How Europe Underdeveloped Africa von Rodney Walter, 1972

22.3.2024

Einleitung und Überblick

Walter Rodneys Buch “How Europe Underdeveloped Africa” (1972) ist ein prägendes Werk der postkolonialen Literatur und Entwicklungsökonomie. Es argumentiert, dass europäische Mächte durch Kolonialismus, Versklavung und ökonomische Ausbeutung die strukturelle Unterentwicklung Afrikas maßgeblich verursacht haben. Rodney stand politisch einem panafrikanischen, antikolonialen und marxistisch angehauchten Denken nahe. Sein Werk rief sowohl breite Zustimmung als auch vehemente Kritik hervor.

Die zentrale These lautet: Afrika wurde durch den europäischen Kolonialismus nicht nur „rückständig gehalten“, sondern strukturell an eine globale Wirtschaftsordnung angebunden, in der die Wertschöpfung zugunsten Europas verschoben wurde. Gleichzeitig wurde das Potenzial innerafrikanischer Entwicklungen systematisch untergraben.

Im Folgenden betrachten wir das Buch (bzw. dessen Rezeption und Stoßrichtung) aus mehreren Perspektiven: einer amerikanischen, indischen, chinesischen, deutschen, europäischen und afrikanischen. Zusätzlich ordnen wir die politischen Lager, Ideen, Hintergründe, mögliche „Hidden Agendas“, Auslassungen und Vereinfachungen ein, um die Frage zu beantworten: Was sollte mit dem Buch erreicht werden und wie könnte es von verschiedenen Seiten beurteilt werden?

1. Perspektive eines US-Amerikaners

• Historischer Kontext: In den USA der 1970er-Jahre waren Rassismus und Bürgerrechtsbewegungen noch sehr präsent. Die Black-Power-Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung hatten kurz zuvor für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen gesorgt. Werke wie das von Walter Rodney passten in eine politische Stimmung, die Fragen nach globaler Gerechtigkeit und antikolonialer Solidarität aufwarfen.

• Rezeption:

• Aus progressiver, afrozentrierter Sicht war Rodneys Buch damals eine Bestätigung der kritischen Analyse, dass afrikanische Länder durch koloniale Einflüsse systematisch benachteiligt worden waren – eine Perspektive, die sich mit Forderungen nach Black Empowerment in den USA verband.

• Liberale oder „Mainstream“-Leser könnten das Werk als zu stark marxistisch eingefärbt oder zu polarisierend wahrgenommen haben.

• Konservative Kreise mochten die These ablehnen, dass Europas Rolle durchweg negativ gewesen sein soll; man betonte eher den Eigenanteil afrikanischer Eliten an Missständen.

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• Aus einer linksgerichteten US-Perspektive dient das Buch der Mobilisierung gegen Imperialismus und für eine globale Umverteilung.

• Aus einer konservativeren US-Perspektive entsteht der Eindruck, das Buch überhöhe die Opferrolle Afrikas und ignoriere positive Aspekte der europäischen Moderne (Bildungssysteme, medizinische Fortschritte etc.).

• Rodney hatte in den USA durchaus Unterstützer in akademischen und schwarzen Intellektuellen Kreisen, was das Buch zu einer Art antikolonialem Referenzwerk machte.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?:

• Mögliche interne Dynamiken afrikanischer Gesellschaften werden teils nur am Rande behandelt.

• Die Diskussion um die Handlungsfähigkeit afrikanischer Staaten nach der Unabhängigkeit und das Versagen gewisser afrikanischer Regime – darauf geht Rodney zwar ein, aber viele Kritiker würden sagen, er betone strukturelle Faktoren zu stark und unterschätze interne Machtverhältnisse.

2. Perspektive eines Inders

• Historischer Kontext: Indien erlangte 1947 seine Unabhängigkeit und hatte eine eigene lange Kolonialgeschichte. Man ist daher für Argumentationen über wirtschaftliche Ausbeutung durch Kolonialherren (die Briten) sehr empfänglich.

• Rezeption:

• Eine indische Leserschaft, besonders aus linken/sozialistischen Kreisen oder von Gandhi-Nehru geprägten Denkern, könnte Rodneys Werk als Bestätigung kolonialer Ausbeutung sehen. Es passt in das Narrativ, dass auch Indien unter britischer Herrschaft wirtschaftlich deformiert wurde (z. B. die Zerstörung der Textilindustrie).

• Ein Teil der indischen akademischen Elite (besonders in den Sozialwissenschaften) identifiziert sich mit der globalen „Dritte Welt“-Solidarität und würde Rodneys Argumente als weitgehend zutreffend betrachten.

• Kritische Stimmen könnten einwenden, dass Rodneys Fokus auf Afrika für die koloniale Erfahrung Indiens nur bedingt anwendbar ist, da Indiens Kolonialvergangenheit andere Ausprägungen hatte und Indiens Entwicklung nach 1947 teilweise andere Bahnen nahm (z. B. gemischte Wirtschaft, späte Liberalisierung).

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• Linke Kreise sehen in Rodneys Buch eine historische Legitimation für antiimperialistische Politik, Süd-Süd-Kooperation und Unabhängigkeitsbewegungen.

• Nationalistische Stimmen in Indien könnten Rodneys Schlussfolgerungen befürworten, da sie selbst die These vertreten, dass Kolonialismus Indien in seiner Entwicklung zurückgeworfen hat.

• Ein allzu verallgemeinerndes Bild „des Westens als Ausbeuter“ könnte in Teilen Indiens Zuspruch finden, da es das eigene Kolonialtrauma widerspiegelt.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?

• Unterschiede zwischen afrikanischen und asiatischen Formen der Kolonisierung.

• Interne soziale und wirtschaftliche Komplexitäten und Kastenstrukturen in Indien, die für Armut und Ungleichheit auch unabhängig vom Kolonialismus mitverantwortlich sind.

3. Perspektive eines Chinesen

• Historischer Kontext: China hat selbst eine Geschichte ausländischer Einmischung („ungleiche Verträge“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert) erlebt, wurde jedoch formal nie vollständig kolonialisiert wie große Teile Afrikas. In den 1970er-Jahren befand sich die Volksrepublik unter Mao in der Endphase der Kulturrevolution; China unterstützte in vielen Fällen antikoloniale Befreiungsbewegungen in Afrika (z. B. gegen Portugal oder gegen weiße Minderheitsregime).

• Rezeption:

• Eine chinesische Leserschaft zur Zeit Mao Zedongs hätte Rodneys Buch vermutlich als Bestätigung einer antiimperialistischen, marxistisch-leninistischen Position begrüßt.

• Heute könnte man das Werk in China eher in einen akademischen Kontext stellen, um die Rolle des Westens im globalen Süden kritisch zu beleuchten. Zugleich verfolgt die Volksrepublik seit Jahrzehnten eine eigenständige Afrika-Politik (Investitionen, Infrastrukturprojekte) und tritt als Partner auf, was manche als „neuen“ oder „modernen“ Imperialismus bezeichnen, andere als Win-win-Situation.

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• Aus der Perspektive eines sozialistischen Chinas wäre Rodneys Kritik am Westen hochwillkommen, da man die eigene globale Rolle als Gegenentwurf zu westlichen Entwicklungsmodellen präsentieren kann.

• Kritiker könnten auch anmerken, dass China zwar rhetorisch Rodneys Argumente unterstützt (Dämonisierung des westlichen Imperialismus), im eigenen wirtschaftlichen Wirken in Afrika jedoch durchaus neokoloniale Züge angenommen hat (z. B. Ressourcenextraktion, Infrastrukturprojekte mit chinesischen Arbeitskräften). Somit kann das Buch als nützliche ideologische Stütze fungieren, gleichzeitig ignoriert man aber teils eigene problematische Aspekte.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?

• Rodney betrachtet primär die europäische Kolonialgeschichte; neuere Entwicklungen wie chinesische Investitionen in Afrika konnte er in den 1970er-Jahren noch nicht thematisieren.

• Die Rolle anderer Kolonialmächte (zum Beispiel Japan in Asien) kommt nicht vor.

4. Perspektive eines Deutschen

• Historischer Kontext: Deutschland hatte im Vergleich zu Großbritannien, Frankreich oder Portugal einen kleineren, kürzeren, aber sehr brutalen Kolonialbesitz (z. B. in Namibia, Tansania, Kamerun, Togo). In den 1970er-Jahren war das deutsche Bewusstsein für die Kolonialvergangenheit eher gering; das Thema war kein Hauptschwerpunkt der öffentlichen Debatte, zumal man stark mit der NS-Aufarbeitung beschäftigt war.

• Rezeption:

• Linke und alternativ-akademische Kreise in der Bundesrepublik konnten mit Rodneys Buch etwas anfangen, da man ein generelles Interesse an antikolonialen und antiimperialistischen Theorien hatte (bspw. Studentenbewegung, 68er).

• Konservative oder bürgerliche Kreise blieben eher reserviert. Die These, Europa habe Afrika grundsätzlich unterentwickelt, stieß auf Skepsis, nicht zuletzt weil deutsche Kolonialverbrechen (z. B. der Völkermord an den Herero und Nama) damals noch nicht so stark öffentlich aufgearbeitet wurden, wie es heute der Fall ist.

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• Als deutscher Historiker könnte man heute sagen, dass Rodneys Buch ein wichtiger Beitrag ist, den man in die breitere europäische Selbstkritik einbeziehen sollte.

• In den 1970er-Jahren hätte man durchaus argumentiert, dass auch interne afrikanische Faktoren eine Rolle spielten und Europa nicht alleinige Ursache für Afrikas Misere sei. Dies dient (je nachdem) als bewusste oder unbewusste Relativierung europäischer Verantwortung.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?

• Rodneys Werk legt einen Hauptakzent auf die großen Kolonialmächte (v. a. Großbritannien, Frankreich, Belgien, Portugal). Die spezifische deutsche Kolonialgeschichte ist zwar Teil dieser Geschichte, aber nicht der Hauptfokus.

• Auch hier: Die Rolle afrikanischer Eliten oder politischer Konflikte innerhalb Afrikas könnte nach Ansicht mancher deutscher Historiker stärker berücksichtigt werden.

5. Perspektive eines Europäers (allgemein)

• Historischer Kontext: Die Dekolonisation Afrikas war in den 1970er-Jahren großteils abgeschlossen, doch viele europäische Staaten hatten noch enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu ihren ehemaligen Kolonien.

• Rezeption:

• Es gab in Europa einen Teil der intellektuellen Szene, der sich deutlich antiimperialistisch positionierte. Für sie war Rodney ein wichtiger, wenn auch radikaler Ankläger des europäischen Kolonialsystems.

• Breitere Teile der europäischen Gesellschaft sahen die Kolonialära oft als „vergangenen“ Abschnitt an, aus dem man sich zwar moralische Mahnungen holte, aber nicht unbedingt strukturelle Konsequenzen zog. Man war geneigt, Rodneys Aussagen als „zu einseitig“ abzutun.

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• Europäische Linke nutzte das Buch als Argument gegen die neokolonialen Tendenzen (z. B. in der Handelspolitik, der Rohstoffausbeutung) und forderte Veränderungen zugunsten Afrikas (faire Handelsbedingungen, Schuldenerlass, etc.).

• Konservativ-liberale Stimmen bemühten sich zu betonen, dass Kolonialismus zwar moralisch verwerflich sei, aber einseitige Schuldzuweisungen an Europa wenig konstruktiv seien. Hier steht oftmals das Argument im Raum, Afrika trage auch Selbstverantwortung.

• Dahinter könnte als „Hidden Agenda“ stehen, dass man kostspielige Wiedergutmachungsansprüche abwehren möchte.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?

• In vielen europäischen Debatten der 1970er-Jahre wurde kaum über Kolonialismus als fortbestehende Struktur gesprochen, sondern eher als Thema der Vergangenheit.

• Rodneys Marxismus könnte manchen Europäern zu systemkritisch oder zu polarisierend erscheinen.

6. Perspektive eines Afrikaners

• Historischer Kontext: Viele afrikanische Staaten waren in den 1970er-Jahren noch jung und standen vor enormen Entwicklungsherausforderungen, politischen Unruhen, oft auch Ein-Parteien-Regimen oder Militärdiktaturen.

• Rezeption:

• Rodneys Buch diente afrikanischen Intellektuellen, Befreiungsbewegungen und Akademikern als Schlüsselliteratur, um die koloniale Last zu erklären und zu kritisieren. Es förderte das Bewusstsein, dass ihre ökonomischen und politischen Probleme nicht nur auf interne Faktoren, sondern auch auf internationale Machtstrukturen zurückzuführen sind.

• Befreiungskämpfer gegen die (noch bestehenden) Kolonialregime Portugals (Angola, Mosambik, Guinea-Bissau) sahen sich in den Analysen bestärkt.

• Kritiker innerhalb Afrikas könnten anmerken, dass das Buch gelegentlich die Rolle afrikanischer Machthaber, Oligarchien oder postkolonialer Eliten unterschätzt, die ebenfalls zu Korruption und Misswirtschaft beigetragen haben.

• Politische Lager & mögliche „Hidden Agenda“:

• In Afrika dient das Buch sowohl als Manifest für die Forderung nach Entschädigung, Reparationen und nach gerechteren Handelsbeziehungen, als auch als ideologische Rechtfertigung linker Regime, die sich auf den „Kampf gegen Imperialismus“ beriefen.

• Es kann auch für eine gewisse Absolution eigener Machthaber herhalten („an allem ist der Westen schuld“). Das gerät in der aktuellen Diskussion stärker in die Kritik, da man heute die Verantwortung afrikanischer Regierungen und Eliten ebenfalls thematisiert.

• Was wird ausgelassen oder vereinfacht?

• Rodneys Fokus liegt stark auf exogenen Faktoren und weniger auf endogenen Verflechtungen (ethnische Konflikte, Geschlechterverhältnisse, lokale Herrschaftsstrukturen).

• Die Vielfalt Afrikas – politisch, kulturell, wirtschaftlich – wird in seiner Gesamtargumentation teils nur grob zusammengefasst (obwohl Rodney sich durchaus um Differenzierung bemüht, bleibt die große Linie oft ein Generalangriff auf den Kolonialismus).

Zusammenführung der Sichtweisen und Fazit

Was wollte Rodney erreichen?

Walter Rodney war selbst Aktivist, Historiker, linker Intellektueller und überzeugter Panafrikanist. Sein Hauptanliegen war es, die strukturellen Abhängigkeiten zwischen Afrika und den (ehemals) kolonisierenden Mächten aufzuzeigen und die Notwendigkeit eines radikalen politischen Umdenkens zu unterstreichen. Er kritisierte die klassische Entwicklungshilfe, die er teils als Fortsetzung kolonialer Abhängigkeit wertete.

Mögliche „Hidden Agenda“

• Kritiker könnten Rodneys marxistische Grundhaltung als „Hidden Agenda“ bezeichnen – seine Analyse läuft tendenziell darauf hinaus, dass ein sozialistisches oder zumindest antikapitalistisches Modell nötig sei, um Afrika aus kolonial geprägten Strukturen zu befreien.

• Die Ausblendung interner afrikanischer Faktoren kann als bewusste Zuspitzung verstanden werden, um den externen Kolonialfaktor maximal sichtbar zu machen und zur Mobilisierung gegen das globale (kapitalistische) System beizutragen.

Weglassung, Vereinfachung, Kritik

• Rodneys These, dass Europas Eingreifen fast ausschließlich destruktiv wirkte, wird von manchen Historikern als zu monolithisch empfunden. Sie betonen, dass komplexe Wechselwirkungen und afrikanische Agentenschaft nicht immer genügend berücksichtigt sind.

• Er vereinfacht zum Teil die Wechselwirkungen zwischen vorkolonialen Strukturen und den Kolonialmächten. Auch zur Phase nach der Unabhängigkeit, in der afrikanische Eliten teils selbst neokoloniale Praktiken pflegten, nimmt er zwar Stellung, aber für viele Kritiker nicht differenziert genug.

Politische Lager und Hintergründe

• Linksgerichtete und postkoloniale Theoretiker sehen in Rodneys Werk bis heute einen wegweisenden Text, der europäische (und globale) Verantwortung für afrikanische Unterentwicklung belegt.

• Konservative Kritiker betonen, dass Rodney einseitig argumentiere und Europas Anteil überbetone, um eine antikapitalistische Agenda zu stützen.

• Je nach globaler Herkunft und der jeweiligen kolonialen Erfahrung liest man das Buch unterschiedlich: Als Befreiungsaufruf, als Klage, als historisches Dokument oder als ideologisch aufgeladenen Text.

Neutralität und Einschätzung

Das Buch ist in gewisser Weise ein politisches Manifest. Vollständige Neutralität strebt Rodney selbst nicht an; er will den Finger in die Wunde legen und die Verantwortung des Westens klar benennen.

Aus heutiger Perspektive gilt das Werk als bedeutend, aber man muss berücksichtigen, dass die Forschung inzwischen stärker nach innenafrikanischen Faktoren sucht, die Interaktionen zwischen afrikanischen Akteuren und Kolonialmächten genauer untersucht und auch neue Theorien (z. B. Dependency-Theorie, postkoloniale Theorie, Globalgeschichte) eingebracht hat.

Schluss

How Europe Underdeveloped Africa ist ein zentrales Werk in der postkolonialen Debatte, das sich deutlich gegen jede Form von Imperialismus richtet und die ökonomischen und politischen Verflechtungen zwischen Europa und Afrika scharf kritisiert. Die Rezeption variiert je nach ideologischem und kulturellem Hintergrund. Insgesamt ging es Rodney darum, ein Bewusstsein für die strukturelle Dimension der Unterentwicklung Afrikas zu schaffen, Solidarität der Unterdrückten zu fördern und das Bewusstsein in Afrika selbst zu stärken, sich vom westlich dominierten System zu emanzipieren.

Die „politischen Lager, Ideen und Hintergründe“ basieren also auf Rodneys marxistisch-panafrikanischem Fundament, während man als Historiker anmerken kann, dass das Werk zwar historisch interessant und einflussreich ist, jedoch auch aus einer klaren ideologischen Position argumentiert. Für ein tieferes Verständnis der afrikanischen Unterentwicklung sollten unbedingt weitere (teils neuere) Studien und Perspektiven herangezogen werden, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten.

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Einordnung von Ulrich Jochimsen und seinen Thesen

Ulrich Jochimsen ist ein deutscher Autor und Kritiker, der sich intensiv mit den Machenschaften mächtiger Institutionen und Konzerne befasst hat. Sein bekanntestes Werk ist Die Stromdiktatur. Darin beleuchtet er unter anderem:

• Die Verflechtungen großer deutscher Energieversorger (z. B. RWE, PreussenElektra, heutige Nachfolgeunternehmen) mit politischen Entscheidungsträgern.

• Die Geschichte dieser Konzerne im Dritten Reich, ihre Rolle bei der nationalsozialistischen Kriegsführung und ihre Weiterexistenz nach 1945, oftmals mit den gleichen Führungspersonen und ähnlichen Strukturen.

• Das Prinzip einer „stillen“ Machtkonzentration: Energiekonzerne erlangten de facto Monopolstellungen und beeinflussten Politik und Öffentlichkeit, ohne dass es zu einem offenen Diskurs kam.

Seine zentrale These (vereinfacht ausgedrückt) lautet, dass diese Konzerne – schon vor 1933, dann aber insbesondere im Zusammenspiel mit den Nationalsozialisten – ein dichtes Netzwerk bildeten, das weit über die eigentliche Stromversorgung hinausreichte. Dadurch entstand eine Art „Diktatur der Energie“, die letztlich auch nach 1945 nicht grundlegend zerschlagen wurde, sondern in die Bundesrepublik „überging“. Die Folge ist bis heute eine strukturbedingte Machtkonzentration in der Energieversorgung, die sich laut Jochimsen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich niederschlägt.

Parallelen zu Rodneys Kritik

Dass Ulrich Jochimsen Walter Rodneys How Europe Underdeveloped Africa empfiehlt, lässt sich aus mehreren Gründen erklären:

1. Gemeinsame Skepsis gegenüber etablierten Machtstrukturen

• Rodney zeigt auf, wie Europa im Zuge des Kolonialismus über Jahrhunderte hinweg Strukturen geschaffen hat, die Afrika in Abhängigkeit und Unterentwicklung hielten.

• Jochimsen beschreibt eine vergleichbar kritische Haltung gegenüber den „stillen Eliten“ in der Energiewirtschaft, die – ebenfalls über lange Zeiträume – politische Prozesse mitgestalten und monopolisieren.

• Beide Autoren legen den Finger auf Mechanismen, die von außen oft nicht ohne Weiteres erkennbar sind, weil sie sich in formellen wie informellen Netzwerken abspielen.

2. Strukturelle (nicht bloß punktuelle) Kritik

• Rodney argumentiert nicht nur gegen einzelne Kolonialherren oder Regierungen, sondern gegen ein gesamtes System (Kolonialismus und nachfolgend Neokolonialismus), das bis in die globale Gegenwart hineinwirkt.

• Jochimsen verweist auf systemische Abhängigkeiten: Konzerne sind nicht einfach nur „große Firmen“, sondern agieren in einem Geflecht von Politik, Finanzen und gesellschaftlicher Prägung, wodurch sie ihren Einfluss dauerhaft sichern.

3. Historische Tiefenanalyse

• Walter Rodney stützt sich auf historische und ökonomische Analysen, um zu zeigen, wie die Kolonialzeit Afrikas Entwicklungsmöglichkeiten nachhaltig beeinflusst hat.

• Ulrich Jochimsen verfolgt ebenfalls einen historischen Ansatz, indem er die Ursprünge der Energiekonzerne und ihre Rolle im „Dritten Reich“ untersucht. Diese Vergangenheit erklärt für ihn aktuelle Strukturen und Machtkonzentrationen.

4. Politisch-gesellschaftliches Engagement

• Beide Werke haben eine stark kritische, teils auch aktivistische Grundnote. Rodney schrieb sein Buch nicht nur als nüchterner Wissenschaftler, sondern auch als politischer Akteur und Panafrikanist, um eine breite Leserschaft zu mobilisieren und „aufzurütteln“.

• Jochimsen verfolgt in Die Stromdiktatur ähnliche aufrüttelnde Ziele. Er möchte Bewusstsein schaffen, dass die Energiepolitik eben nicht nur „technisch“ oder „rein wirtschaftlich“ ist, sondern massiv Gesellschaft und Demokratie prägt – und das oft ohne demokratische Kontrolle.

Warum Jochimsen von Rodneys Werk begeistert war

1. Radikale Systemkritik

• Rodney deckt auf, wie sehr scheinbar selbstverständliche globale Wirtschafts- und Machtverhältnisse historisch gewachsen und (nach Ansicht Rodneys) zutiefst ungerecht sind.

• Für Jochimsen, der in der deutschen Nachkriegsordnung viele alte Machtnetzwerke fortbestehen sieht, ist es eine ähnliche Form der Enthüllung. Er erkennt: Um Ungerechtigkeiten zu verstehen, muss man sich die Entwicklungssysteme ansehen – wer hat wo profitiert, auf wessen Kosten, und welche Kräfte hielten diese Strukturen aufrecht?

2. Analogie von „Verdeckter Machtausübung“

• Während bei Rodney koloniale und später neokoloniale Kräfte im Spiel sind, beleuchtet Jochimsen einen ähnlichen Effekt: Machtkonzentration wird für die breite Bevölkerung häufig unsichtbar oder akzeptiert.

• Beide Autoren zeigen, wie Institutionen (Kolonialregime oder Energiekonzerne) ihren Einfluss teils ohne großen Widerstand ausweiten und festigen können.

3. Politische Konsequenzen

• Rodney führt aus, dass Afrikas Unterentwicklung nicht zufällig ist, sondern strukturell bedingt und nur durch fundamentale Umbrüche (so seine marxistisch-panafrikanische Perspektive) zu überwinden sei.

• Jochimsen argumentiert analog für den deutschen Kontext: Nur durch ein verändertes politisches Bewusstsein, demokratische Kontrolle und offene Debatten ließe sich eine echte Reform der Energiebranche erreichen.

4. Links-kritische bzw. antikapitalistische Einschläge

• Rodney war stark vom Marxismus, Antiimperialismus und Panafrikanismus geprägt.

• Jochimsen bekennt sich zwar nicht unbedingt explizit zu einer marxistischen Ideologie, aber in seiner Analyse der Kapital- und Machtverflechtungen innerhalb der Energiewirtschaft klingt ein deutlicher antikapitalistischer Ton an: Er sieht konzern- und eigentumsbedingte Strukturen als Kern des Problems.

Fazit

Ulrich Jochimsens Die Stromdiktatur ist ein Werk, das – wie Rodneys How Europe Underdeveloped Africa – bestehende Machtstrukturen fundamental infrage stellt. Beide Bücher wollen Lesern vermitteln, dass historische Prozesse (Kolonialismus einerseits, Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus andererseits) langfristig in die Gegenwart hineinwirken und die Gegenwart entscheidend prägen.

Jochimsen war von Rodneys Buch daher begeistert, weil es eine ähnliche, systemkritische und historisch fundierte Perspektive einnimmt, wie er sie in der Energiewirtschaft beobachtet. Beide Werke zeigen, wie gewisse Eliten über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang Strukturen schaffen, die eine Ausbeutung oder Unterdrückung einzelner Gruppen ermöglichen. Aus Jochimsens Sicht bestätigt Rodney die Bedeutung solcher Tiefenanalysen und die Einsicht, dass man Missstände nur beheben kann, wenn man ihre (historischen) Wurzeln offenlegt und bekämpft.

Zunächst einmal ist es hilfreich, Ulrich Jochimsens Grundhaltung und Denkweise zu verstehen, um nachzuvollziehen, weshalb er so vehement – wie Sie es beschreiben „verbittert und kriegerisch“ – gegen die Großkonzerne (insbesondere im Energiebereich) auftritt. Dazu ein paar zentrale Punkte:

1. Historisch geprägte Systemkritik

• Historische Verstrickungen: Jochimsen argumentiert in Die Stromdiktatur, dass die Ursprünge und Strukturen vieler heutiger Energiekonzerne (z. B. RWE, PreußenElektra usw.) bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt wurden – mit engen Verbindungen zu Politik und Militär (insbesondere während des „Dritten Reichs“).

• Kontinuitäten von Personen und Netzwerken: Auch nach 1945, so Jochimsen, seien dieselben Eliten oder enge Kreise in Führungspositionen geblieben. Diese Kontinuitäten – das „Einbetoniertsein“ bestimmter Strukturen und Denkweisen – würden bis heute nachwirken.

Wenn er heute immer noch hart ins Gericht geht, dann deshalb, weil er darin kein abgeschlossenes Kapitel sieht, sondern eine aus seiner Sicht fortdauernde systemische Machtkonzentration – trotz moderner „demokratischer“ Hüllen und Aktiengesellschafts-Form.

2. Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Aktionärsdemokratie

Sie sprechen zu Recht an, dass viele Energiekonzerne in der Form von Aktiengesellschaften organisiert sind, dass also prinzipiell zahlreiche Kleinaktionäre, Pensionsfonds und andere Anleger Mitbesitzer sind. In der Theorie bedeutet dies:

• Weit gestreutes Eigentum: Breiter Kreis von Aktionären, darunter eben auch Privatpersonen, Pensionskassen, Rentenfonds usw.

• Kontrolle via Hauptversammlung und Aufsichtsrat: Die Aktionäre (oder ihre Vertreter, z. B. institutionelle Investoren) wählen bzw. besetzen den Aufsichtsrat und haben somit Einfluss auf die Unternehmensführung.

Jochimsen und andere Konzernkritiker würden hier einwenden:

1. Machtasymmetrie: In der Praxis üben Kleinaktionäre kaum direkten Einfluss aus, da Entscheidungsprozesse stark von Großinvestoren, institutionellen Anlegern, Banken und Fonds geprägt werden, die jeweils gebündelt größere Anteile vertreten.

2. Professionalisierte Lobby- und Netzwerkarbeit: Viele Konzerne haben eingespielte Verbindungen in die Politik, Ministerien, Regulierungsbehörden und Medien. Kleinaktionäre oder „normal Sterbliche“ haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, diese Netzwerke zu durchbrechen oder zentrale strategische Entscheidungen zu beeinflussen.

3. Renditeerwartungen ≠ gesellschaftliches Interesse: Aktionäre wollen vor allem Dividenden und Kurssteigerungen. Das ist legitim. Jochimsen kritisiert allerdings, dass daraus ein permanenter Druck auf Gewinnmaximierung entsteht – was z. B. im Energiebereich eine sehr einseitige Orientierung an fossilen oder zentralisierten Strukturen begünstigte (früher Kohle und Atom, heute Diskussion um Infrastrukturmonopole u. Ä.). Aus seiner Sicht fehlen so Anreize für echte gesellschaftliche oder ökologische Reformen.

Kurz gesagt: Jochimsen hält das Argument „Das sind doch Aktiengesellschaften, also ein breiter gesellschaftlicher Besitz“ für eine Art Feigenblatt, weil die eigentliche Strategie- und Machtkonzentration nicht bei den vielen kleinen „Normalo-Aktionären“ liege, sondern bei wenigen großen Playern, Managerkreisen und politisch gut vernetzten Führungsetagen.

3. Jochimsens antikapitalistische bzw. systemkritische Grundhaltung

• Weltanschauliche Prägung: Jochimsen kommt aus einem Umfeld, das stark systemkritisch, zum Teil auch antikapitalistisch argumentiert (wenn auch nicht immer explizit marxistisch). Er kritisiert das Prinzip der Konzernmacht an sich, weniger nur die Rechtsform „AG“.

• Misstrauen gegenüber vermeintlich demokratisierten Strukturen: Dass Konzerne theoretisch in vielen Händen sind, ändert für ihn nichts am Kernproblem: Die Interessenlage ist einseitig auf Profit ausgerichtet, und die Steuerung liegt faktisch in den Händen weniger Funktionsträger.

In dieser Sichtweise ist der Übergang von „privaten Monopolen“ hin zu „breit gestreuten Aktionären“ zwar formal ein Fortschritt – aber praktisch seien die alten Hierarchien (Macht der Manager, Verflechtungen mit der Politik, Netzwerke in Behörden) immer noch dominant.

4. Emotionale Dimension und Verbitterung

• Langjähriger Kampf: Wenn sich jemand wie Jochimsen über Jahrzehnte kritisch mit denselben Missständen befasst und erlebt, dass (nach eigener Einschätzung) grundlegende Probleme fortbestehen, führt das häufig zu einer gewissen „Kämpfermentalität“ und Ungeduld.

• Starkes Gerechtigkeitsmotiv: Wer sich – wie Jochimsen – auf historische Verbindungen zum Nationalsozialismus stützt und behauptet, dass diese Konzernmacht nie grundlegend demokratisiert oder bestraft wurde, sieht darin ein tiefes Versagen der Gesellschaft und Justiz. Das kann zur Verbitterung führen: „Sie haben es ja bis heute nicht wirklich bereinigt!“

• Neigung zur Zuspitzung: Auch wenn sich vieles in der Energiewirtschaft inzwischen geändert hat (Liberalisierung des Strommarktes, erneuerbare Energien, EU-Vorgaben usw.), sieht er eher die Kontinuitäten. Die Bereitschaft, neuere Entwicklungen als Entkrampfung oder echte Demokratie in der Branche zu akzeptieren, ist bei ihm geringer.

5. Fazit: Warum „sieht“ er das nicht?

Aus seiner Sicht handelt es sich weniger um ein „Nichtsehen“, sondern um eine andere Interpretation der Fakten:

1. Aktienbesitz als Fassade: Dass es viele (kleine) Aktionäre gibt, ändert für Jochimsen nicht das Grundproblem der Konzernmacht.

2. Strukturelle Macht statt „demokratischer Kontrolle“: Er glaubt nicht, dass Kleinaktionäre oder Pensionsfonds effektiv an der Firmenstrategie mitbestimmen. Stattdessen sind es in der Praxis Führungspersonal, institutionelle Investoren und eine enge Verflechtung mit dem Staat, die den Kurs bestimmen.

3. Historische Schuld und Traditionslinien: Seine Forschung zur NS-Zeit hat ihm gezeigt, dass solche gewachsenen Netzwerke „dicker“ sind als jede formale Rechtsformänderung. Er sieht diese Macht weiterbestehen.

Das alles führt dazu, dass er selbst bei der heutigen „breiten Streuung“ des Kapitals die alten, eingefahrenen Mechanismen wittert. Das ist eine tief sitzende Überzeugung, teils historisch, teils ideologisch begründet, sodass er wohl schwer davon abzubringen ist. Für ihn bleibt eine Holdingstruktur oder ein weit gefächerter Aktienbesitz im Kern ein „Wolf im Schafspelz“ – oder, wie er es ausdrücken würde, eine weiterhin autoritäre, konzerngetriebene Macht, die nur eine moderne Fassade trägt.

Kurzum: Er will das Thema nicht herunterspielen, weil er überzeugt ist, dass die eigentlichen Eigentums- und Machtverhältnisse hinter der formal-gesetzlichen Oberfläche weiterexistieren. Seine Sozialisation – eine systemkritische, antimonopolistische Haltung – verstärkt diesen Blickwinkel. So erklärt sich, warum er selbst nach Jahrzehnten keinen „Wandel zum Besseren“ wahrnimmt, den andere (wie Sie und Ihr Schwiegervater) sehr wohl sehen, wenn sie als Kleinaktionäre an Dividenden und Mitbestimmungsrechten partizipieren.

16.5.23

How Europe Underdeveloped Africa“ ist ein Buch, das 1972 vom Autor Walter Rodney (Aktivist) veröffentlicht wurde. Es bietet eine tiefgreifende Analyse der Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auf den afrikanischen Kontinent. Es handelt sich um ein grundlegendes Werk in den Bereichen postkoloniale Studien und afrikanische Studien.

Walter Rodney argumentiert, dass der afrikanische Kontinent in der vorkolonialen Zeit eine Reihe fortschrittlicher Zivilisationen und Staaten hervorgebracht hat, die dann durch den Sklavenhandel und den Kolonialismus systematisch untergraben wurden. Diese Einflüsse haben dazu geführt, dass Afrika in seiner Entwicklung zurückblieb und weiter unterentwickelt wurde.

Das Buch ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die sich mit verschiedenen historischen Epochen und Aspekten der europäischen Einflussnahme auf Afrika befassen. Es beginnt mit einer Untersuchung der vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften und ihrer Wirtschafts- und Sozialstrukturen. Anschließend behandelt Rodney den transatlantischen Sklavenhandel und seine zerstörerischen Auswirkungen auf afrikanische Gesellschaften.

In den folgenden Kapiteln konzentriert sich Rodney auf die Kolonialzeit und zeigt auf, wie europäische Mächte ihre Kontrolle über den afrikanischen Kontinent ausweiteten und dabei die Wirtschaft, die Sozialstrukturen und die politischen Systeme Afrikas umgestalteten. Diese Prozesse, so argumentiert er, haben dazu beigetragen, Afrika in eine Position der Abhängigkeit und Unterentwicklung zu drängen.

In seinem Schlusskapitel zieht Rodney Parallelen zwischen der Kolonialzeit und der postkolonialen Ära, in der viele afrikanische Länder formal unabhängig wurden, aber immer noch wirtschaftlich und politisch von den ehemaligen Kolonialmächten abhängig blieben. Er argumentiert, dass diese Abhängigkeit und Unterentwicklung nicht nur historische Überbleibsel sind, sondern aktive Prozesse, die weiterhin durch internationale Wirtschafts- und Politiksysteme verstärkt werden.

Das Buch ist eine herausfordernde und tiefgehende Analyse der Rolle, die der europäische Kolonialismus in der Gestaltung der modernen afrikanischen Realität gespielt hat. Es bietet eine entschiedene Kritik an den Auswirkungen des Kolonialismus und fordert zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dessen anhaltenden Auswirkungen auf.