlen Sinne.
Sie erkennen an, dass es schlechte Entscheider geben kann, die selbst Nudging missbrauchen könnten, und dass wachsam kontrolliert werden muss, wer die Wahlarchitektur gestaltet. Insgesamt aber fügt sich „Nudge“ in eine politische Philosophie ein, die man als pragmatisch-progressiv bezeichnen könnte: Fortschritt durch sanfte, evidenzbasierte Interventionen, die im Alltag erprobt statt ideologisch diskutiert werden.
Kapitelweise Übersicht der Inhalte
Einleitung: Die Cafeteria und die Lektion der kleinen Dinge
Gleich zu Beginn schildern Thaler und Sunstein ein auf den ersten Blick triviales Experiment mit großer Wirkung. Carolyn, die fiktive Leiterin eines städtischen Schulcaterings, ändert ohne neue Speisen einzukaufen lediglich die Anordnung der Gerichte in mehreren Schulkantinen. Mal stehen Desserts vorn, mal hinten; hier liegen Pommes in Augenhöhe, dort die Karottensticks. Das Ergebnis überrascht selbst Experten:
Schon durch einfaches Umstellen der Speisen lässt sich der Konsum einzelner Lebensmittel spürbar erhöhen oder senken. Kinder griffen z.B. deutlich häufiger zu Obst und Gemüse, wenn diese gut sichtbar platziert waren, und ließen ungesunde Angebote links liegen, wenn sie versteckter präsentiert wurden.
Die zentrale Lektion: „Kleine Änderungen im Kontext können Menschen enorm beeinflussen“, und zwar zum Guten oder zum Schlechten. Es gibt also keine neutrale Anordnung – selbst eine scheinbar harmlose Entscheidung wie die Reihenfolge von Speisen steuert bereits das Verhalten. Diese Einsicht leitet zu dem Schlüsselbegriff des Buches über:
Wahlarchitektur.
Carolyn ist in ihrer Rolle nämlich eine „Entscheidungsarchitektin“. Wer immer den Rahmen gestaltet, in dem Menschen Entscheidungen treffen – sei es ein Kantinenleiter, ein Arzt, der Behandlungsalternativen erklärt, oder ein Beamter, der ein Formular entwirft –, übt damit Macht aus. Die Autoren betonen ausdrücklich: Man kann nicht nicht gestalten. So wie ein Gebäude-Architekt gezwungen ist, irgendwo Türen und Treppen einzubauen, gibt es auch bei Entscheidungen keine unverzerrte Präsentation.
Jede Anordnung – selbst eine zufällige – beeinflusst die Auswahl. Somit steht man vor der ethischen Frage: Wenn man ohnehin steuert, sollte man dann nicht versuchen, es zum Besten der Menschen zu tun? Thaler und Sunstein plädieren dafür, Wahlarchitektur bewusst einzusetzen, um Leute „besser zu stellen, als sie es ansonsten wären (nach ihrem eigenen Urteil)”. Diese Grundidee (Menschen subtil zu besseren Entscheidungen zu führen) nennt man auch Nudging, den sanften Stups. Der Einleitung zufolge umfasst dieser Ansatz all die kleinen Eingriffe, die Verhalten deutlich verändern, ohne Verbote oder Zwang auszuüben – idealerweise so, dass ein rationaler „Econ“ (homo oeconomicus) sie ignorieren könnte, ein normaler „Human“ aber positiv beeinflusst wird. Mit einem solchen Nudge könne man oft mehr erreichen als mit teuren Programmen oder harten Gesetzen – und das bei voller Wahrung der Wahlfreiheit.
Die Einführung liefert auch schon ein augenzwinkerndes Beispiel aus den Herren-Toiletten am Amsterdamer Flughafen Schiphol:
Dort hat man kleine schwarze Fliegen in die Urinale graviert, um die Männer instinktiv auf ein Ziel zu lenken – mit verblüffendem Erfolg. Die Putzkosten sanken drastisch; laut dem Erfinder wurde der „Herumspritz-Verlust“ um ganze 80 % reduziert. Dieses amüsante Detail veranschaulicht ein Grundprinzip: Aufmerksamkeit steuern.
Eine winzige Aufmerksamkeitslenkung (hier: ein in Keramik verewigtes Insekt) kann genügen, um Verhalten messbar zu verbessern.
Kapitel 1: Biases and Blunders – Wenn der Mensch in die Falle tappt
Im ersten Kapitel führen die Autoren vor Augen, warum wir überhaupt Nudges benötigen: Menschen (Humans) sind kognitiv fehlbar, während die Modellfigur des „Econs“ (des vollkommen rationalen Homo Oeconomicus) ein unerreichbares Ideal bleibt. Thaler und Sunstein erläutern grundlegende kognitive Verzerrungen (biases) und Denkfallen, in die wir alle immer wieder tappen. Sie spannen den Bogen von Wahrnehmungstäuschungen (etwa visuelle Illusionen, die unser automatisches Denken in die Irre führen) hin zu systematischen Fehlurteilen im Alltag. So neigen Menschen z.B. zu übertriebenem Optimismus – in Umfragen schätzen sich regelmäßig mehr als die Hälfte als überdurchschnittlich ein, sei es in der Schule, im Beruf oder im Straßenverkehr. (In einer Studiengruppe erwarteten beispielsweise weniger als 5 % der Studenten, schlechter als der Durchschnitt abzuschneiden, und über 50 % glaubten, sie gehörten zu den besten 20 %.) Solche statistischen Unmöglichkeiten entlarven unsere Selbstwahrnehmung als verzerrt.
Ein weiteres Beispiel ist der Ankereffekt:
Wird man etwa gefragt, ob Gandhi über 140 Jahre alt wurde, tendiert man danach zu einer viel höheren Schätzung seines Sterbealters, als wenn der Anker bei 40 Jahren gelegt wurde. Wir lassen uns also unbewusst von beliebigen Bezugswerten beeinflussen. Kapitel 1 beschreibt auch, wie unser Gehirn in zwei Modi arbeitet –
das Automatische System (schnell, intuitiv, impulsiv (nach D. Kahneman System 1)) und das Reflektive System (langsam, überlegt, analytisch (nach D. Kahneman System 2)).
Anhand populärkultureller Figuren wird das pointiert illustriert: Der stets kühle Mr. Spock aus Star Trek verkörpert den idealisierten rationalen Denker, während Homer Simpson den impulsgetriebenen Normalmenschen symbolisiert. Homers „Reflektives System“ scheint öfters abzuschalten – etwa als er beim Waffenkauf auf den Hinweis, er müsse fünf Tage bis zur Übergabe warten, unwirsch entgegnet: „Fünf Tage? Aber ich bin jetzt wütend!“.
Solche Anekdoten zeigen mit einem Augenzwinkern, dass in jedem von uns ein kleiner Homer steckt.
Das Fazit von Kapitel 1: Menschen machen vorhersehbar Fehler. Sie überschätzen sich, sie nehmen Selektives wahr, sie lassen sich von Frames (Formulierungen) beeinflussen – kurz, sie handeln nicht wie die rationalen Nutzenmaximierer, als die klassische Ökonomen sie gerne hätten. Dieses Wissen bildet die Grundlage dafür, mit gezielten Nudges gegenzusteuern.
Kapitel 2: Resisting Temptation – Vom Kampf mit sich selbst
Warum fällt es uns so schwer, Versuchungen zu widerstehen? Kapitel 2 taucht ein in das Feld der Willensschwäche und Selbstkontrolle. Thaler und Sunstein zeichnen ein Bild vom inneren Konflikt zweier „Ichs“: dem langfristig denkenden Planer in uns und dem impulsiven Macher im Augenblick (englisch sprechen sie vom Planner vs. Doer). Eine anschauliche Metapher ist die von Odysseus und den Sirenen: Odysseus (der Planer) bindet sich vorausschauend an den Mast, weil er weiß, dass sein zukünftiges Ich den betörenden Gesängen der Sirenen erliegen würde. Im Alltag braucht nicht jeder solche dramatischen Maßnahmen, doch das Prinzip bleibt: Wir müssen uns manchmal vor uns selbst schützen. Die Autoren schildern diverse typische Situationen, in denen der Planer-Doer-Konflikt auftritt – vom morgendlichen Aufstehen bis zur Finanzplanung. Etwa stellt abends der vernünftige Planer den Wecker auf 6:15 Uhr, um früh mit der Arbeit zu beginnen; doch am Morgen drückt der verschlafene Macher die Schlummertaste und dreht sich wieder um. Genauso beschließen wir hochmotiviert, Diät zu halten, aber wenn der Duft von Pizza lockt, siegt oft das Verlangen. Kapitel 2 diskutiert solche Selbstkontrollprobleme theoretisch (mit Bezug auf das psychologische System 1 und 2-Modell) und praktisch: Welche Werkzeuge helfen uns, uns selbst ein Schnippchen zu schlagen? Hier kommen Commitment Devices ins Spiel – Verpflichtungsstrategien, die der Planer ergreift, um den zukünftigen Macher auf Kurs zu halten. Klassische Beispiele sind Strafgebühren (man bezahlt z.B. in einem Online-Programm wie StickK im Voraus Geld, das man nur bei Zielerreichung zurückbekommt) oder soziale Druckmittel (man kündigt öffentlich an, bis Datum X etwas zu tun, um sich selbst zu motivieren). Die Stoßrichtung des Kapitels: Erkenne deine Grenzen! Statt ausschließlich auf Willenskraft zu bauen, sollte man Umgebungen und Anreize so gestalten, dass Versuchungen weniger zugänglich sind oder gewünschtes Verhalten leichter fällt. Dies ist bereits ein Appell an die Gestaltung von Wahlarchitekturen – etwa indem man ungesundes Essen nicht griffbereit hält oder Sparbeiträge automatisiert, bevor das Geld auf dem eigenen Konto landet. Insgesamt offenbart Kapitel 2, dass „Fehlentscheidungen“ oft Zeitinkonsistenzen sind:
Wir opfern langfristige Ziele (Gesundheit, finanzielle Sicherheit) für kurzfristigen Genuss. Nudges können hier als Stützräder dienen, damit wir uns in solchen Momenten doch für das entscheiden, was wir im Nachhinein als richtig ansehen.
Kapitel 3: Following the Herd – Der Mensch, ein soziales Tier
Im dritten Kapitel wenden sich die Autoren dem Einfluss der sozialen Umgebung zu. Menschen sind keine isolierten Entscheider – wir schauen stets auf andere und lassen uns bewusst oder unbewusst von ihnen leiten. Thaler und Sunstein präsentieren zunächst klassische Experimente zur Konformität. Das berühmteste stammt vom Psychologen Solomon Asch: Er zeigte, wie Probanden in einer Gruppe die offenkundig falsche Einschätzung der Mehrheit übernahmen, nur um nicht aus der Reihe zu tanzen. Selbst bei einfachen Wahrnehmungsaufgaben gaben viele Teilnehmer falsche Antworten, wenn alle anderen Anwesenden (eingeweihte Schauspieler) diese zuvor genannt hatten. Dieses Ergebnis – dass intelligente Menschen dem offenkundig falschen Urteil der Gruppe folgen – mag erschreckend sein, ist aber im Alltag alltäglich.
Kapitel 3 betont die Macht von sozialen Normen und Mitläufereffekten (und wie Parteien von Links und Rechts das gerne Nutzen):
Wir richten unser Verhalten oft danach aus, was wir glauben, was andere tun oder erwarten. Etwa steigen Teenagerschwangerschaften lokal an, wenn in der Umgebung viele Gleichaltrige Mütter werden (ein Effekt von role models, ob positiv oder negativ). Die Autoren erläutern auch das Phänomen der Pluralistischen Ignoranz: Jeder Einzelne verhält sich angepasst, weil er fälschlich glaubt, alle anderen hätten eine bestimmte Meinung oder Erwartung – ein Kreislauf, der abweichende Stimmen unterdrückt. Im positiven Sinne können soziale Mechanismen aber gezielt als Nudges genutzt werden.
Ein Beispiel:
Wenn
Steuerbehörden säumigen Zahlern schreiben, 95 % ihrer Nachbarn hätten ihre Steuer bereits beglichen, steigt die Zahlungsmoral messbar. Gemessen wurden 5%.
Ebenso zeigt ein Schild im Hotel „75 % unserer Gäste verwenden ihr Handtuch mehr als einmal“ deutlich mehr Wirkung auf Umweltverhalten (Handtuch-Wiederverwendung) als ein rein moralischer Appell (à la „Bitte helfen Sie, die Umwelt zu schützen„).
Die Kernerkenntnis von Kapitel 3: Der Herdentrieb ist real. Menschen orientieren sich an der Mehrheit („Was alle tun, kann so verkehrt nicht sein“) und an Vorbildern. Ein kluger Nudge-Designer kann diese Tendenzen nutzen, um wünschenswertes Verhalten ansteckend zu machen – zum Beispiel indem er Feedback gibt, wo man im Vergleich zu anderen steht (niemand möchte der letzte sein, der den Müll trennt, oder der einzige in der Straße mit überhöhtem Stromverbrauch).
Wichtig ist den Autoren freilich, dass solche sozialen Nudges ehrlich und wohlmeinend verwendet werden. Falsche oder manipulative Behauptungen lehnen sie ab. Doch richtig eingesetzt, können Herdeneffekte die vielleicht stärksten Stupser sein – die Kraft des Gruppendrucks schlummert überall im sozialen Gefüge.
(Das hat z.b. die Solarbranche für sich genutzt und erkannt, um so mehr PV auf den Dächern um so leichter machts der Nachbar auch)
PART II – Die Werkzeuge des Entscheidungsarchitekten
(Die Kapitel 4 bis 8 bilden einen Block und erklären, wann wir Nudges brauchen, wie man Entscheidungen gestaltet und welche neuen Konzepte es in der Final Edition gibt.)
Kapitel 4: When Do We Need a Nudge? – Wann wir den Stups gut gebrauchen können
Nicht in jeder Situation ist eine verhaltenslenkende Schubserei nötig oder sinnvoll. Kapitel 4 untersucht daher die typischen Konstellationen, in denen Menschen am ehesten suboptimal entscheiden – und in denen Nudges demnach besonders hilfreich sein können. Thaler und Sunstein formulieren eine einfache Richtschnur, gewissermaßen die
Goldene Regel des libertären Paternalismus:
„Biete nur solche Nudges an, die höchstwahrscheinlich helfen und denjenigen, die anderes vorziehen, minimal schaden.“.
Aber wo brauchen wir nun Hilfe? Die Autoren nennen mehrere Kriterien:
- Aufmerksamkeit und Ablenkung:
Entscheidungen, die Konzentration erfordern, leiden darunter, dass wir zerstreut oder vergesslich sind. (Das wohl häufigste menschliche Versäumnis ist es, etwas einfach zu vergessen, schreiben die Autoren sinngemäß.) Erinnungsstützen – vom simplen Einkaufszettel bis zur automatischen Terminerinnerung per SMS – sind hier effektive Nudges. Fehlt solche Unterstützung, passieren Fehler. Ein Beispiel: Viele Menschen vergessen, rechtzeitig Rechnungen zu bezahlen, was zu Mahngebühren führt. Nudging-Potenzial: automatische Zahlungserinnerungen
(die jedoch manche Gläubiger absichtlich nicht versenden, weil sie an den Versäumnisgebühren verdienen). - Schwierigkeit und Komplexität:
Je komplizierter eine Entscheidung, desto eher benötigen Menschen einen Stups. Wenn Optionen zahlreich und unübersichtlich sind – etwa die Wahl unter 50 Krankenversicherungsplänen –, fühlen wir uns überfordert. Fehlentscheidungen häufen sich, weil niemand alle Details durchschaut. Hier können Nudges helfen, indem sie Informationen vereinfachen, Optionen vorsortieren oder gute Standardeinstellungen bieten. Die Autoren merken an: besonders Entscheidungen, die selten getroffen werden (z.B. die Wahl einer Hypothek, die Anschaffung einer bestimmten Versicherung), sind problematisch – wir haben kaum Übung darin, es fehlt an Erfahrung und Feedback. Dagegen bewältigen wir Routinewahlen (etwa die tägliche Auswahl des Mittagessens) meist ohne größere Patzer.
Also: Ungewohntes Terrain = mehr Bedarf an Wegweisern. Wie drastisch der Unterschied sein kann, veranschaulichen Thaler/Sunstein mit dem Vergleich Autofahren in vertrauter Umgebung vs. fremder Stadt – wer in der eigenen Stadt unterwegs ist, braucht kein Navi; in einer unbekannten Gegend hingegen ist ein Navigationsgerät Gold wert. Genauso verhält es sich mit Entscheidungsumgebungen: Bei neuen, seltenen oder komplexen Entscheidungen (z.B. Rentenplanung, Gesundheitsleistungen) sind wir auf Wahlarchitektur – gut designte Entscheidungshilfen – angewiesen. - Verzögerte Konsequenzen:
Probleme mit Selbstkontrolle tauchen vor allem auf, wenn Nutzen und Kosten zeitlich getrennt sind. In Kapitel 2 wurde dies bereits beleuchtet: sogenannte Investitionsgüter (wie Sport treiben, Vorsorgeuntersuchungen, Energiesparen) kosten jetzt Mühe, zahlen sich aber später aus, während Genussgüter (Süßigkeiten, Shopping auf Kredit) sofort angenehm, aber langfristig schädlich sind. Kapitel 4 greift das nochmals auf, um zu betonen, dass in solchen Fällen Nudges sehr wertvoll sein können. Denn Menschen neigen systematisch dazu, sofortige Belohnungen über zu bewerten und zukünftige zu vernachlässigen (Hyperbolische Diskontierung). Daher kommt es ohne Hilfestellung zum typischen Aufschieben des Unangenehmen (Prokrastination) – etwa spart man nicht genug für’s Alter oder verschiebt wichtige Impfungen. Hier können Nudges ansetzen, indem sie künstliche Dringlichkeit erzeugen oder positive Anreize vorschalten (z.B. spielerische Elemente, siehe Kapitel 6). - Mangelndes Feedback:
In vielen Lebensbereichen lernen wir nur langsam oder gar nicht aus Fehlern. Wenn die Rückmeldung verzögert oder diffus ist, bleibt unsere Entscheidungskompetenz unterentwickelt. Beispiel: Ein Autofahrer bekommt sofort klares Feedback (Knall und Blechschaden), wenn er eine Kurve zu schnell nimmt – daraus lernt er fix. Doch ein Anleger erfährt oft erst Jahre später, ob seine Investmentstrategie gut war, und kann die Entscheidung nicht mehr korrigieren. Kapitel 4 argumentiert, dass Nudges vor allem dort gebraucht werden, wo direktes Feedback fehlt. Entsprechend sind einfache Rückmeldesysteme selbst schon Nudges:
Ein smarter Thermostat, der sofort anzeigt, wie viel Energie man einspart, lehrt den Verbraucher schneller sparsames Verhalten als eine jährliche Stromabrechnung.
Neben diesen menschlichen Schwachpunkten diskutiert Kapitel 4 auch den Marktmechanismus: Oft heißt es, freier Markt und Wettbewerb würden langfristig alle Probleme lösen – schlechte Produkte verschwinden, dumme Entscheidungen werden abgestraft. Thaler und Sunstein zeigen jedoch, dass das nicht automatisch für Verhaltensprobleme gilt.
Im Gegenteil: In manchen Märkten haben Firmen Anreize, unsere Fehler auszunutzen, statt sie zu beheben. Ein Beispiel sind Kreditkartenanbieter, die von unserer Vergesslichkeit und Kurzsichtigkeit profitieren – sie gestalten Rechnungen unübersichtlich, hoffen auf verspätete Zahlungen und bieten verlockend niedrige Anfangszinsen, die später drastisch steigen (in der Erwartung, dass Kunden den Kleingedruckten wenig Beachtung schenken). Der Markt belohnt hier also nicht Aufklärung, sondern eher die Ausnutzung menschlicher Schwächen. Fazit von Kapitel 4: Wir brauchen Nudges vor allem in jenen Fällen, wo unsere Psyche uns Streiche spielt – und wo der Wettbewerb diese Schwächen nicht beseitigt, sondern eventuell sogar verschärft.
Anstatt allein auf die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen, plädieren die Autoren dafür, behutsam einzugreifen, wann immer die oben genannten Kriterien erfüllt sind: komplexe, seltene, wenig rückgekoppelte, zeitversetzte oder aufmerksamsintensive Entscheidungen. Dann nämlich kann ein wohldurchdachter Schubs den Unterschied zwischen einer schlechten und einer guten Entscheidung bedeuten.
Kapitel 5: Choice Architecture – Die Kunst, Entscheidungen zu designen
In diesem zentralen Kapitel entfalten Thaler und Sunstein systematisch, wie man als Wahlarchitekt Entscheidungen beeinflussen kann. Zunächst betonen sie nochmals das unvermeidbare Faktum:
„Es gibt kein neutrales Design.“ Ob in der Architektur eines Gebäudes oder der Architektur einer Wahl – irgendeine Gestaltung gibt es immer, und sie bleibt niemals wirkungslos. Daraus folgt die Verantwortung, diese Gestaltung bewusst zum Vorteil der Entscheider zu nutzen.
Das Kapitel führt einen Werkzeugkasten von Prinzipien und Techniken ein, um gute Wahlarchitekturen zu bauen. Einige wesentliche Stichworte:
- Defaults (Voreinstellungen):
Vielleicht das mächtigste Werkzeug ist die Standardeinstellung. Was passiert, wenn jemand nichts aktiv wählt? Die Autoren zeigen, dass Default-Optionen Entscheidungen enorm steuern, weil viele Menschen beim Vorgegebenen bleiben (Status-quo-Trägheit). Ob Arbeitnehmer in ein Pensionsprogramm einzahlen oder nicht, hängt z.B. stark davon ab, ob sie aktiv beitreten müssen oder ob sie automatisch dabei sind und austreten müssten. Ein gut gewählter Default kann daher im Sinne der meisten handeln. Thaler/Sunstein empfehlen:
Setze standardmäßig das, was für die Mehrheit am besten ist, aber lasse jederzeit die Möglichkeit zum Opt-out. Sie erkundigen den feinen Unterschied zwischen verschiedenen Default-Typen (statisch vs. personalisierte Defaults, die je nach Nutzer angepasst sind – ein neues Konzept in der Final Edition).
So oder so gilt: Den „richtigen“ Default festzulegen, ist eine Kernaufgabe des Entscheidungsarchitekten. Viele Beispiele im Buch drehen sich darum (Organspende, Versicherungsschutz, Energieversorgung – alles Bereiche, in denen Standardvorgaben große Wirkung zeigen). - Incentives (Anreize):
Zwar definieren die Autoren Nudges gerade als Alternativen zu ökonomischen Anreizen, doch die Ausgestaltung von Anreizen gehört ebenfalls zur Wahlarchitektur. Hier geht es darum, Salienz zu beachten:
Ein Steuereffekt oder Rabatt wirkt stärker, wenn er wahrnehmbar ist.
Beispiel: Ein Cent pro Plastiktüte klingt gering, aber wird als explizite Gebühr deutlicher empfunden (und hat nachweislich größeren Effekt auf Tütenverbrauch) als ein äquivalenter Rabatt für diejenigen, die keine Tüte nehmen. Nudge empfiehlt, Preise und Belohnungen einfach und voraussehbar zu machen – komplexe Tarife oder versteckte Gebühren verzerren Entscheidungen. - Feedback und Informationen:
Gute Wahlarchitektur liefert klare Rückmeldungen. Ein Kapitelmotto lautet: „Make information meaningful.“ Die Autoren diskutieren „mapping“ – also die Abbildung von Entscheidungen auf spürbare Konsequenzen. Verbraucher sollen z.B. auf einen Blick sehen können, was ein bestimmter Kredit oder ein Medizineingriff langfristig bedeutet. Dazu gehören Maßnahmen wie vereinfachte Kennzahlen (z.B. Gesamtjahreskosten in Euro statt eines obskuren Zinssatzes) oder visuelle Hilfen (etwa farbcodierte Label für Energieeffizienz).
Ein schönes Beispiel: Die Einführung der APR (Annual Percentage Rate) in der Kreditvergabe – eine einheitliche Kennziffer, die die Gesamtkreditkosten pro Jahr angibt. Wer verschiedene Darlehen vergleicht, musste früher Zinssätze, Gebühren u.a. mühsam berücksichtigen; mit APR reicht ein Zahlenvergleich eff. Jahreszins.
Dies war, so das Buch, exzellente Wahlarchitektur, weil die Konsumenten dank einer einzigen Zahl fundierter wählen konnten. Generell plädieren die Autoren für transparente, leicht verständliche Informationen. Hier knüpft später Kapitel 7 mit Smart Disclosure an. - Strukturierung komplexer Entscheidungen:
Wenn die Optionen sehr zahlreich sind (z.B. hunderte von Investmentfonds), steigt die Gefahr, dass Menschen überfordert sind und suboptimale Vereinfachungsstrategien nutzen. Chapter 5 empfiehlt daher, bei unübersichtlichem Angebot mittels Kuration oder Navigation einzugreifen. Kuration meint: eine vorsortierte, begrenzte Auswahl anbieten (z.B. “Top 5”-Optionen), während Navigation technische Hilfen wie Filter, Such- und Empfehlungsfunktionen umfasst.
So wie Online-Shops mit Millionen Produkten durch Filter und Empfehlungen den Kunden leiten, sollten auch Rentenplan-Portale oder Versicherungsvergleichsplattformen gestaltet sein. Ohne solche Hilfen „taumeln Menschen ziellos umher“, warnen Thaler und Sunstein. Manchmal ist weniger mehr: Sie zitieren Untersuchungen, wonach eine zu große Auswahl dazu führen kann, dass gar keine Entscheidung getroffen wird. Daher kann ein gut kuratierter kleiner Katalog oder ein intelligent vorgesetzter Tipp (z.B. „Standardpaket“) bessere Ergebnisse liefern als eine scheinbar neutrale Flut aller Möglichkeiten. - Error Expectation – Fehlervermeidung:
Ein herausragendes Prinzip aus der ersten Edition, das auch hier betont wird, ist: „Expect error.“ Guter Produkt- und Entscheidungsdesign geht davon aus, dass Menschen Fehler machen – und baut Sicherheitsnetze ein, um Schäden zu begrenzen. Einfache Beispiele:
– Autos, die piepen, wenn man den Schlüssel stecken lässt oder das Licht an und die Tür öffnet,
– Software, die warnt, bevor man eine Datei löscht („Sind Sie sicher?“), oder eben der Tankanzeige-Pfeil, der anzeigt, auf welcher Seite der Tankdeckel ist, um peinliches Falschparken an der Zapfsäule zu verhindern.
In Kapitel 5 wird besonders hervorgehoben, wie Technik unsere Fehlerfreundlichkeit kompensieren kann. Das Buch nennt hier originelle Alltagslösungen, z.B. dass an modernen Autos der Tankdeckel per Kunststoffband befestigt ist, damit niemand mehr versehentlich ohne Tankverschluss losfährt – ein simpler Trick für wenige Cent, der ein verbreitetes Versehen eliminiert. Ebenso verhindern Diesel-Zapfpistolen durch größeren Durchmesser, dass man den falschen Kraftstoff tankt. Solche fehlertoleranten Designs illustrieren die Haltung:
Mach es dem Nutzer schwer, etwas falsch zu machen. In Nudging-Begriffen: Schaffe „forgiving“ oder sogar „forcing functions“. Letzteres meint Design, das eine bestimmte Aktion erzwingt, bevor die gewünschte erfolgen kann –
etwa geben viele Geldautomaten erst dann das Bargeld heraus, wenn die Karte entnommen wurde, damit niemand seine EC-Karte im Automaten vergisst. - „Make it easy“ – Leichtigkeit als Leitmotiv: Thaler und Sunstein fassen vieles in einem mantraartigen Rat zusammen: Mache es den Menschen so einfach wie möglich, das Richtige zu tun. Ihr Leitsatz lautet:
„Make It Easy.“ Wenn ein gewünschtes Verhalten nicht häufiger gezeigt wird, frage: Warum eigentlich nicht – und beseitige die Hürden, statt die Menschen zu schelten. In der Final Edition ergänzen sie das Mantra noch um ein zweites:
„Make It Fun.“ (Kapitel 6 geht darauf ein.) Eine attraktive Gestaltung – sei es durch Gamification, ästhetische Aufbereitung oder spielerische Elemente – erhöht die Bereitschaft, sich auf eine Entscheidung einzulassen. Menschen folgen eher dem gewünschten Pfad, wenn er nicht nur barrierefrei, sondern auch angenehm zu beschreiten ist.
Kapitel 5 illustriert all diese Grundsätze mit zahlreichen Beispielen, die zeigen, wie gute Wahlarchitektur in der Praxis aussieht. Es ist gewissermaßen das Handbuch für angehende Entscheidungsarchitekten. Jeder, der etwa eine Webseite gestaltet, mit der Nutzer eine komplexe Wahl treffen müssen, findet hier wertvolle Hinweise: Von der logischen Anordnung (z.B. verwandte Optionen gruppieren) über Standardeinstellungen bis hin zur klaren Sprache (Fachjargon vermeiden, stattdessen klare, einfache Begriffe). Einprägsam ist auch das Zitat des Designers Steve Jobs, das die Autoren anführen:
„Design ist nicht nur, wie etwas aussieht, sondern wie es funktioniert.“
Genauso verstehen Thaler und Sunstein Wahlarchitektur: als durchdachtes, nutzerzentriertes Design, das uns – oft unmerklich – unterstützt, ohne uns zu bevormunden.
Kapitel 6: But Wait, There’s More – Neue Kniffe und mehr Möglichkeiten
Dieses Kapitel (exklusiv in der Final Edition) erweitert den Werkzeugkasten um einige zusätzliche Konzepte, die seit der ersten Ausgabe an Bedeutung gewonnen haben. Thaler und Sunstein stellen hier u.a. vor:
- Personalisierte Defaults: Statt one-size-fits-all kann man Standardentscheidungen individualisieren. Beispielsweise könnte ein Rentensparplan automatisch je nach Altersgruppe oder Einkommen unterschiedliche Beiträge wählen (wer jung ist, startet niedriger, steigert sich mit steigendem Gehalt). Oder ein Smartphone richtet Einstellungen nach dem Nutzungsprofil ein. Die Autoren sehen in solchen maßgeschneiderten Voreinstellungen ein großes Zukunftspotential – dank Big Data und KI lassen sich Defaults immer genauer auf den Einzelnen zuschneiden, was ihre Wirksamkeit erhöht.
- Curation (Kuration): Bereits in Kapitel 5 angerissen, erhält die Idee der kuratierenden Auswahl hier mehr Aufmerksamkeit. In einer Welt des Überangebots (Stichwort: 500 TV-Kanäle, unendliches Online-Shopping) brauchen Menschen Filter. Kuratierte Vorschläge – etwa Top-Empfehlungen oder personalisierte Ranglisten – helfen, im Dschungel der Möglichkeiten überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen. Thaler/Sunstein betonen, dass Kuration nichts Verwerfliches ist: Ein gut sortiertes kleines Menu kann besser sein als eine ewig lange Liste. Man sollte nur darauf achten, transparente Kriterien zu haben und den Nutzern auch die Suche im gesamten Angebot zu ermöglichen (Navigation).
- „Make it Fun“: Ein besonderes Highlight ist das Prinzip, Spaß als Motivator einzusetzen. Nudges müssen nicht immer nur nüchtern sein – sie können spielerische Elemente enthalten, um die Hemmschwelle zu senken. Ein bekanntes realweltliches Beispiel (nicht im Buch, aber passend) ist die „Klavier-Treppe“ in Stockholm: Stufen eines U-Bahnhofs wurden wie Klaviertasten vertont, was 66 % mehr Leute die Treppe statt der Rolltreppe nehmen ließ – einfach weil es Freude machte.
Im Buch erwähnen die Autoren etwa den Ansatz, Routine-Aufgaben spielerisch zu verpacken (z.B. Punkte sammeln, kleine Belohnungen, humorvolle Erinnerungen). Dieser Gedanke des Gamification ergänzt das zuvor ernste Paradigma. In der Praxis können Spaß-Elemente mächtige Nudges sein, denn sie verwandeln eine lästige Pflicht in etwas, das man gerne tut.
Kapitel 6 geht zudem auf weitere Anwendungen ein, die man vorher vielleicht übersehen hat. Ein Thema ist z.B. „Prompted Self-Binding“ – den Leuten Gelegenheiten geben, sich freiwillig zu beschränken (etwa sich selbst tägliche Bildschirmzeit-Limits zu setzen, die vom Gerät dann durchgesetzt werden). Auch das Konzept „NAVigability“ (Nutzerführung durch viele Optionen) wird vertieft anhand moderner Interfaces.
Insgesamt vermittelt das Kapitel: Seit 2008 hat sich die Landschaft der Verhaltenssteuerung weiterentwickelt. Die Grundprinzipien bleiben gültig, aber es gibt neue Tricks und Erkenntnisse, die Nudging noch effektiver machen können. Durch Big Data, personalisierte Algorithmen und Digitalisierung eröffnen sich etwa Wege, Nudges sehr zielgerichtet und in Echtzeit zu geben – z.B. Gesundheits-Apps, die im richtigen Moment Motivationsnachrichten senden. Thaler und Sunstein zeigen sich hier offen und optimistisch, warnen aber auch:
Je stärker personalisiert und technologisch durchdringend Nudges werden, desto wichtiger ist die Wahrung der Freiwilligkeit. Der Respekt vor der Autonomie muss gewahrt bleiben, egal wie ausgeklügelt die Methoden werden. Kapitel 6 erweitert somit unseren Horizont über die ursprünglichen Nudge-Werkzeuge hinaus und bereitet auf die Folgethemen vor, in denen konkrete Anwendungsfelder durchdekliniert werden.
Kapitel 7: Smart Disclosure – Mit offenen Daten zu besseren Entscheidungen
Ein weiterer neuer Baustein in der Final Edition ist das Konzept der „Smarten Offenlegung“. Dahinter steht eine simple, aber kraftvolle Idee: Gib den Menschen ihre Daten und Informationen in nutzbarer Form, und lass sie (oder Dritte) daraus bessere Entscheidungen machen. Regierungen und Unternehmen sitzen oft auf enormen Mengen nützlicher Daten – Verträgen, Verbrauchsprofilen, Konditionen –, stellen sie den Betroffenen aber nicht übersichtlich zur Verfügung.
Kapitel 7 fordert einen Kulturwandel: Mindestens ins 20. Jahrhundert solle man es schaffen, scherzen die Autoren, wenn es um Informationspolitik geht.
Smart Disclosure bedeutet konkret, dass z.B. Behörden und Firmen persönliche Nutzungsdaten maschinenlesbar bereitstellen oder transparente Vergleichsportale ermöglichen. Ein Beispiel aus dem Buch: In Großbritannien wurden Energielieferanten verpflichtet, ihren Kunden auf der Rechnung einen QR-Code bereitzustellen, der alle Verbrauchsdaten enthält. So kann der Kunde mit einem Scan-Tool oder einer App sofort Tarife vergleichen. Tatsächlich entstanden in der Folge Choice Engines – digitale Helfer, die auf Basis der offengelegten Daten automatisch den günstigsten Anbieter oder Tarif empfehlen. Dieses Beispiel zeigt:
Der Staat muss nicht immer selbst die Lösung bauen; oft genügt es, Daten freizugeben, damit Markt und Technik bessere Wahlarchitekturen schaffen.
Die Autoren erinnern auch an die Anfänge der Lebensmittelinformationspflicht: Zutatenlisten und Nährwerttabellen auf Verpackungen sind eine Form von Disclosure, aber noch längst nicht smart – winzige Schrift, komplexe Angaben. Heute wäre es trivial, digitale Allergiker-Filter anzubieten (Sunstein etwa wünscht sich, online nach „ohne Schalentiere“ filtern zu können). Smart Disclosure würde also bedeuten, dass beispielsweise Lebensmittelhersteller Datenbanken ihrer Inhaltsstoffe zugänglich machen, sodass Verbraucher-Apps individuell warnen oder empfehlen können.
Ein besonders bürgerfreundlicher Anwendungsfall ist die
vorausgefüllte Steuererklärung. In vielen Ländern – u.a. Schweden – erhält man vom Finanzamt einen komplett ausgefüllten Steuerbescheid, den man nur noch prüfen und mit einem Klick bestätigen muss.
(Hiermit könnte die Finanzbehörde Sich selbst und die Bürger entlasten, natürlich zum Leidwesen der Steuersoftware Anbieter)
Nudge kontrastiert das mit der US-Situation, wo Bürger im Schnitt 13 Stunden und $200 für die Steuererstellung aufwenden.
Smart Disclosure argumentiert:
Das
Amt besitzt bereits alle relevanten Daten (Löhne, Bankzinsen usw. werden gemeldet). Warum also nicht diese Daten dem Bürger zurückspiegeln, anstatt ihn das Rad neu erfinden zu lassen?
Die Autoren sehen hierin nicht nur eine Erleichterung, sondern auch einen Sludge-Abbau (Kap. 8): Bürokratische Reibungsverluste werden minimiert, und es passieren weniger Fehler, weil man nicht alles manuell eintragen muss.
Kapitel 7 listet zahlreiche Domänen, in denen Smart Disclosure großen Nutzen hätte: Gesundheit (z.B. digitale Patientenakten für individuelle Risiko-Check-Apps), Finanzen (Offenlegung aller Gebühren und Leistungen von Banken in Vergleichsformaten), Telekommunikation (Transparenz von Vertragskonditionen) und Verbraucherschutz allgemein. Im Grunde fordern Thaler und Sunstein hier eine Politik des „Befähigens durch Information“:
Statt bevormundender Vorschriften soll der Staat primär dafür sorgen, dass Informationsasymmetrien abgebaut werden. Die Menschen können dann mithilfe von Tools eigenständig bessere Entscheidungen treffen – sei es der beste Handyvertrag, der günstigste Stromtarif oder die gesündeste Ernährungsweise, passend zum individuellen Profil.
Das Kapitel betont, dass technische Machbarkeit längst gegeben ist – es fehlt oft nur am politischen Willen oder an Regelungen, die Datenportabilität vorschreiben. Durch Smart Disclosure würden sich viele Nudges quasi von selbst ergeben: Sobald Daten fließen, entstehen Innovationen (wie die erwähnten Preisvergleichs-Apps), die als digitale Nudges fungieren. Wichtig ist den Autoren, dass Smart Disclosure als Ergänzung zum klassischen Nudging gesehen wird: Es geht weniger darum, wie man etwas präsentiert (das ist Wahlarchitektur), sondern darum, dass die relevanten Infos zugänglich sind. Die Kombination beider Ansätze – offene Daten und gutes Design – ergibt dann für Verbraucher die beste Ausgangslage.
Kapitel 8: #Sludge – die Reibungsverluste
Dieses neu hinzugekommene Kapitel nimmt das negativ gefärbte Gegenstück zum Nudge in den Blick: „Sludge“ (wörtlich Schlamm, bürokratischer Ballast). Darunter verstehen die Autoren jede Gestaltung, die Menschen unnötig aufhält, frustriert oder davon abhält, ihr Ziel zu erreichen. Sludge besteht aus Reibungen im System:
komplizierte Formulare, lange Wartezeiten, versteckte Bedingungen, mühsame Kündigungsprozesse usw. Kurz, alles, was einen entmutigt oder Zeit raubt,
ohne einen echten Zweck fürs Gemeinwohl zu erfüllen.
Thaler und Sunstein machen deutlich: Sludge ist allgegenwärtig – im öffentlichen Sektor ebenso wie in der Privatwirtschaft.
Ein Beispiel, das viele kennen: das Abo-Fallen-Phänomen. Es ist kinderleicht, online ein Abo abzuschließen (ein paar Klicks), aber oft quälend schwer, es zu kündigen – man muss vielleicht ein Formular faxen oder stundenlang die Hotline bemühen. Unternehmen erzeugen solche Hürden absichtlich, um Kunden vom Kündigen abzuhalten. Die Autoren nennen explizit Fitnessstudios und Kabel-TV-Anbieter, Telekommunikationsanbieter, Provider, die dafür berüchtigt sind, Kündigungen maximal unbequem zu gestalten. Das ist Sludge in Reinform:
eine asymmetrische Gestaltung, die Eintritt leicht, aber Austritt schwer macht.
Auch im staatlichen Bereich blüht der Sludge:
Denken wir an lange Anträge, komplizierte Behördengänge, endlose Wartefristen. Manche davon mögen sachlich begründet sein, doch oft hat sich unnötiger Papierkram einfach tradiert.
Warum braucht ein einfaches Antragsformular 10 Seiten? Solche Fragen stellen die Autoren eindringlich. Jede zusätzliche Unterschrift, jeder Nachweis, jeder Kleingedruckte Absatz – all das kann Bürger davon abhalten, ihnen zustehende Leistungen zu beziehen oder an sinnvollen Programmen teilzunehmen. So berichtet das Buch, dass zum Beispiel in den USA Millionen Berechtigte Sozialleistungen (wie Medicaid oder Essensmarken) nicht erhalten, weil der Antragsprozess zu undurchsichtig und mühselig ist.
Hier kostet Sludge real Wohlstand und Gesundheit.
Kapitel 8 ruft daher regelrecht zu einer „Entrümpelungs-Offensive“ auf:
Jedes Unternehmen, jede Behörde sollte ihren Sludge-Gehalt messen und wo immer möglich abbauen.
Die Autoren schlagen vor, Sludge-Audits durchzuführen – Prozesse auf den Prüfstand zu stellen:
– Wie lange dauert es, dieses Formular zu verstehen?
– Wie viele Klicks bis zum Abschluss?
– Könnte man Schritte streichen?
Auch werden Beispiele gegeben, wo Abbau von Sludge Wunder wirkt:
In einigen Ländern verschickt das Finanzamt vorab ausgefüllte Steuerformulare (
siehe Kap. 7), was den Aufwand dramatisch senkt. Oder eine Uni vereinfacht den Bafög-Antrag radikal, wodurch plötzlich viel mehr Studenten die Unterstützung beantragen (Hypothese).
Ein Tweet von Thaler wird zitiert, in dem er sich über die epischen Längen von Erstattungsformularen empört und „#sludge“ ruft – dieses Schlagwort hat dem Kapitel seinen Titel gegeben.
Die Final Edition macht also aus der vormaligen Randnotiz einen Hauptpunkt: Neben Nudging (positive Führung) braucht es Sludge-Reduction (Barrieren abbauen).
Interessant ist, dass
Sludge nicht immer zufällig ist – oft handelt es sich um vorsätzliche Strategie. Die Autoren appellieren an die Ethik:
Niemand sollte Profit daraus schlagen, Menschen mit Bürokratie zu zermürben. Und für den öffentlichen Sektor gilt: Jede unnötige Minute, die ein Bürger in Warteschleifen hängt oder Formulare wälzt, ist vergeudete Lebenszeit und untergräbt das Vertrauen in Institutionen.
(Exakt das nutzt AFD und Linkspopulismus gezielt aus!)
Schließlich diskutiert Kapitel 8, dass es natürlich auch legitime Gründe für scheinbaren Sludge geben kann – z.B. Sicherheit (ein kompliziertes Passwort hat einen Nutzen, obwohl es den Login erschwert) oder Missbrauchsprävention (Nachweise, um Betrug zu verhindern). Die Kunst besteht darin, notwendige Friktionen von unnötigen zu unterscheiden.
Thaler und Sunstein schlagen hier pragmatisch vor, stets abzuwägen:
Ist der Schaden durch den Sludge größer als der Nutzen? Oft lautet die Antwort: Ja. Dann sollte man vereinfachen.
(Praxisbeispiel IT: Lieber ein Langes Kennwort mind. 15 Zeichen und Komplex, dafür keine 6 monatige Änderung)
Zusammengefasst fordert Kapitel 8 eine neue Sensibilität: Genauso wie gute Wahlarchitektur Nudges einsetzt, sollte sie Anti-Sludge sein – geschmeidig, benutzerfreundlich, „ein Klick statt hundert“.
Organisationen, so die Forderung, brauchen eine Art Task-Force zum Aufspüren und Eliminieren von Sludge. Der Gewinn ist zweifach: Die Menschen haben es leichter und die Zielerreichung von Programmen steigt (weil mehr mitmachen oder Leistungen nutzen). Damit schlägt das Kapitel eine Brücke zur Praxis:
Nach all den Beispielen, wie man Verhalten positiv beeinflusst, erinnert es, dass wir oft schon viel erreichen, wenn wir einfach aufhören, den Leuten Steine in den Weg zu legen.
(Exakt ein Problem das sich auch in vielen Behörden breitgemacht hat, statt miteinander wird gegeneinander gearbeitet, Steine in den weg gelegt, blockiert verzögert behindert, oft nur um sich selbst wichtig zu machen)
PART III – Anwendung auf Finanzentscheidungen (Money)
(Die Kapitel 9 bis 12 wenden die Nudge-Prinzipien auf persönliche Finanzthemen an: Sparen, Kreditaufnahme, Versicherungen.)
Kapitel 9: Save More Tomorrow – Heute ein kleiner Schritt, morgen ein großer Sprung
Dieses Kapitel stellt eines der berühmtesten Nudge-Programme vor, das Thaler selbst mitentwickelt hat: Save More Tomorrow (SMT). Dabei handelt es sich um einen Plan, um Angestellte zu höherer Altersvorsorge zu bewegen, ohne sie zu überfordern. Die clevere Idee: Anstatt Mitarbeitern sofort eine deutliche Erhöhung ihres Sparbeitrags abzuverlangen (was viele aus Angst vor Nettolohneinbußen ablehnen würden), lädt SMT sie ein, künftige Gehaltserhöhungen automatisch fürs Sparen zu nutzen. Konkret heißt das: Man verpflichtet sich heute freiwillig, bei jeder Gehaltserhöhung z.B. 50 % des zusätzlichen Betrags in den Pensionsfonds umzuleiten. Da das Take-Home-Pay dadurch nicht fällt (man hat ja mehr Gehalt bekommen), spüren die Teilnehmer keinen Verlust – und doch steigt mit jeder Lohnerhöhung ihre Sparquote allmählich an.
Die Autoren erläutern fünf psychologische Prinzipien, die SMT geschickt ausnutzt:
- Selbstbindung (man trifft die Entscheidung im Voraus, bevor die Versuchung des Mehrgelds akut ist),
- Trägheit/Status quo (einmal angemeldet, bleibt man automatisch dabei),
- Verlustaversion (keine empfundene Einkommensminderung, da Sparen nur aus Zuwachs erfolgt),
- Prokrastination (man verschiebt Sparen nicht länger, weil es automatisch startet) und
- Inertia (die Steigerungen laufen ohne weiteres Zutun).
Das Programm wurde erstmals 1998 in einem Industriebetrieb getestet und zeigte spektakulären Erfolg:
Diejenigen Mitarbeiter, die an SMT teilnahmen, steigerten ihre Sparrate binnen weniger Jahre drastisch, von anfangs im Schnitt ~3,5 % des Gehalts auf über 13 %. Viele machten so lange mit, bis sie den steuerlich erlaubten Maximalbeitrag erreicht hatten. Die meisten Teilnehmer blieben auch über mehrere Gehaltserhöhungen hinweg im Plan, nur wenige stiegen aus. Dieses Ergebnis beeindruckte selbst skeptische Ökonomen – hier zeigte sich, dass ein gut gestalteter Nudge (automatische Eskalation genannt) massiv bessere Ergebnisse erzielte als alle Appelle zuvor.
Kapitel 9 zeichnet die Entwicklung nach:
Aus SMT wurde schließlich ein in den USA weit verbreitetes Feature von 401(k)-Plänen (automatic escalation). Viele Arbeitgeber bieten nun automatisch an, die Sparbeiträge jedes Jahr um z.B. 1 %-Punkt zu erhöhen, solange bis ein Zielwert erreicht ist – natürlich mit Opt-out-Möglichkeit.
Die Popularität dieses Nudges ist so groß, dass Thaler 2010 beim Empfang des Nobelpreises augenzwinkernd meinte, diese Idee allein hätte die Auszeichnung gerechtfertigt.
Neben SMT behandelt Kapitel 9 noch weitere Strategien, um Sparen einfacher und attraktiver zu machen. Dazu gehören automatische Einschreibung in Betriebsrenten (Auto-Enrollment), vereinfachte Fondsangebote (z.B. Lebenszyklus-Fonds, die das Anlegen für Laien übernehmen) und Matching Incentives (Arbeitgeberzuschüsse, die wie ein Nudge wirken, weil Menschen ein „geschenktes“ Geldstück nicht liegen lassen wollen).
Doch SMT steht exemplarisch für das Motto:
Denke in die Zukunft, um heute besser zu handeln.
Indem man zukünftige Handlungen vorwegnimmt, umgeht man den inneren Schweinehund im Jetzt.
Die Lehren aus SMT unterstreichen viele Theorien aus den ersten Kapiteln: Menschen tun sich schwer, aus dem Stand große Veränderungen vorzunehmen – aber sie lassen sich auf kleine, schrittweise Verbesserungen ein, vor allem wenn diese elegant in positive Ereignisse (Gehaltserhöhung) verpackt sind. Nudges wie SMT zeigen, dass man Verhalten in eine Aufwärtsspirale lenken kann, ohne je Zwang anzuwenden: Alles beruht auf Einwilligung, Defaults und unserer Neigung, einmal getroffene Voreinstellungen beizubehalten.
Kapitel 10: Do Nudges Last Forever? Perhaps in Sweden – Nachhaltigkeit von Nudges am Beispiel Schweden
Hier untersuchen die Autoren eine kritische Frage:
Wie dauerhaft wirken Nudges? Reicht ein einmaliger Stups oder verpufft der Effekt mit der Zeit? Als konkreten Fall betrachten sie das große schwedische Pensions-Experiment ab dem Jahr 2000. Schweden führte damals ein teils kapitalgedecktes Rentensystem ein und stand vor der Herausforderung, Millionen Bürger in Fonds investieren zu lassen. Die Behörden entschieden sich, allen eine aktive Wahl zu ermöglichen: Jeder konnte selbst aus einer Palette von Hunderten Fonds sein Portfolio zusammenstellen. Um gleichzeitig eine einfache Lösung zu bieten, gab es einen vorgeschlagenen Default-Fonds (einen staatlich verwalteten Standardfonds), in den alle kommen würden, die nicht aktiv wählen.
In der Anfangsphase wurde dieser Ansatz sogar mit einer Werbekampagne gepusht:
Man animierte die Leute, unbedingt selbst zu wählen und nicht einfach im Default zu landen – ganz im Geiste der Eigenverantwortung. Tatsächlich stellten sich die ersten Kohorten anfangs begeistert eigene Portfolios zusammen. Doch das Interesse flaute rapide ab: Schon nach wenigen Jahren nutzten neu Hinzukommende fast nur noch den Default-Fonds. Bis 2020 war es schließlich so, dass die große Mehrheit keine aktive Auswahl mehr traf, sondern im Standardfonds verblieb (teils, weil die Werbung eingestellt wurde, teils, weil der Reiz des Neuen weg war).
Thaler und Sunstein analysieren diese Entwicklung: Ein anfänglicher Nudge (hier: der Versuch, aktive Entscheidung anzustoßen) kann mit der Zeit an Kraft verlieren, wenn die Umstände sich ändern oder die nächste Generation nicht mehr dieselbe Erfahrung macht. In Schweden kippte der „Nudge“ sogar ins Gegenteil:
Was zuerst ein Anstoß zum aktiven Entscheiden war, mündete später in einem trägen Verharren im Default. Dieser Fall illustriert, dass Nudges Kontext brauchen – sie müssen gepflegt und angepasst werden.
Interessanterweise wurde der Default-Fonds in Schweden mehrfach verändert (etwa hin zu globaleren Anlagen, geringeren Gebühren etc.), doch viele Anleger blieben einfach im ursprünglichen (inzwischen überholten) Default. Das heißt, der allererste Schubs kann extrem lang nachwirken – manchmal länger, als gut ist. Hier zeigte sich: einmal etablierte Defaults können „fast für immer“ haften bleiben. Das ist positiv, wenn der Default exzellent ist, aber problematisch, wenn man ihn verbessern will, denn die Leute wechseln ungern.
Die Autoren entnehmen daraus zwei Lehren: Erstens, manche Nudges haben Langzeitwirkung, selbst ohne weitere Intervention (eine gute Nachricht – die Wirkung verpufft nicht sofort). Zweitens aber muss man vorsichtig beim Design sein, denn der erste Default oder die ersten Erfahrungen prägen das Verhalten über Jahre. In Schweden dachten die Macher anfangs, die Leute würden dauerhaft Spaß an eigener Fondswahl haben. Als sich das änderte, war es schwer gegenzusteuern, weil nun die Trägheit im Default dominierte. Thaler und Sunstein plädieren hier indirekt dafür, Nudges immer wieder zu evaluieren und nachzujustieren. Nudges sind kein einmaliger Zauber – Lebensumstände ändern sich, neue Technologien kommen, daher sollte die Wahlarchitektur nicht statisch bleiben.
Um die Frage im Kapitel-Titel zu beantworten: Halten Nudges ewig? – Die Autoren sagen: Manche ja. Ein gut konzipierter Nudge wie Auto-Enrollment in die Altersvorsorge kann einen einmaligen Verhaltensimpuls (Start des Sparens) geben, der dann lebenslang anhält, weil die Leute dabeibleiben. Aber man darf sich nicht darauf ausruhen, denn Kontexteffekte spielen eine Rolle. In manchen Fällen können Nudges auch an Kraft verlieren, etwa wenn die Bevölkerung den Trick durchschaut oder sich schlicht daran gewöhnt
(z.B. ein Smiley auf der Stromrechnung mag nach dem zehnten Mal weniger motivieren).
Kapitel 10 bietet neben dem Schweden-Case auch Daten aus anderen Ländern und Programmen, um diese Punkte zu untermauern. Es schließt mit dem Ausblick, dass Nudging und aktives Entscheiden sich ergänzen sollten: Wo Nudges langfristig wirken, wunderbar – wo nicht, muss man überlegen, ob intensivere Maßnahmen oder regelmäßige „Auffrischungs-Nudges“ nötig sind. Letztlich ist das Kapitel aber recht optimistisch gestimmt: Viele Nudges – gerade Defaults – tun langfristig ihren Dienst (Schweden hat trotz allem eine der höchsten Beteiligungen an privaten Rentenfonds, weil der Default dafür sorgte).
Das “Perhaps in Sweden“ im Titel deutet an: Ja, zumindest in Schweden hat ein Nudge so lange gewirkt, dass man fast vergisst, dass es mal ein Nudge war.
Kapitel 11: Borrow More Today: Mortgages and Credit Cards – Verlockende Kredite, versteckte Kosten
In diesem Kapitel wenden die Autoren den Blick auf die Schuldenseite der Finanzen: Wie treffen Menschen Entscheidungen beim Kreditaufnehmen – vom Immobilienkredit bis zum Gebrauch der Kreditkarte – und wo laufen sie dabei in Fallen? Die zentrale Erkenntnis: Kreditmärkte sind voll von verzerrenden Anreizen und komplizierten Bedingungen, die es Verbrauchern schwer machen, rational zu handeln.
Hier tun Nudges (und teils härtere Regulierung) nicht Not.
Zunächst betrachten Thaler/Sunstein Hypothekendarlehen (Immobilienkredite). Vor der Finanzkrise 2008 war es in den USA üblich, Darlehen mit teaser rates (Lockvogelzinsen) anzubieten – anfangs sehr niedrig, später variabel steigend.
Viele Kreditnehmer ließen sich vom niedrigen Einstiegszins blenden und übersahen die Risiken im Kleingedruckten. Das Buch macht klar: Der nominale Zinssatz allein spiegelt nicht die echten Kosten wider, besonders bei variablen Zinsen. Faktoren wie Zinsanpassungsintervalle, mögliche Gebühren, Laufzeit, Tilgungsstruktur – all das ist für Laien schwer zu durchschauen. Unternehmen nutzten dies aus, um weniger vorteilhafte Produkte attraktiv erscheinen zu lassen.
Ein transparenter Vergleich (wie z.B. mittels standardisiertem effektiven Jahreszins) wurde oft bewusst erschwert.
Die Autoren argumentieren für Nudges wie Standard-Informationsblätter: Jeder Kredit sollte z.B. auf der ersten Seite eine klare Tabelle zeigen: „Wenn die Zinsen so steigen, so ändert sich Ihre Rate. Bei Maximalzins X zahlen Sie Summe Y.“ Ebenso befürworten sie vereinfachte Produkttypen: Anstatt unüberschaubarer Kreativkredite wäre es verbraucherfreundlicher, wenn es nur einige klar definierte Standarddarlehen gäbe. Ein Nudge-ähnlicher Regulierungsansatz war z.B. die „Simple Mortgage“-Initiative: ein Gesetzesvorschlag, der Banken verpflichten wollte, neben komplexen Angeboten immer auch ein einfaches, standardisiertes Hypothekenprodukt anzubieten, damit Laien zumindest eine verständliche Option haben.
Bei Kreditkarten beleuchtet das Kapitel die Psychologie des Plastikgeldes. Kreditkarten verleiten zu höheren Ausgaben (pain of paying ist geringer, wenn man nicht bar zahlt) und vor allem zu Schulden, da die Rechnung erst später kommt. Viele Kartenanbieter kalkulieren mit irrationalem Verhalten: Sie locken mit Bonuspunkten und kleinen Vorteilen, während sie im Hintergrund hohe Zinsen auf revolvierende Schulden erheben. Menschen unterschätzen oft, wie lange sie brauchen, um eine gewisse Schuldsumme abzubezahlen, wenn sie nur den Minimalbetrag leisten. Hier haben einige Länder bereits Nudges eingeführt, z.B. müssen US-Kreditkartenabrechnungen inzwischen ausweisen:
„Wenn Sie nur die Mindestzahlung leisten, dauert es X Jahre und kostet Sie Y Zinsen, um den Saldo zu tilgen.“ Solch salientes Feedback ist ein typischer Nudge – er erhöht das Bewusstsein für die Konsequenzen.
Thaler und Sunstein diskutieren auch Overdraft-Fallen (Konto-Überziehungsgebühren), Null-Prozent-Finanzierungen und andere Marketingtricks, die Verbraucher in teure Situationen bringen. Die Muster ähneln sich:
Kurze Frist denkt man, man macht ein Schnäppchen (heute nichts zahlen!), aber langfristig zahlen viele drauf, weil Bedingungen ungünstig sind oder Disziplin fehlt. Nudges, die hier helfen könnten, sind z.B. automatische Warnungen aufs Smartphone, wenn man dem Dispo nahekommt, oder Bremssysteme wie standardmäßig Transaktionen bei unzureichender Deckung abzulehnen (Opt-in für Dispo statt default).
Ein weiteres Thema ist Überschuldungsprävention. Die Autoren erwähnen etwa, dass in UK einfach formulierte Schuldenberatungsschreiben an klamme Haushalte als Nudge getestet wurden – die freundlich formulierte Erinnerung an Hilfsangebote kann Leute motivieren, Hilfe zu suchen, bevor es zu spät ist.
Insgesamt prangert Kapitel 11 an, dass die Kreditindustrie oft gegen die Interessen der Verbraucher „nudged“ – sprich:
Banken nutzen Verhaltenszwänge, um mehr zu verdienen
(selbst eine hohe Überziehungsgebühr ist aus Bankensicht ein Ertrag, der davon lebt, dass der Kunde Fehler macht).
Dies steht im Gegensatz zum gewünschten idealen Nudging, das ja im Interesse der Menschen wirken soll. Die Autoren fordern daher Gegen-Nudges: Obligatorische Transparenz, „produktneutrale“ Beratung, geführte Vergleichsportale – all das würde die Kräfte zumindest ausgleichen.
Kapitel 11 ist damit etwas kritischer und regulatorischer im Ton. Es zeigt Grenzen von Nudges auf: Wenn starke Profitmotive für Sludge oder Irreführung bestehen, reichen sanfte Stupser manchmal nicht – es bedarf klarer Regeln. Doch auch diese kann man verhaltensschlau gestalten:
z.B. Standardverträge vorschreiben, die in Klarsprache verfasst sind, oder eben erwähnte Infoboxen. Beispiel: Standardmietvertrag Deutschland
Solche Vorgaben sind streng genommen harte Regulierung, aber mit Nudging-Spirit – sie zwingen die Anbieter nur, Wahlarchitektur zum Wohl des Kunden zu implementieren. Letztlich plädieren die Autoren für einen Finanzmarkt, der „fair framed“ ist: So präsentiert, dass ein vernünftiger Kunde bei halbwegs aufmerksamer Lektüre nicht in die Falle läuft.
Kapitel 12: Insurance: Don’t Sweat the Small Stuff – Versicherung: Worauf es wirklich ankommt
In diesem Kapitel geht es um Entscheidungen rund um Versicherungen – ein Bereich, in dem Konsumentenverhalten oft irrational scheint. Thaler und Sunstein beginnen mit der Feststellung, dass Menschen geneigt sind, sich gegen triviale Risiken übermäßig zu versichern, während sie gleichzeitig große Risiken unterschätzen oder ignorieren. Daher der Rat im Titel: „Mach Dir um Kleinkram keinen Kopf.“
Viele Versicherungsprodukte richten sich genau an unsere Fehlwahrnehmungen:
– Handy-Versicherungen,
– Garantieverlängerungen,
– Reisegepäckversicherungen – all diese Deckungen für relativ kleine Beträge verkaufen sich gut, obwohl sie oft unwirtschaftlich sind (die Prämie steht in keinem guten Verhältnis zum erwarteten Schaden). Warum tun wir das? Weil wir Verlustaversion haben – jeder noch so kleine potenzielle Verlust soll vermieden werden, notfalls zu hohen Kosten.
Die Autoren zeigen anhand von Daten, dass Kleinschadenversicherungen fast immer einen negativen Erwartungswert für den Kunden haben.
Beispiel: Bei Elektrogeräten ist die Ausfallwahrscheinlichkeit gering, die Reparatur oft nicht allzu teuer, doch die Zusatzgarantie kostet einen erheblichen Aufpreis. Die meisten Kunden würden finanziell besser fahren, solche kleinen Risiken selbst zu tragen und stattdessen nur wirklich ruinöse Risiken zu versichern.
Aber emotional beruhigt es, „vollkommen abgesichert“ zu sein – ein Bias, den Versicherer gezielt bedienen.
Im Gegensatz dazu vernachlässigen viele Leute existenzielle Versicherungen oder wählen zu niedrige Deckungen bei großen Risiken: z.B. keine oder zu geringe Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung, Verzicht auf Haftpflicht, oder sie nehmen lächerlich niedrige Selbstbehalte (Deductibles) in Kranken- oder Autoversicherungen in Kauf, obwohl ein höherer Selbstbehalt die Prämie stark senken würde.
Das Buch zitiert eine Studie mit Firmen-Gesundheitsplänen: In über der Hälfte der Fälle hätten Mitarbeiter mit einem hohen Selbstbehalt Geld gespart, selbst in Jahren, wo sie viele Ausgaben hatten – sie entschieden sich dennoch oft für den teuren Plan mit niedrigem Selbstbehalt aus Angst vor Zuzahlungen. Hier schlägt wieder Verlustaversion zu:
Lieber jährlich mehr zahlen, als im worst case einmalig draufzahlen zu müssen, auch wenn dieser Fall selten ist.
Thaler und Sunstein wollen die Leser dazu bringen, wie ein Econ zu denken:
Konzentriere dich auf Katastrophenschutz (Versicherungen, die wirklich den Ruin verhindern, z.B. Hausbrand, schwere Krankheit, Haftpflicht bei Personenschäden) und spare dir die Versicherung für Kratzer und Kleinkram.
Wie kann Nudging helfen? Indem z.B. Versicherungsangebote standardmäßig höhere Selbstbehalte enthalten – quasi als Default den rationalen Mittelweg bieten. Oder indem Vergleichsrechner nicht mit dem Prämien-Trick spielen (niedrige Selbstbehalte sehen attraktiv aus, weil man dann im Vergleich weniger Leistungen hat und scheinbar günstig ist).
Ein konkreter Vorschlag: Versicherer könnten verpflichtet werden, Kunden aufzuzeigen, wie viel sie über z.B. 5 Jahre erwarten zu zahlen, einschließlich Prämien und typischer Schadenzahlungen, je nach Selbstbehalt. Das könnte verdeutlichen, dass im Schnitt der hohe Selbstbehalt Plan B günstiger ist. Aktuell wird das nicht gemacht – der Kunde sieht nur im Schadenfall den Unterschied, nicht kumuliert. Ein Nudging-Ansatz wäre hier auch: „Opt-out“ hohe Deductibles – also Grundpolicen so gestalten, dass man etwa $1000 Selbstbehalt hat (was vernünftig ist) und wer das nicht will, muss aktiv einen teureren Plan mit $100 Selbstbehalt wählen. Dies würde vermutlich viele in der Standardoption halten und gesamtgesellschaftlich Kosten sparen (da weniger sinnlose Überversicherung).
Kapitel 12 behandelt auch Pflichtversicherungen (wie Kfz-Haftpflicht) und die Rolle des Staates.
Die Autoren sind pragmatisch: Wo große Risiken und externe Effekte bestehen, sind Pflichten sinnvoll – Nudging hat seine Grenzen, wenn z.B. jemand unversichert andere schädigt. Doch auch da kann Nudging flankieren: z.B. Erinnerungssysteme, rechtzeitige Warnungen vor Ablauf einer Police etc.
Ein interessanter Aspekt ist die versicherungspsychologische Anomalie: Menschen sind sogar bereit, doppelt Verlustaversion zu zeigen – etwa zusätzliche Versicherung gegen den Selbstbehalt (man denke an Mietwagen-Vollkasko ohne Selbstbeteiligung). Das Buch gibt hier zu bedenken, dass Versicherungen selbst wiederum Nudges einsetzen: Standardmäßig ist z.B. oft die Mietwagenversicherung mit hoher Deckung im Vertrag, und man muss aktiv „Nein“ sagen, um Geld zu sparen – was viele scheuen.
In Summe ruft Kapitel 12 dazu auf, Rationalität in Versicherungsfragen zu fördern. Nudge will, dass wir unsere begrenzte kognitive Energie auf das Wesentliche fokussieren:
– Große Risiken abdecken, kleine Risiken laufen lassen. –
Ein Slogan aus dem Text: „Versichere nie etwas, was du aus der Portokasse zahlen könntest.“ Den Rest legt man lieber auf die hohe Kante.
Die Nudge-Lösungen liegen hier weniger in öffentlichen Kampagnen (die Menschen vom Garantie-Kauf abhalten – eher unwahrscheinlich) als in der Produktgestaltung: Wenn Versicherer ethisch handeln, könnten sie von sich aus den Kunden vor unnötigen Policen warnen oder sie erst gar nicht anbieten. Da das aber Profit kostet, sehen die Autoren eher Raum für Regulatorik, die Nudging-Prinzipien einsetzt: Standard-Beratungsprotokolle, in denen deutlich wird, dass Extended Warranties oft rausgeschmissenes Geld sind, oder Vorschriften, dass Zusatzversicherungen immer Opt-in statt Opt-out sein müssen.
Fazit Kapitel 12: Der Versicherungsmarkt spiegelt im Kleinen die Erkenntnisse der ersten Kapitel.
Menschen bewerten Wahrscheinlichkeiten schlecht, haben Angst vor Verlusten und lassen sich vom Präsentationsformat leiten. Nudges können helfen, diese Verzerrungen zu mildern – aber man muss oft gegen wirtschaftliche Interessen steuern, denn die Branche verdient an unseren Biases nicht schlecht.
PART IV – Anwendung auf gesellschaftliche Themen (Society)
(Kapitel 13 und 14 befassen sich mit Nudges im weiteren gesellschaftspolitischen Kontext: Organspende und Umweltschutz.)
Kapitel 13: Organ Donations: The Default Solution Illusion – Organspende:
Warum der erste Gedanke täuschen kann
Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung eines kontrovers diskutierten Themas aus der Originalausgabe. Es geht um die Frage: Wie erhöht man die Zahl der Organspender, ohne die Entscheidungsfreiheit zu opfern? Thaler und Sunstein stellen klar, dass sie hier in der Vergangenheit missverstanden wurden – viele dachten, sie seien für die in Europa teils übliche Widerspruchslösung (presumed consent). Tatsächlich sprechen sie sich dagegen aus und favorisieren eine andere Strategie, nämlich „prompted choice“, also eine aktive Entscheidung von jedem einholen.
Zunächst präsentieren die Autoren die berühmten Daten, die oft in diesem Kontext zitiert werden: Länder mit Opt-in-System (z.B. Deutschland, USA) haben erschreckend niedrige Eintragungsraten um die 10–15 %, während Opt-out-Länder (z.B. Österreich, Spanien) scheinbar fast 100 % Spenderbereitschaft haben. Dieses extreme Gefälle – oft visualisiert durch eine dramatische Balkengrafik – hat viele dazu verleitet zu sagen: Default ist alles! Einfach per Gesetz alle zu Spendern erklären (solange sie nicht widersprechen) löse das Problem. Thaler und Sunstein warnen jedoch: Das ist eine Illusion. Die hohe formale Zustimmungsrate in Opt-out-Ländern bedeutet nicht automatisch, dass tatsächlich mehr Organe transplantiert werden. Entscheidend ist, ob im Ernstfall die Organe entnommen werden können – und da spielen Familien und praktische Abläufe eine Rolle.
Die Autoren legen dar, dass bei Opt-out zwar quasi jeder als Spender gilt, aber in der Praxis Familienangehörige meist dennoch gefragt werden und oft das letzte Wort haben. Wenn jemand nie bewusst zugestimmt hat, tun sich Angehörige schwerer, in der Ausnahmesituation dem Entnehmen der Organe zuzustimmen – es bleibt Unsicherheit, ob es gewollt war. Die Autoren beziehen hier John Rawls’ Schleier des Nichtwissens: Aus Perspektive eines potenziellen Spender** und** eines potenziellen Empfängers muss eine faire Lösung her. Ihr Standpunkt: Niemanden zum Spender erklären, ohne dass er es selbst bestimmt hat. Das respektiert die Würde und den Willen aller Beteiligten – einschließlich der Familien, die im Zweifel sonst übergangen würden.
Stattdessen befürworten Thaler und Sunstein „Prompted Choice“: Jeden Bürger gezielt fragen, ob er Spender sein will – idealerweise in einem Kontext, wo man sowieso Entscheidungen trifft (z.B. Führerscheinantrag, Personalausweisverlängerung). Dieser Ansatz zwingt zu einer aktiven Auseinandersetzung und liefert eine klare Willensäußerung. Die Autoren argumentieren, dass Prompted Choice ähnlich hohe Spenderquoten erreichen kann wie Opt-out, aber auf freiwilliger Basis. Man müsse diese Frage nur ernsthaft implementieren und ggf. nudgen – z.B. durch eine Pflicht, im Online-Portal der Führerscheinstelle einmal Ja oder Nein anzuklicken (statt es zu überspringen).
In der ersten Auflage des Buches war offenbar das Missverständnis entstanden, sie seien für Opt-out; dies korrigieren sie nun ausdrücklich. Sie verdeutlichen ihre Position: “We do not support presumed consent… We really do believe in freedom of choice.”.
Warum also ist Opt-out “falsch”? Ihr Hauptargument: Die Zielgröße ist nicht bloß eine hohe Zustimmungsrate auf dem Papier, sondern die maximale Rettung von Menschenleben durch Transplantationen, und dabei zugleich die Autonomie der Spender und Gefühle der Angehörigen zu achten. Ein System, das nahezu alle als Spender „listet“, aber im Ernstfall Familien gegen sich aufbringt oder Misstrauen erzeugt, wäre kontraproduktiv. In einigen Opt-out-Ländern ist z.B. die öffentliche Debatte giftig, weil es heißt, der Staat „nehme sich einfach die Organe“.
Das könne sogar Vertrauen untergraben und im schlimmsten Fall dazu führen, dass Leute gegen das System mobil machen.
Die Illusion im Kapiteltitel bezieht sich also auf die vermeintlich einfache Default-Lösung: Es sieht so aus, als ob nur der Default umgestellt werden müsse, doch das greift zu kurz. Stattdessen empfehlen Thaler und Sunstein einen Nudging-Ansatz, der auf Aufklärung und Entscheidungshilfe setzt. Konkrete Vorschläge: Informationskampagnen kombiniert mit einer verbindlichen Entscheidung – etwa jeder muss bei Beantragung der Fahrerlaubnis Ja oder Nein ankreuzen (keine Leerstelle möglich). Oder im medizinischen Bereich: Patienten könnten periodisch befragt werden, Hausärzte können das Thema ansprechen (evtl. mit Standardformular). Wichtig ist, dass der Entscheid frei ist, aber nicht umgangen werden kann – so würden viele, die eigentlich nichts dagegen haben, letztlich zustimmen
(die Erfahrung zeigt, dass die meisten Nicht-Eintrager keine bewussten Gegner sind, sondern es „nur noch nicht gemacht“ haben).
Zusätzlich erörtert das Kapitel neue Ideen wie Anreize: z.B. prioritäre Behandlung für registrierte Spender (in Singapur umgesetzt) oder symbolische Würdigungen. Aber es bleibt klar, dass die Autoren keine Monetarisierung (keine Bezahlung für Organe) wollen – das lehnen sie als unethisch ab. Nur im Iran kann man sich Organe kaufen.
Am Ende unterstreichen Thaler und Sunstein nochmals ihre Hauptbotschaft in diesem Thema: „Wir favorisieren Prompted Choice“, weil es keine Evidenz gibt, dass presumed consent mehr Leben rettet, und Prompted Choice die Rechte aller am besten wahrt. Sie fügen hinzu: Nudges können trotzdem helfen, die Quote der Antwortwilligen zu erhöhen – etwa durch freundliche Gestaltung des Frageprozesses, Erinnerungskarten oder digitale Nudges (E-Mails: „Haben Sie sich schon entschieden? Es dauert nur 1 Minute.“). Letzteres wird als zukünftig gangbarer Weg gesehen, insbesondere da immer mehr Verwaltungsvorgänge digital laufen. Ein Nudging in Form von Opt-in (statt opt-out) bedeutet hier: Mach es den Leuten leicht, Ja zu sagen (registriere sie evtl. vorläufig und bitte um Bestätigung, oder gib kleine „Danke“-Signale bei Zustimmung).
Zusammengefasst räumt Kapitel 13 also auf mit einer simplen Default-Gläubigkeit und plädiert für eine verantwortungsvolle, differenzierte Wahlarchitektur in heiklen ethischen Fragen wie Organspende. Es zeigt zugleich, dass Nudging kein dogmatisches Schema (immer Default=Ja) verfolgt, sondern je nach Wertelage variieren muss. Hier haben die Werte Autonomie und Transparenz Vorrang, weshalb die Nudge-Empfehlung eben nicht der stärkste denkbare Schubs (Opt-out) ist, sondern ein sanfterer, partizipativer:
Jeden fragen, aber niemanden bevormunden.
Kapitel 14: Saving the Planet – Klimaschutz auf leisen Sohlen
Im vorletzten Kapitel wenden die Autoren ihr Augenmerk auf einen gewaltigen Bereich: Umwelt- und Klimaschutz. Sie geben zu, dass Nudges allein die Klimakrise nicht lösen können – dafür sind die nötigen Veränderungen zu groß und erfordern auch harte Instrumente wie Steuern oder Regulation. Dennoch argumentieren sie, dass jede mögliche Maßnahme nötig ist und Nudges eine wichtige Ergänzung im Werkzeugkasten darstellen, um gesellschaftliches Verhalten umweltfreundlicher zu gestalten.
Zunächst erklären sie, warum Klimawandel für menschliche Psychologie so schwer zu begreifen ist: Die Effekte sind zeitlich verzögert, oft unsichtbar, und der Einzelne fühlt sich machtlos (Tragik der Allmende und free rider-Problem). Hier stoßen klassische Anreize an Grenzen, denn der Nutzen des eigenen Verzichts ist abstrakt und kollektiv. Nudges können zumindest an der Wahrnehmungsschraube drehen: Sie können unsichtbare Folgen sichtbar machen oder unser Faulheit gezielt packen.
Ein wichtiges Konzept ist Green Default. Die Autoren zeigen eindrucksvoll, wie allein durch eine Änderung der Voreinstellung im Stromvertrag der Anteil Ökostrom dramatisch steigt: In Experimenten entschieden sich nur ca. 7 % aktiv für teureren Ökostrom (Opt-in), aber fast 70 % blieben dabei, wenn Ökostrom automatisch voreingestellt war und man hätte Opt-out wählen müssen. Und das obwohl Ökostrom geringfügig mehr kostete. Realwelt-Belege aus Deutschland, der Schweiz u.a. bestätigen: Wenn Grünstrom Standard ist, nehmen es die meisten hin, und damit werden erhebliche Emissionsreduktionen erreicht. Dieses Beispiel illustriert die potenzielle Hebelwirkung: Ohne irgendein Verbot oder Mehrkosten für die Allgemeinheit erhöht man so den grünen Anteil am Energiemix deutlich – allein durch Wahlarchitektur.
Ein zweiter großer Bereich sind Informations- und Feedbacknudges beim Energieverbrauch. Thaler und Sunstein erzählen vom Erfolg der Firma Opower, die in den USA Haushaltsenergieberichte versendet: Auf der Stromrechnung sieht man seinen Verbrauch im Vergleich zum Durchschnitt der Nachbarschaft, plus einem Smiley, wenn man effizienter ist. Dieser simple soziale Vergleichsnudge führte zu rund 2 % weniger Stromverbrauch im Schnitt. 2 % klingt klein, aber gemünzt auf Millionen Haushalte macht es viel aus – und die Autoren betonen, dass 2 % Einsparung durch Nudges gleichwertig mit 11–20 % Preiserhöhung waren, nur dass Nudges quasi kostenlos sind. Sprich: Um 2 % Einsparung durch Preismechanismen zu erzielen, hätte man den Strom deutlich verteuern müssen; ein Aufkleber mit einem Smiley schafft es ohne Belastung. Solche Nudges sind also hochgradig kosteneffizient. Das Tolle: Die Maßnahme ist bereits weit verbreitet, viele Versorger nutzen Opower oder ähnliche Methoden – das Nudging ist also in der Praxis angekommen und funktioniert im Feld.
Kapitel 14 ruft außerdem ins Gedächtnis, dass Framing entscheidend ist: Wenn man z.B. Energiesparen bewerben will, ist es effektiver zu sagen
„Wenn du es nicht tust, verlierst du 350 $ im Jahr“ als
„Wenn du es tust, sparst du 350 $„.
Ersteres spricht Verlustaversion an und erweist sich als stärkerer Motivator. Solche psychologischen Feinheiten können Kampagnen optimieren.
Die Autoren diskutieren auch die Grenzen: Gegen echte Großverschmutzer oder fehlende internationale Abkommen reichen Nudges natürlich nicht.
Sie befürworten klar CO₂-Steuern oder Emissionshandel als Hauptinstrumente. Aber Nudges können Akzeptanz für solche Politiken schaffen (z.B. indem man CO₂-Abgaben als „Aufkommensneutraler Klimabeitrag“ framet, was eher Zustimmung findet als „neue Steuer“).
Auch können Nudges die Lücke füllen, wo Regulierung nicht hinkommt – etwa Verhaltensgewohnheiten: Menschen zum mehr Radfahren oder weniger Fleischessen bewegen geht nicht per Gesetz, aber vielleicht mit Nudges (z.B. Standardeinstellung in Kantinen: vegetarisches Menü als erstes anbieten).
Ein charmantes Beispiel aus dem Kapitel:
Ein Hotel ersetzte den Standardsatz
„Bitte hängen Sie das Handtuch auf, um es wiederzuverwenden“ durch
„Die meisten unserer Gäste hängen ihr Handtuch auf und helfen mit, Wasser zu sparen.“
– was die Handtuch-Wiederverwendungsrate signifikant anhob. Hier wirken also Normen und das Bedürfnis, nicht negativ aufzufallen.
Thaler und Sunstein streifen auch verhaltensbedingte Paradoxien: z.B. den sogenannten Energy Paradox – dass Leute rentable Investitionen in Energieeffizienz (wie Dämmung, sparsame Geräte) trotz Kostenvorteil nicht tätigen.
Nudges könnten diese Adoption beschleunigen, etwa durch Voreinstellungen bei Neubauten (Standardmäßig höchste Effizienzklasse, es sei denn, Bauherr wählt schlechtere – was er kaum tut, um nicht als knauserig dazustehen) oder freiwillige Programme mit Auszeichnung („Energy Star Challenge“, wo Firmen freiwillig Standards unterschreiben für Imagepunkte).
Das Kapitel endet mit verhaltenem Optimismus: Durch bessere Wahlarchitektur könne die Welt Stück für Stück automatisch „grüner werden“ – zum Beispiel, indem Standardeinstellungen überall dort, wo vertretbar, auf umweltfreundlich gesetzt werden (von Druckern, die beidseitig drucken, bis zur Voreinstellung „Ohne Plastikbesteck“ bei Lieferessen).
Nudges alleine werden den Klimawandel nicht stoppen, aber sie können Verhalten schneller verändern, während die großen Hebel greifen.
Und angesichts der Dringlichkeit plädieren die Autoren: wir sollten alle Register ziehen – every possible tool, wie sie sagen. Nudges sind eins davon, klein, aber fein.
PART V – Einsprüche und Ausblick (The Complaints Department)
(Kapitel 15 und Epilog setzen sich mit Kritik auseinander und ziehen ein Fazit.)
Kapitel 15: Much Ado About Nudging –
Viel Lärm um den Stups?
Im abschließenden Kapitel nehmen Thaler und Sunstein ihre zahlreichen Kritiker aufs Korn – und reflektieren teils selbstkritisch über Missverständnisse und Grenzen des Nudging-Ansatzes. Der Titel „Viel Lärm um (Nichts)“ spielt darauf an, dass von verschiedenen Seiten teils hitzig gegen Nudges argumentiert wurde, worauf die Autoren nun antworten.
Kritik von rechts (libertär-konservativ):
Hier lautet der Vorwurf oft, Nudging sei „paternalistisch“ und ein gefährlicher Einstieg in Bevormundung. Skeptiker fragen: Kann der Staat wirklich besser wissen, was für den Einzelnen gut ist? Und ist es moralisch sauber, Leute zu manipulieren, auch wenn sanft? Thaler und Sunstein entgegnen darauf:
Libertärer Paternalismus ist paternalistisch nur in den Mitteln, nicht in den Zielen.
Das heißt, sie wollen den Menschen helfen, ihre eigenen Ziele zu erreichen, nicht ihnen fremde Ziele aufzuzwingen. Sie betonen erneut, dass Wahlfreiheit zentral bleibt – ein echter Nudge lässt immer Auswege offen, ohne großen Aufwand. Ihr oft zitiertes Ideal ist die GPS-Navigation: Die freundliche Stimme schlägt eine Route vor (Nudge), doch man kann jederzeit anders fahren, ohne dass die Stimme schimpft – dann rechnet sie eben neu. Genauso sollen Nudges funktionieren:
Kein Zwang, kein Zorn, wenn man eigene Wege geht. Weiterhin entkräften sie die Idee, Nudging ersetze die eigene Verantwortung: Wer möchte, kann alle Nudges ignorieren und selbst entscheiden (der informierte, motivierte Bürger wird nicht eingeschränkt). Aber für die Mehrheit, die nun mal nicht ständig 100 % rational-optimal agiert, können Nudges eine sinnvolle Stütze sein – besser jedenfalls als harte Gesetze, die gar keine Abweichung zulassen.
Mit einem Augenzwinkern merken sie an, dass sie offenbar einiges richtig machen, wenn Extreme von beiden Seiten sich beschweren – vielleicht liegt die Weisheit in der Mitte. Doch Selbstlob vermeiden sie und gehen inhaltlich auf die Punkte ein.
Kritik von links (progressiv/ethisch):
Einige Philosophen und Soziologen monieren, Nudging sei ein „fauler Zauber“, der von echten Lösungen ablenke. Anstatt die großen sozialen oder wirtschaftlichen Ursachen von Problemen (wie Armut, schlechte Schulen, ungleiche Gesundheitsversorgung) anzugehen, komme Nudging mit symbolischen Mini-Verbesserungen. Es bestehe die Gefahr, dass Regierungen Nudges als Feigenblatt nutzen, um nichts Substanzielles zu ändern. Die Autoren reagieren darauf mit zweierlei: Erstens geben sie zu, dass Nudges kein Ersatz für strukturelle Maßnahmen sind, wenn solche notwendig sind – sie erwähnen explizit, dass bei großen Missständen Nudges vielleicht nicht genug sind. Nudges können z.B. niemanden aus extremer Armut stupsen, hier braucht es verteilungspolitische Maßnahmen. Zweitens aber weisen sie darauf hin, dass Nudges oft komplementär eingesetzt werden sollten: Ein gutes Beispiel ist das Rauchen. Harte Regulierung (Steuern, Verbote von Werbung) hat viel bewirkt, aber Nudges wie Default Nichtraucher-Zimmer, rauchfreie Zonen ausweisen etc. flankieren das und erleichtern die Transition zur Nichtraucher-Norm. Außerdem betonen sie, dass Nudging sehr kosteneffektiv ist – es kann insbesondere dort helfen, wo große Programme schwer finanzierbar wären.
Sie fragen: Warum ein sinnvolles Werkzeug liegenlassen, nur weil es allein nicht alles löst? Gerade progressive Politiker könnten Nudges nutzen, um sofort Verbesserungen zu erzielen, während an den großen Rädern gedreht wird.
(Das ist auch mein Punkt, wir müssen weg kommen von alles oder nichts, von dieser Schwarz Weiß Denke die uns auch durch Social Media verstärkt eingetrichtert wurde, es gibt nur noch Like und Dislike)
Transparenz und Manipulationsvorwurf: Ein Vorwurf lautet, Nudges seien heimlich oder manipulativ, weil Menschen oft gar nicht merken, dass sie „geschubst“ wurden. Die Autoren erwidern, dass Nudging nichts Verstecktes sein muss – im Gegenteil, sie empfehlen transparente Prozesse. Sie haben kein Problem damit, wenn Regierungen offenlegen: „Wir führen Opt-out für die Rente ein, weil Studien zeigen, dass ihr dann mehr spart.“ Wenn die Leute trotzdem mitmachen, ist es doch in Ordnung. Wichtig sei, dass Nudges im wohlverstandenen Interesse der Beeinflussten sind. Selbst wenn jemand es nicht merkt, dass ihn die Architektur lenkt, ist es ethisch vertretbar, solange es zu etwas führt, das er selbst bei besserer Einsicht gewollt hätte. Hier zitieren die Autoren gerne den Philosophen John Stuart Mill: Eingriffe in individuelle Freiheit seien legitim, wenn sie den Einzelnen vor eigenen Fehlern bewahren, ohne ihm zu schaden – Nudging erfüllt das, da es ja keinen echten Zwang ausübt und nur Möglichkeiten verbessert.
Vertrauen in den Staat/Expertise: Ein Einwand ist: Was, wenn die Nudge-Architekten sich irren oder missbraucht werden? Nicht jeder Bürokrat ist gutwillig oder allwissend. Thaler und Sunstein stimmen dem zu – sie sind keine Naivlinge. Sie schreiben ausdrücklich, dass Choice Architects fehlbar sind und es auch Interessenkonflikte geben kann. Deshalb fordern sie Checks and Balances: Nudging soll evidenzbasiert sein (d.h. vorher testen, ob ein Nudge wirklich die erhoffte Wirkung hat) und überwacht werden (durch Parlamente, Gerichte, Öffentlichkeit). Sie sehen Nudges als zusätzliche Option, nicht als blankoscheck für Bürokratenwillkür. Tatsächlich kann Nudging sogar dezentraler sein – etwa wenn Städte eigene Nudge-Teams haben oder Unternehmen Nudges für ihre Mitarbeiter einführen. Vielfalt und Wettbewerb sorgen dafür, dass nicht ein allmächtiger „Nudger“ alles steuert.
Kombination mit Zwangsmitteln: Einige Kritiker befürchten, Nudges könnten als Trojanisches Pferd dienen – heute nur ein sanfter Schubs, morgen wird die Schraube angezogen. Die Autoren verneinen das als intention: Nudging soll eben gerade anstelle strikter Vorschriften treten, wo es reicht. Natürlich schließen sie nicht aus, dass in manchen Feldern beides nötig ist: z.B. CO₂-Preise und Energiesparnudges. Aber Nudging ist nicht die Einflugschneise zum Totalitarismus, sondern eher ein Angebot an Liberale: Lasst uns Probleme lösen, ohne ständig Gesetze zu erlassen. Sie bezeichnen Nudges sogar als „freiheitsfreundliche Regulierung“ – im besten Fall sinkt dadurch der Bedarf an harten Eingriffen.
Empirie vs. Moral: Das Kapitel liefert auch Anekdoten, wie die Debatte manchmal theoretisch überhitzt ist. Thaler hat z.B. scherzhaft gesagt, manche Kritiker täten so, als würden Nudges die Menschen zu Zombies machen, was schlicht nicht der Fall ist. Die Empirie zeigt: Nudges schubsen, aber sie entmündigen nicht. Viele Nudges haben moderate Effektstärken – sie helfen, ersetzen aber nicht den freien Willen.
Abschließend unterstreichen Thaler und Sunstein ihr Leitbild: „One-Click Paternalism“. Das bedeutet, selbst wenn du in ein System genudged wirst, sollte ein Klick genügen, um rauszukommen. Dieses Ideal möchten sie in allen Anwendungen verwirklicht sehen. Sie räumen ein, dass nicht immer jeder Nudge diesem Perfektionismus entspricht – wo es Abweichungen gibt, zählt das für sie als Sludge und gehört kritisch geprüft.
In der Summe zeigt Kapitel 15, dass die Autoren die Diskussion der letzten Jahre ernst genommen haben. Sie haben einiges klargestellt (wie im Organspende-Kapitel) und erkennen legitime Sorgen an. Doch sie verteidigen entschlossen den Wert ihrer Idee: Nudging hat in den letzten Jahren tausende kleine Verbesserungen weltweit bewirkt – in Ämtern, Betrieben, Gemeinschaften. Man lebt länger, spart mehr, ist vielleicht etwas glücklicher, ohne dass irgendwo Freiheitsrechte gestutzt wurden. Für sie ist Nudging eine Erfolgsgeschichte vernünftiger Politik. Der manchmal schrille „Lärm“ darum sei teils Missverständnissen geschuldet, teils ideologischen Grabenkämpfen. Ihr Standpunkt bleibt pragmatisch: Was funktioniert, um Menschenleben besser zu machen, sollte genutzt werden, sofern es mit unseren Grundwerten vereinbar ist. Nudges erfüllen diese Bedingung in vielen Fällen, daher verdienen sie einen festen Platz im Instrumentenkasten von Politik und Management.
Epilog – Das letzte Kapitel
Im Epilog reflektieren Thaler und Sunstein kurz die Entstehung der Final Edition inmitten der COVID-19-Pandemie und erklären augenzwinkernd, warum sie es „Final“ nennen: Es ist ihr Commitment Device, um sich selbst davon abzuhalten, ewig weiter am Buch zu basteln. Wie jemand, der sich auf eine „No Casino“-Liste setzen lässt, um nicht mehr spielen zu gehen, so versprechen sie, dass nach dieser Ausgabe Schluss ist – kein „Post-Final Nudge“ mehr.
Sie blicken zufrieden auf den Weg, den das Nudging-Konzept seit 2008 genommen hat. Überall auf der Welt gibt es inzwischen Nudge Units, die ihre Ideen praktisch umsetzen – von London bis Sydney, von Paris bis Singapur. Millionen Menschen sind mit kleinen Stupsern in Berührung gekommen, oft ohne es zu wissen. Die Autoren betonen, dass sie viel dazugelernt haben in der Auseinandersetzung mit Kritikern und durch die Erfolge/Misserfolge realer Nudges. Diese Ausgabe sollte das Buch deshalb „frischer, unterhaltsamer, weniger verstaubt“ machen, auch für Kenner des Originals.
Ein pointierter letzter Gedanke: Sie hoffen, die Welt bewege sich mehr in Richtung „automatisch gut“ – also, dass gute Wahlarchitektur irgendwann so selbstverständlich eingebaut ist, dass wir kaum noch bemerken, dass wir gerade geholfen wurden. Sei es, dass wir automatisch auf grünen Strom umgestellt werden, dass Formulare keine Schikane mehr sind oder dass uns unsere Geräte vor dummen Fehlern bewahren – wenn all das Normalität wird, hat Nudging sein Ziel erreicht.
Mit etwas augenzwinkerndem Stolz verweisen sie darauf, dass der Begriff „Nudge“ inzwischen sprichwörtlich geworden ist. Was einst Skepsis hervorrief, hat heute Akzeptanz – solange man es nicht überstrapaziert. Das Buch endet ohne große pathetische Töne, eher mit einem freundlichen Appell an die Leser: Die vorgestellten Ideen in die eigene Welt zu tragen – ob als Eltern, Chefs, Beamte oder einfach als aufmerksame Bürger. Jeder kann zum Choice Architect werden und im Kleinen dafür sorgen, dass es ihm selbst und anderen leichter gemacht wird, das Richtige zu tun. In einer komplexen Welt voller Ablenkungen und Versuchungen sind es manchmal gerade diese kleinen schubsendes Helferlein, die uns auf Kurs halten.
Abschließend danken die Autoren in Gedanken dem Leser und versichern, dass Nudging aus Liebe zum Menschen geschieht – weil man eben weiß, dass niemand perfekt ist (auch sie nicht). Mit dieser demütigen Haltung schließen sie das Kapitel und überlassen es uns, tiefer in das Thema einzusteigen… oder, wenn wir wollen, auch nicht – ganz nach freier Wahl.
Fokus: Wahlarchitektur – Menschen durch kluge Gestaltung zu besseren Entscheidungen führen
Da Wahlarchitektur (Choice Architecture) das Herzstück von Nudge bildet, sei dieses Konzept nochmals gebündelt erläutert. Wahlarchitektur bedeutet die konkrete Ausgestaltung der Umgebung, in der Menschen Entscheidungen treffen – physisch oder informativ. Jeder, der eine solche Umgebung gestaltet, ist ein Entscheidungsarchitekt.
Zentrale Prinzipien guter Wahlarchitektur sind:
- Es gibt keine neutrale Gestaltung: Jede Anordnung, Reihenfolge, Formulierung oder Voreinstellung beeinflusst das Verhalten. Ein Wahlarchitekt kann also nicht nicht steuern. Er sollte sich dieser Verantwortung bewusst sein und die Gestaltung absichtsvoll zum Wohle der Entscheider einsetzen.
- Defaults – die Macht des Status quo: Menschen tendieren stark dazu, die Voreinstellung beizubehalten. Daher muss der Default mit Bedacht gewählt werden. Ein guter Entscheidungsarchitekt setzt den Default so, dass er für die meisten Leute voraussichtlich die beste Option ist – und ermöglicht es gleichzeitig, leicht zu einer anderen Option zu wechseln. Beispiele: automatische Einbeziehung in eine Altersvorsorge (mit Opt-out) erhöht die Teilhabequote enorm; oder die Vorgabe „Organspender = Nein, außer man wählt Ja“ vs. umgekehrt, die ganz unterschiedliche Spenderzahlen ergibt (siehe Kap. 13). Defaults sind so mächtig, dass Thaler/Sunstein oft betonen: Setze den Default mit größter Sorgfalt, denn er kann „fast für immer“ haften bleiben. Bei Default-Entscheidungen sollte man also überlegen, was vernünftige, gut informierte Personen vermutlich wählen würden, und dies als Standard definieren.
- Make it Easy – Hürden beseitigen: Ein Schlüsselelement ist die Reduktion von Aufwand. Wenn man ein Verhalten fördern will, muss man alle unnötigen Hindernisse aus dem Weg räumen. Sei es Papierkrieg (Sludge), komplizierte Sprache oder unbequeme Prozessschritte – jeder Klick und jedes Formularfeld weniger erhöht die Teilnahmebereitschaft. Ein prominentes Beispiel ist die vereinfachte Online-Registrierung für Wahlen oder Impfungen: Sobald man es leicht von zuhause erledigen kann, schnellen die Quoten hoch. Menschen folgen gern dem Weg des geringsten Widerstands – guter Wahlarchitekt sorgt dafür, dass dieser Weg zum gewünschten Ziel führt.
- Erwartbare Fehler abfedern: Da Menschen zu Fehlern neigen, plant der Architekt Fehlertoleranz ein. Systeme sollten so gestaltet sein, dass einfach vermeidbare Irrtümer ausgebügelt werden. Beispiele: der Tankdeckel an der Plastikleine, Warnsysteme im Auto, Software-„Undo“-Funktionen. Ein spezielles Designprinzip ist der forcing function – man zwingt eine richtige Reihenfolge auf, damit nichts Wesentliches vergessen wird. (Etwa der Geldautomat, der erst die Karte zurückgibt, dann Geld, damit niemand die Karte stecken lässt.) Ein universeller Tipp der Autoren lautet: Denke als Designer immer, der Nutzer wird zerstreut sein – wie kann ich den Schaden minimieren?
- Kluge Anreize und Eigenschaften salient machen: Auch wenn Nudging nicht primär auf finanzielle Anreize setzt, sollten Kosten und Nutzen klar kommuniziert werden. Ein guter Architekt sorgt dafür, dass z.B. der langfristige Preis eines Kredits oder Abos in großen Lettern erkennbar ist (statt im Kleingedruckten versteckt). Zudem kann man durch hervorgehobene Eigenschaften lenken: Will man Energie sparen, markiert man das sparsamste Gerät mit „Empfehlung“; will man Impfraten steigern, betont man, dass Impfungen kostenlos sind und schützt.
- Strukturierung von Optionen: Bei komplexen Entscheidungen hilft der Architekt durch Kategorisierung, Filter, Vorempfehlungen. Das entlastet den Entscheider. Zum Beispiel sortiert ein Restaurantmenü sinnvoll (Vorspeisen getrennt von Hauptgerichten, und nicht alles alphabetisch); ein Online-Shop bietet Filter nach Preis, Größe etc. Je nach Ziel kann man die Reihenfolge manipulieren – z.B. gesündere Speisen zuerst aufführen, wie Carolyn es tat. Wichtig: Diese Strukturen sollten konsistent und durchschaubar sein, damit Nutzer sich nicht verloren fühlen.
- Nutzung sozialer und emotionaler Faktoren: Gute Wahlarchitektur kann soziale Normen einbauen (etwa Hinweis „90 % in Ihrer Gemeinde machen X“). Sie kann mit Emotionen arbeiten – z.B. durch Framing in Verlustbegriffen (wie beim Energiesparen, siehe oben) oder durch Humor und Spiel (Kap. 6: „Make it Fun“). All dies dient, Aufmerksamkeit zu lenken und Motivation zu beeinflussen, ohne auf Zwang zurückzugreifen.
Diese Prinzipien ziehen sich durch alle Kapitel und Beispiele des Buches. Wahlarchitektur ist somit kein starres Rezept, sondern ein Gestaltungsprozess: Man muss das spezifische Entscheidungsproblem analysieren (Wer entscheidet was, in welcher Umgebung, mit welchen Fehlerquellen?) und dann gezielt Werkzeuge einsetzen. Thaler und Sunstein liefern hier eine Art Checkliste für alle, die Entscheidungsumfelder gestalten:
- Definiere das gewünschte Outcome (z.B. mehr Organspender, ausreichende Altersvorsorge, geringerer Energieverbrauch).
- Identifiziere Hindernisse und Biases, die dem Outcome im Weg stehen (z.B. Trägheit, falsche Vorstellungen, fehlendes Feedback).
- Gestalte den Kontext um: Setze Defaults pro Outcome, vereinfache Prozesse, gib Feedback, nutze soziale Vergleiche etc.
- Teste und evaluiere: Oft wirken kleine Änderungen anders als gedacht – also empirisch prüfen, ob der Nudge funktioniert (A/B-Tests, Pilotstudien).
- Achte auf Ethik: Jeder Nudge sollte transparent vertretbar sein und jenen, die sich entziehen wollen, dies leicht ermöglichen (One-Click-Exit).
Ein Aspekt, den die Autoren betonen, ist, dass private Unternehmen ebenfalls Entscheidungsarchitekten sind – oft geschieht Nudging täglich in Supermärkten, Apps und Läden, nur eben mit dem Ziel, mehr zu verkaufen. Dieses „dunkle Nudging“ (auch Sludge und Manipulation) existiert. Umso wichtiger ist es, dass öffentliche Entscheidungsgestalter (Regierungen, Schulen, Arbeitgeber) dem etwas entgegensetzen, indem sie das Nudging für gute Zwecke einsetzen.
Insgesamt soll Wahlarchitektur Menschen zu besseren Entscheidungen im eigenen Interesse führen, ohne sie zu bevormunden. Die Balance aus Freiheit und Führung – das ist der Kern des Nudging-Ansatzes.
Wie Marc Aurel eingangs mahnte, sind unsere Sinne und Urteile begrenzt. Eine kluge Wahlarchitektur nimmt diese Begrenztheit ernst und hilft uns, Weltklugheit zu entfalten: Indem sie unsere Aufmerksamkeit lenkt, wo sie nötig ist, uns schützt, wo wir verletzlich sind, und uns Optionen so präsentiert, dass wir ohne Reue zurückblicken können.
Alltagsbeispiele aus Nudge – ein Überblick
Zum Abschluss werden hier sämtliche im Buch genannten Alltagsbeispiele für Nudges und Wahlarchitektur zusammengestellt, thematisch geordnet, mit Originalzitaten und Seitenhinweisen. Sie zeigen, wie vielfältig und oft unscheinbar die kleinen Stupser sein können, die unsere Entscheidungen beeinflussen:
1. Ernährung & Gesundheit:
- Die Schulkantine („Cafeteria“) – Speisenanordnung: Durch bloßes Umsortieren der Essensauslage lassen sich Essgewohnheiten von Kindern verbessern. Gesunde Snacks in Augenhöhe und an vorderster Stelle erhöhen deren Konsum erheblich. Carolyns Experiment ergab: „Simply by rearranging the cafeteria, [she] was able to noticeably increase or decrease the consumption of many food items. [She] learned: small changes in context can greatly influence schoolchildren…“. Dieses Prinzip gilt ebenso für Erwachsene (z.B. Obst auf dem Bürotisch statt Süßigkeiten führen zu mehr Obstverzehr).
- Medikamenten-Compliance – Pille mit Placebo-Woche: Um sicherzustellen, dass Frauen die Antibabypille korrekt einnehmen (21 Tage Wirkstoff, 7 Tage Pause), werden Pillen in Blisterpackungen mit 28 Tagen verkauft – die letzten 7 sind Placebos, sodass keine Unterbrechung im Einnahmerhythmus entsteht. „To solve this problem, the pills are sold in a special container of 28 pills… Days 22–28 are placebos whose only role is to facilitate compliance.“. Durch diese Gestaltung wird ein an sich kompliziertes Schema (3 Wochen on, 1 Woche off) benutzerfreundlich und Fehler (versehentlich länger Pause machen) werden vermieden.
- Erinnerungs-E-Mails – Google Mail Anhang-Erkennung: Gmail hat ein Feature eingeführt, das den Nutzer warnt, wenn im Text eine Anhang-Erwähnung („attachment“) steht, aber kein Anhang angehängt wurde. So werden peinliche Nachsendungen vermieden. Thaler beschreibt, wie er eine Datei vergessen hatte, ein Google-Manager ihm daraufhin schrieb, dass Gmail bald genau dieses Problem automatisch erkennen würde – „A user who mentions the word attachment but does not include one would be prompted: ‘Did you forget your attachment?’“. Diese kleine Änderung im Interface ist ein perfekter Nudge: Sie greift ein häufiges Versäumnis (Datei vergessen) auf und bietet im richtigen Moment einen Hinweis, ohne irgendetwas zu erzwingen.
- Terminplanung – Implementation Intentions („Planfragen“): Eine subtile Intervention erhöhte die Wahlbeteiligung: Wähler wurden am Telefon nicht nur gefragt „Gehen Sie wählen?“, sondern auch wann, von wo und wie sie zum Wahllokal kommen. Die dabei entstehenden mentalen Planungsschritte („Ich fahre nach der Arbeit um 17 Uhr von Zuhause aus…“) führten dazu, dass 4,1 % mehr Leute tatsächlich zur Wahl gingen. „Prompting voters to make a plan increased turnout by 4.1 percentage points!“. Dieses Beispiel zeigt, wie gezieltes Nachfragen Verhalten verankern kann – auch bei Arztterminen oder Impfungen nutzt man solche „Erinnerungsfragen“.
- Checklisten im OP und Cockpit: Standardisierte Checklisten vor Operationen (z.B. alle waschen sich gründlich die Hände, Instrumente bereit?) senken Infektionsraten drastisch.
Wichtig dabei, jeder darf und muss den anderen auf Verstöße und Verfehlungen und Verbesserungen hinweisen dürfen, auch die kleine Krankenschwester den Chefoberarzt!
Piloten verwenden vor jedem Flug Checklisten, um selbst Routinetätigkeiten nicht zu vergessen. „Commercial pilots… always go over a checklist before takeoff… They don’t want to forget to top up the fuel!“. Diese Listen sind im Grunde Nudges für Profis – sie strukturieren Entscheidungen in kritischen Momenten, um Fehlleistungen (durch Stress oder Routineblindheit) vorzubeugen. - Fliege im Urinal – Aufmerksamkeit lenken: Am Amsterdamer Flughafen Schiphol sind kleine Fliegen ins Urinalporzellan graviert. Männer zielen automatisch darauf und reduzieren „Danebenzielen“ um 80 %. „Etched a black housefly into each urinal… accuracy increased… etchings reduced ‘spillage’ by 80 %.“. Dieses humorvolle Beispiel illustriert, wie visuelle Anreize unbewusstes Verhalten steuern können – ein kostengünstiger Trick mit großem Effekt auf Sauberkeit.
2. Verkehr & Technik:
- Auto-Sicherheitsnudges: Moderne Fahrzeuge sind voll von Helfern: Anschnallwarnungen, die nervig piepen, bis man sich anschnallt; Tankwarnleuchten, wenn der Sprit zur Neige geht; Spurhalte-Töne, falls man abdriftet; Parksensoren, die beim Rückwärtsfahren piepsen. „If you do not buckle your seat belt, you are buzzed. If you are about to run out of gas, a warning sign appears… If you wander into another lane, your car makes an unpleasant sound…“. Diese Features retten erwiesenermaßen Leben und verhindern Pannen, indem sie rechtzeitig warnen oder erinnern. Sie sind so gestaltet, dass sie den Fahrer nicht zwingen, aber so lästig sind (der Gurt-Buzzer), dass gewünschtes Verhalten eher erfolgt.
- Tankdeckel an der Leine: Früher kam es oft vor, dass Leute nach dem Tanken den Tankdeckel liegen ließen. Heute haben die meisten Autos den Deckel mit einem Kunststoffbändchen befestigt, sodass er nach dem Öffnen hängen bleibt und nicht vergessen werden kann. „On most cars, the gas cap is now attached by a piece of plastic, so you cannot possibly drive off without it.“. Kostenpunkt ein paar Cent – Nutzen: kein verlorener Tankdeckel mehr. Ein winziger Design-Nudge, der einen typischen postcompletion error verhindert (siehe unten).
- Zapfpistolen-Design: Ähnlich einleuchtend ist die Konstruktion von Diesel-Zapfhähnen: Die Diesel-Düse ist bewusst dicker als die Einfüllöffnung von Benzinautos, sodass man nicht versehentlich Diesel in ein Benzinauto einfüllen kann. „Diesel nozzles are too large to fit into the opening on cars that use gasoline, so it is not possible to make the mistake of putting diesel fuel in your gasoline-powered car (though the opposite mistake is still possible).“. Hier hat man also physisch verhindert, was ein häufiger teurer Irrtum war. (Umgekehrt – Benzin in Diesel – ist technisch schwieriger zu verhindern, aber da Diesel-Einfüllstutzen meist groß beschriftet sind und Diesel-Pistolen anders gefärbt, ist auch da Nudging am Werk.)
- Geschwindigkeitsanzeiger/„Smiley“-Radar: (Im Buch nicht explizit genannt, aber häufig als Beispiel aufgeführt.) Verkehrsschilder, die das Tempo anzeigen und ein 🙂 oder ☹ anzeigen je nach Einhaltung, sind Nudges zur Temporeduzierung. Sie geben Feedback in Echtzeit und appellieren ans Sozialverhalten (jeder sieht, ob man „grinst“ oder „traurig“ fährt). Studien zeigen, dass solche Anzeigen kurzfristig und zum Teil dauerhaft Geschwindigkeit senken, ohne Bußgelder.
- Postcompletion Errors und Forcing Functions: Ein generelles Muster in Technik-Nudges ist, Fehler nach Abschluss der Hauptaufgabe zu verhindern. Beispiel: Nach dem Geldabheben (Hauptziel: Geld erhalten) vergaßen Kunden oft ihre Karte im Automaten – daher änderte man die Sequenz, sodass die Karte zuerst zurückkommt. „Most ATMs no longer allow this error because you get your card back immediately… remove the card in order to get your cash.“. Ebenso beim Kopierer: Man druckt Kopien (Hauptziel erfüllt) und vergisst oft das Original auf der Glasplatte. Manche modernen Kopierer werfen das Original nach Durchlauf aus oder blinken, um daran zu erinnern. Diese Forcing Functions (Du kriegst X nur, wenn Y getan) sind effektive Nudges, um menschliche Vergesslichkeit zu umgehen.
3. Digitale Wahlarchitektur & Konsum:
- Taxis – Trinkgeld-Anker: New Yorker Taxis führten Kartenzahlung mit vorgegebenen Trinkgeld-Buttons ein (z.B. 20%, 25%, 30%). Das erhöhte den Durchschnittstipp deutlich, da der Anker nach oben verschoben wurde – vorher gaben viele vielleicht 10–15%. Jetzt klicken viele einfach auf 20% oder mehr. Dieses Beispiel (kurz im Buch erwähnt) zeigt, wie Standardoptionen auch im Kleinen wirken: Was als bequeme Schaltfläche da ist, wird häufig genutzt, und es beeinflusst die Norm (wer will schon „Other Amount“ tippen und als knausrig gelten?).
- Online-Shopping und Auswahlfilter: Amazon & Co. sind Meister der Wahlarchitektur: Sortierfunktionen nach Beliebtheit (lenkt zu Produkten, die andere kaufen, social proof), Empfehlungslisten („Kunden, die X ansahen, kauften Y“ – nutzt Herdeneffekt), und Personalisierung (Algorithmen zeigen bevorzugt die Dinge, die einem gefallen könnten). All das soll die Kaufentscheidung erleichtern – allerdings im Sinne des Anbieters (mehr Umsatz) und nicht unbedingt immer im besten Interesse des Kunden. Dennoch ist es ein Paradebeispiel, wie man aus einer Flut von Optionen (Millionen Artikel) durch Navigation und Kuration eine benutzerfreundliche Erfahrung schafft.
- Netflix & Co. – „Weiterschaun“ Default: Streamingdienste nudgen uns zum Binge-Watching, indem nach einer Folge automatisch die nächste startet (Default: weiterschauen, Opt-out: aktiv stoppen). Das erhöht die Sehdauer merklich. Hier ist ein Beispiel, wo Wahlarchitektur auch negative Effekte haben kann (viele würden vielleicht sonst eher abschalten). Es zeigt aber gut, wie trivial ein Nudge sein kann: eine simple Voreinstellung im UI.
- Werbe-Abmeldung – Sludge-Beispiel: Viele Newsletter bieten einen „Abmelden“-Link, aber verstecken ihn am Ende oder machen den Prozess lästig (Sludge). Gute Praxis (die auch Gesetz in EU) wäre, One-Click Abmeldung – doch Firmen wollen das gerade nicht, sie hoffen, dass man abbricht. Dies verdeutlicht: Bewusst schlechte Wahlarchitektur wird genutzt, um Nutzerverhalten (weiter Abo beziehen) gegen deren eigentliche Präferenz zu erzwingen.
4. Formulare, Behörden & Verträge:
- Organspende-Formular – Opt-in vs. Opt-out: Default-Option in staatlichen Formularen entscheidet maßgeblich über die Spenderquote. In Deutschland (Opt-in) waren es ~12 % Zustimmung, in Österreich (Opt-out) ~99 %. „Only 12 % of Germans agreed to be donors, while more than 99 % of Austrians had failed to opt out. Amazing!“. Dieses gewaltige Gefälle beruht allein auf dem Kreuzchen, das vorgedruckt ist bzw. nicht. Die Autoren argumentieren jedoch, dass diese Zahl allein trügerisch ist (siehe Kapitel 13 oben) – trotzdem ist es DAS klassische Beispiel für Default-Effekte.
- Steuererklärung – vorausgefüllt vs. selber ausfüllen: In Ländern wie Schweden erhalten 80 % der Bürger eine vorausgefüllte Steuer, die sie binnen Minuten per Handy bestätigen. „In Sweden, 80 % of taxpayers file their tax returns in minutes, free of charge, using only their cell phones.“. In den USA hingegen müssen Bürger mühsam alles selbst eintragen, was im Schnitt 13 Stunden und $200 kostet. Hier sieht man einen Anti-Sludge-Nudge: Die Behörde nimmt den Bürgern Arbeit ab (Daten vortragen) – diese Wahlarchitektur der Bürokratie führt zu nahezu vollständiger Steuer-Compliance in Schweden (wer die einfache Ein-Klick-Abgabe hat, macht es auch). Es gibt Bestrebungen, ähnliches woanders einzuführen, oft aber Widerstände (Steuersoftware-Lobby in den USA z.B.). Für den Bürger ist der Unterschied enorm.
- Anmeldeformulare – „Opt-out“ Boxen: Viele Formulare (sei es beim Onlinekauf oder Vertragsabschluss) haben bereits angekreuzte Kästchen für Zusatzoptionen (z.B. „Ich möchte Werbung erhalten“). Der Default („Häkchen gesetzt“) sorgt dafür, dass viele drinbleiben. Regulierung fordert oft inzwischen Opt-in (Häkchen leer lassen), um Verbraucher vor ungewollten Optionen zu schützen. Das Organspende-Beispiel ist das bekannteste, aber ähnlich wirken Default-Häkchen bei Newsletter, Zusatzversicherungen beim Kauf etc.
- Behördliche Sludge-Reduktion: In Utah (USA) wurde beispielsweise der Prozess für Berufslizenz-Erneuerung so vereinfacht, dass es online in 2 Minuten ging statt mit Papiervorgang in 2 Wochen – die Einhaltungsquote stieg sofort, Leute verlängerten pünktlicher. Solche Beispiele von entrümpelter Verwaltung (teils im Buch erwähnt, teils aus Fallstudien) zeigen, wie durch digitale Angebote und einfache Formulare Nudging im Staatswesen den Bürgern Zeit spart und Teilnahme erhöht.
- Staatliche Schreiben – Formulierung: Ein britisches Finanzamt schrieb säumige Steuerzahler mit verschiedenen Texten an. Der Satz „9 von 10 Bürgern in Ihrer Stadt haben ihre Steuer pünktlich gezahlt“ brachte deutlich mehr Zahlungen rein als ein neutrales Schreiben. (Dieses Experiment, durchgeführt vom Behavioural Insights Team UK, wird oft zitiert; im Buch angedeutet beim Thema soziale Normen). Hier wurde einfach der soziale Kontext im Behördenbrief geändert – ein kostenfreier Nudge, Millionen an Mehreinnahmen.
- Schuldnerberatung – proactive outreach: In einigen US-Städten wurden säumigen Kleinschuldnern vereinfachte, freundlich formulierte Briefe geschickt, die die Angst nahmen und auf Zehn-Jahres-Ratenpläne hinwiesen – deutlich mehr meldeten sich zur Beratung. Dies ist ein Beispiel, wie Sprache und Ton in offiziellen Mitteilungen Nudges sein können: Drohbriefe vs. Hilfsangebote machen großen Unterschied, obwohl die Situation objektiv gleich bleibt.
5. Energie & Umwelt:
- Grüner Strom als Voreinstellung: Versorger in Teilen Deutschlands und der Schweiz stellten alle Kunden automatisch auf Ökostrom um (mit Info und Widerspruchsrecht). Das Ergebnis: Kaum jemand wechselte zurück, sodass der Marktanteil von Grünstrom massiv anstieg. „In Germany… many providers are now automatically enrolling people in green energy. Field evidence shows the nudge really works… most people are not opting out.“. Ein experimenteller Beleg: In einem Feldversuch mit 42.000 Haushalten in Süddeutschland wählten bei Opt-in nur 7,2 % grünen Tarif, bei Opt-out blieben 69,1 % im grünen Tarif – fast eine Verzehnfachung. Das ist gelebte Wahlarchitektur: Umweltfreundliches Verhalten wird Standard, ohne dass jemand gezwungen würde.
- Stromrechnung mit Nachbarschaftsvergleich (Opower): Viele Stromanbieter versenden Berichte, die den eigenen Verbrauch mit dem Durchschnitt ähnlicher Haushalte vergleichen und einen Smiley 🙂 bei effizientem Verbrauch abdrucken. Das reduziert nachweislich den Verbrauch um ~2 %. „The Home Energy Report… gives customers a clear sense of how their bill compares… Hunt Allcott finds sending these reports reduces consumption by about 2 %.“. Zudem entspricht diese Einsparung einer fühlbaren Preiserhöhung (11–20 %), erreicht aber ohne Kosten dasselbe. Dieses nudge-basierte Feedback ist heute millionenfach im Einsatz und ein Aushängeschild erfolgreicher Verhaltenslenkung zum Guten.
- Standard-Druckeinstellungen – doppelseitig: Viele Unternehmen stellen den Bürodrucker default auf Duplex (beidseitiger Druck) um – ein kleiner Schritt, der Papierverbrauch deutlich senkt, denn nur wer wirklich einseitig will, muss manuell umstellen.
- Energie-Paradox Ansprache: Manche Energieversorger bieten Gratis-Energieaudits an – ein Berater kommt ins Haus und identifiziert Sparpotentiale. Allerdings nehmen das wenige wahr, weil Aufwand. Ein Nudge wäre, einen Termin automatisch anzusetzen (Opt-out möglich). Experimente zeigen, dass solche „Voreingestellten Termine“ die Teilnahme an Programmen enorm erhöhen (Prinzip auch bekannt aus Impfkampagnen: Termin wird schon mal reserviert, man muss nur absagen wenn nicht gewollt).
- Mülleimer-Design & Recycling: In Kopenhagen gibt es Stadt-Mülleimer mit grünen Fußspuren am Gehweg davor, die spielerisch zum Eimer hinführen – das reduzierte Müll auf den Straßen spürbar. Ebenso erhöhen Trennbehälter mit klarer Farbcodierung und lustigen Grafiken die Recyclingquote (Nudges in Städten).
- Hotel-Handtuch-Schild: Wie erwähnt brachte die Anpassung des Handtuch-Hinweises („Viele Gäste machen mit…“) eine höhere Wiederverwendungsrate. Ein weiteres Experiment (Cialdini) steigerte es noch mehr, wenn man sagte „75 % der Gäste dieses Zimmers nutzen das Handtuch mehrfach“ – was den Effekt der sozialen Nähe nutzte.
6. Finanzen & Vorsorge:
- Auto-Enrollment in Altersvorsorge: In vielen Firmen wird ein neuer Mitarbeiter automatisch im 401(k)-Plan angemeldet, meist mit einer moderaten Sparrate (z.B. 3 %), sofern er nicht aktiv widerspricht. Studien zeigten, dass die Teilnahmequote so von ~60 % auf ~95 % stieg, gerade bei einkommensschwächeren Gruppen, die vorher oft nicht beitraten (diese Zahlen stammen aus vorigen Ausgaben/Studien). Der große Erfolg dieses Nudges hat ihn weltweit populär gemacht. Heute ist die automatische Einschreibung Standard in US-Konzernen und zunehmend anderswo. Die Autoren weisen darauf hin, dass trotz automatischer Anmeldung das Recht auf Opt-out gewahrt bleibt und auch genutzt wird – aber nur von wenigen, die wirklich nicht teilnehmen wollen.
- Save More Tomorrow (SMT): Wie in Kapitel 9 beschrieben, ist SMT ein Programm, bei dem Mitarbeiter sich vorab verpflichten, zukünftige Gehaltserhöhungen automatisch zum Sparen zu nutzen. Eine Art Default auf zukünftiges Verhalten: Standard ist dann, dass bei jeder Lohnerhöhung z.B. +3 % in die Pension gehen. Das Ergebnis: massive Steigerung der Sparraten über Zeit (von 3,5 % auf ~13 % in 4 Jahren), da keiner Opt-out wählt, sobald es einmal läuft. SMT ist mittlerweile oft integriert in Altersvorsorgepläne als automatische Eskalation. Es nutzt unsere Trägheit zu unserem Vorteil – wir ändern die Einstellung nicht, wenn es uns nicht weh tut.
- Mindestbeiträge & Matching: Viele US-Pläne haben jetzt z.B. Default 6 % Sparrate, weil Arbeitgeber oft bis 6 % mitzuschießen (matchen). So werden Arbeitnehmer „genudged“, mindestens 6 % zu sparen, um nichts zu verschenken. Früher war der Default 0 % und viele blieben dabei – heute in Nudging-optimierten Plänen starten viele bei 6 % und bleiben dabei (oder erhöhen per SMT).
- Kreditkarten – Mindestbetrag-Effekt: Ein interessanter (negativer) Nudge: Die Angabe eines Mindestzahlungsbetrags auf der Kreditkartenrechnung kann als Anker wirken, nach unten. Viele zahlen dann nur das Minimum, obwohl sie mehr könnten, einfach weil es als Bezugsgröße genannt ist. Einige schlagen daher vor, die Rechnung solle zwei Beträge ausweisen: Minimum und z.B. Betrag bei dem Schulden in 3 Jahren weg sind. Oder gar keinen Minimum-Vorschlag, um höheres Zurückzahlen anzuregen.
- Kreditkarten – Tilgungswarnung: In den USA müssen Kartenabrechnungen jetzt einen Kasten enthalten: „Wenn Sie nur den Mindestbetrag zahlen, dauert es X Jahre und kostet Y Zinsen, um den Saldo von Z abzuzahlen.“ Das ist ein Nudge (transparente Info), der Kunden erschrecken soll, sodass sie mehr als Minimum zahlen. Leider ist die tatsächliche Verhaltensänderung gering, aber es ist ein Schritt.
- Immobilienkredit-Auswahltabelle: Als Nudge für Hypothekenkäufer schlugen Experten vor, einen vergleichenden Zinssatz-Plot zu geben: z.B. bei variablem Darlehen zeigen „Wenn Zins steigt auf x, dann Rate so hoch“ im Worst-Case. Oder generelle Scorecards für Kreditangebote. Die US-Regierung führte 2015 ein vereinfachtes Loan Estimate Form ein, das immerhin Kernkosten klar auflistet. Das Buch nennt diese Reform positiv: „If presented in tiny font technical terms, a mandated disclosure may do no good at all.“ – daher kam das neue Formular.
- Versicherung – Standard Selbstbehalt: Ein vorgeschlagener Nudge: Biete Versicherungskunden standardmäßig eine Police mit höherem Selbstbehalt (z.B. 1000€) an, statt der weitverbreiteten 250€. Viele bleiben dann dabei und sparen Prämie – bisher verkaufen Makler oft das „Rundum-Sorglos-Paket“ (niedriger SB) aktiv, was aber teuer ist. In UK wurde diskutiert, Vergleichsportale so zu ändern, dass nicht nach dem billigsten absoluten Preis sortiert wird, sondern nach Preis-Leistungs-Index (der auch Deckung beachtet). Aktuell locken Portale mit Minimaltarifen, die oft schlechte Bedingungen haben – Nudging könnte hier bedeuten, Voreinstellungen (Filter) einzubauen, die nur sinnvolle Angebote anzeigen.
- Lotterien als Nudge (Save to Win): Manche Kreditgenossenschaften führten „Prize-Linked Savings“ ein: Statt Zinsen gibts Gewinnchancen auf Lotterie. Menschen, die sonst Lotto spielen (negatives Erwartungswert), sparen so Geld und haben trotzdem Nervenkitzel. Das ist ein Nudge, der Spieltrieb positiv nutzt. Das Buch erwähnt an einer Stelle, man könne Leute auch belohnen oder spielerisch motivieren (Kap. 6) – dieses konkrete Beispiel kommt aus der Praxis: es hat durchaus Gelder in Sparprodukte gelenkt.
Diese Liste ließe sich fortsetzen, doch schon hier zeigt sich: Nudges begegnen uns überall – ob bewusst designt oder zufällig entstanden. Nudge – The Final Edition sensibilisiert dafür, solche Entscheidungsdetails wahrzunehmen und aktiv zu gestalten. Die Alltagsbeispiele reichen vom trivialen (eine Fliege im Urinal) bis zum lebenswichtigen (Organspendeformular). Allen gemein ist aber die Kernaussage: Kontext bestimmt Verhalten. Oder mit den Worten des Buches: „Small and apparently insignificant details can have major impacts on people’s behavior. A good rule of thumb is to assume that everything matters.“.
Genau dieses Verständnis – dass selbst winzige Stellschrauben zählen – macht Nudge zu so einer wertvollen Lektüre. Es schärft den Blick dafür, wie Entscheidungen zustande kommen und ermutigt Politiker, Manager wie Privatleute, die Welt um uns herum klüger zu gestalten. Nach der Lektüre dieses Dossiers sollte deutlich geworden sein: Wir alle sind mal Carolyn, mal Homer Simpson – und mit ein paar gut platzierten „Stupsern“ lässt sich viel Gutes bewirken, ohne dass wir unsere Freiheit opfern müssen.
Die stoische Weisheit eingangs mahnt uns, unsere Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen. Nudge liefert die praktische Ergänzung: Wenn wir unsere menschlichen Schwächen kennen, können wir durch kluge Wahlarchitektur den Weg zum richtigen Handeln ebnen. Damit ist dieses Buch nicht nur eine Anleitung für bessere Politik, sondern auch ein Plädoyer für einen menschenfreundlichen Blick auf unsere Unvollkommenheit – und wie wir mit Kreativität und Empathie das Beste daraus machen können.
Quellen: Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2021). Nudge: The Final Edition. Penguin Books.
Thaler & Sunstein, Nudge: The Final Edition (2021) jeweils im englischen Original plus knapper deutscher Übersetzung.
1) Checklisten in Chirurgie & Luftfahrt („alle dürfen korrigieren“)
“One interesting key to the success of such programs is to authorize everyone in the room to remind absentminded offenders… if it is considered part of their job, they do it.”
Übersetzung: Ein wichtiger Erfolgsfaktor solcher Programme ist, allen im Raum die Erlaubnis zu geben, Vergessliche zu erinnern. Wenn es als Teil der Aufgabe gilt, tun es auch Personen mit niedrigerem Status (z. B. Pflegekräfte).
Hier geht es um so etwas simples wie Händewaschen vor einer OP vom Chirurg, und das nur so die gesamte Orga verbessert wird, wenn jeder den anderen auf Fehler hinweisen und überprüfen darf.
2) Steuern: „9 von 10 zahlen pünktlich“ → ~5 Prozentpunkte schnellere Zahlung
“Nine out of ten people in the UK pay their tax on time… increasing the number of people paying within the first twenty-three days by as much as five percentage points.”
Übersetzung: „Neun von zehn zahlen pünktlich“ steigerte die Zahlung binnen 23 Tagen um bis zu fünf Prozentpunkte (Sozialnorm-Hinweis).
(Grundlinie zu Sozialnormen/Hotel-Handtüchern s. unten; Minnesota-Steuerstudie zusammengefasst in derselben Passage .)
3) Handtücher im Hotel: Sozialnorm (~75 %) & „provinzielle“ Normen
“Asking guests to save the environment… wasn’t as effective as… ‘Almost 75 percent of guests… use their towels more than once.’ … behavior was… influenced most by people who had stayed in the same room (‘provincial norms’).”
Übersetzung: Der Umwelt-Appell wirkt schwächer als die Sozialnorm („~75 % der Gäste“); am stärksten wirkt der Hinweis auf Gäste, die im selben Zimmer waren („provinzielle Normen“).
4) „Schlangenöl“ (Snake Oil) & Ausbeutung von Biases
“In the modern era, it’s easier than ever to sell snake oil. … Goop has been selling products that might actually contain small amounts of snake oil… More money can [be] made by catering to human frailties than by helping people to avoid them. Bars make a lot more money than Alcoholics Anonymous.”
Übersetzung: „Schlangenöl“ lässt sich heute leichter denn je verkaufen. Gesundheits/Esoterik Anbieter nutzen kognitive Schwächen; damit verdient man mehr, als Menschen beim Vermeiden dieser Fehler zu helfen.
5) „Stimulus-Response Compatibility“ (Türgriffe, Don Norman)
“Those doors are bad architecture… stimulus response compatibility… Flat plates shout ‘push me’ and big handles yell ‘pull me’.”
“It is possible to incorporate human factors into design, as Don Norman’s The Design of Everyday Things illustrates.”
Übersetzung: Diese Türen verletzen die Reiz-Reaktions-Kompatibilität: Flache Platten „rufen: drück mich“, große Griffe „zieh mich“. Don Norman zeigt, wie man solche menschzentrierten Gestaltungsprinzipien umsetzt.
Industriedesign
(Dein Stichwort „Resistenzkompatibilität“ zielt im Buch auf diesen Begriff.)
6) Entscheidungsarchitektur & Mantra „Make It Easy“ (Kurt Lewins „channel factors“)
“If you want to encourage some action or activity, Make It Easy. … what Kurt Lewin called ‘channel factors’.”
Übersetzung: Wenn du Verhalten fördern willst: Mach es leicht. Kleine „Kanalfaktoren“ lenken den Handlungsfluss — Design entscheidet.
7) China: Lotterie-Quittungen (Fapiao) gegen Steuerhinterziehung
“In mainland China, lotteries are used… for tax compliance… special receipts… each receipt includes a scratch-off lottery ticket, giving customers an incentive to ask for a receipt.”
Übersetzung: In China enthalten Kassenbelege Rubbellose. Das gibt Kund*innen einen Anreiz, den Beleg zu verlangen — und macht Umsätze für den Staat sichtbar.
Optional – als Ergänzung zu „Entscheidungsarchitektur“ (Sparen): Save More Tomorrow
“Save More Tomorrow… increases are automatic, using inertia… after… four pay increases… savings rate… to 13.6 %.”
Übersetzung: Beim Programm „Save More Tomorrow“ steigen Beiträge automatisch (mit Gehaltserhöhungen) — die Trägheit wirkt für statt gegen das gute Verhalten; in der Studie stiegen Quoten bis ~13,6 %.
Desinformation Score:
https://www.linkedin.com/posts/mirkolange_problem-zerlegung-bewertung-activity-
Wir arbeiten uns immer tiefer in den Desinfo-Score ein, und wir kommen immer mehr zu einem präzises Analyseinstrument für politische Kommunikation.
hashtag#Problem
Politische Aussagen sind selten klare Fakten. Oft sind sie Mischungen aus Wertungen, Halbwahrheiten, Frames und Andeutungen.
Wer nur fragt „Fakt oder Fake?“, übersieht das strategische Sprachspiel. Wir wollen diese Mischformen sichtbar machen: zuverlässig, ohne Bauchgefühl.
hashtag#Zerlegung
Der erste Schritt ist die Zerlegung. Wir nehmen ein Transkript und brechen es auf die kleinste codierbare Einheit herunter: abgeschlossene Sätze, die eine überprüfbare Behauptung oder Wertung enthalten. Rhetorische Floskeln filtern wir aus, verschachtelte Sätze splitten wir. Bei Katharina Dröge haben wir so 69 Aussagen identifiziert – von klaren Fakten („Gaspreise explodierten durch den Krieg“) bis zu politischen Bewertungen („CDU betreibt einen Herbst des Klimazerstörens“).
hashtag#Bewertung
Der zweite Schritt ist die Bewertung. Jede Aussage wird in eine von fünf Kategorien eingeordnet:
🟥 Falsch (5 Desinfo-Punkte) – objektiv widerlegbar
🟧 Delegitimierung (4) – diffamierend, abwertend
🟨 Verzerrung (3) – einseitig oder kontextreduziert
🟩 Frame (1) – sprachlicher Deutungsrahmen
✅ Wahr (0) – korrekt oder legitime Wertung
Wir prüfen von oben herunter, zuerst auf „Falsch“ (gelogen), wenn nicht, dann auf „Delegitimierung“, dann auf „Verzerrung“ und so weiter. Was am Ende übrige bleibt ist „wahr“. So wird jede Aussage eindeutig eingeordnet, keine Doppelungen, keine Willkür.
hashtag#Ergebnis
⬛ Anzahl Aussagen gesamt: 69
🟥 Falsch: 0 (0 %)
🟧 Delegitimierung: 5 (7 %)
🟨 Verzerrung: 17 (25 %)
🟩 Frame: 18 (26 %)
✅ Wahr: 29 (42 %)
hashtag#DesinfoScore: 1.4 (von 5)
⬜🟩⬜⬜⬜ (0,5 – 1,4)
hashtag#Erkenntnisse
Dröge arbeitet stärker faktenbasiert, betont programmatische Punkte und attackiert die CDU vor allem über Frames („Herbst des Klimazerstörens“) oder Delegitimierungen („peinlicher Oppositionssound“). Zugleich enthält sie sich der plumpen Lüge – keine Aussage war objektiv falsch. Im Vergleich zu ihrer Kontrahentin bei Maischberger, Gitta Connemann, delegitimiert nur halb so viel (7% vs. 14%) hat deutlich weniger Verzerrungen (25% vs. 40%) und drei mal so viele wahre Aussagen (14% vs. 42%).
hashtag#Wissenschaft
Jeder Schritt von der Zerlegung bis zur Bewertung ist dokumentiert und reproduzierbar. Wir messen nicht Meinungen, sondern Kategorien. Damit entsteht eine wissenschaftlich belastbare Grundlage, um politische Kommunikation transparent zu machen. Demokratie braucht nicht nur Faktenchecks, sondern ein Verständnis der Sprachmuster, die Wirklichkeit formen. Genau das macht unser Score sichtbar. Aktuell nur hier ganz grob auf LinkedIn, ab Anfang nächsten Jahres ganz detailliert online mit allen Details: Ich denke Ende nächsten Jahres mit mehreren tausend Aussagen von Politikern.