Alle werden ständig Dümmer oder sind Dumm Narrative

Die Behauptung „Wir werden alle immer dümmer“ taucht tatsächlich relativ häufig in gewissen YouTube-Kommentaren, Social-Media-Postings oder in Meinungsbeiträgen bestimmter Influencer auf. Manchmal steckt dahinter schlichtes Clickbait („Skandal!-Überschrift“), manchmal auch eine ideologische Agenda. Im Folgenden einige Aspekte, warum solche Aussagen kursieren könnten und wie sie sich mit realen Daten vergleichen lassen.

1. Mögliche Herkunft und Motive

1.1 Clickbait und Empörung als Aufmerksamkeitsmagnet

• Provokation: Schlagzeilen wie „Alle werden dümmer!“ erzeugen starke Reaktionen, was wiederum Views, Likes und Kommentare befeuert. Wer provoziert, bekommt Reichweite.

• Emotionale Resonanz: Negative oder alarmierende Botschaften verbreiten sich nachweislich schneller in sozialen Netzwerken als neutrale Informationen (sogenannter Negativity Bias).

1.2 Politische oder ideologische Motivationen

• Sündenbock-Suche: Es kann ein „Wir-gegen-die“-Narrativ entstehen („Die da oben machen uns dumm“, „Das Bildungssystem ist schuld“). Dieses Narrativ wird manchmal gezielt eingesetzt, um Misstrauen gegenüber Institutionen zu schüren oder das Gefühl einer großen Krise zu erzeugen.

• Populismus & Verschwörungstheorien: Aussagen über „allgemeine Verdummung“ passen gut in populistische Erzählungen, in denen „die Masse“ als blind oder fremdgesteuert dargestellt wird.

1.3 Psychologische Effekte

• Gruppen-Depression: Wird ständig suggeriert, dass „alle immer dümmer“ werden, kann das zu einem Ohnmachtsgefühl („Es hat ja eh keinen Zweck mehr“) und einer pessimistischen Grundstimmung führen.

• Verunsicherung: Menschen, die das Gefühl haben, „abgehängt“ zu sein, fühlen sich in solch einer Erzählung bestätigt und teilen diese Inhalte noch häufiger.

2. Was sagen die tatsächlichen Daten?

Um herauszufinden, ob tatsächlich ein „allgemeines Verdummen“ stattfindet, lohnt ein Blick auf Studien und Statistiken. Die folgenden Beispiele beziehen sich vor allem auf Deutschland bzw. den OECD-Raum.

2.1 PISA-Studien

• Leistungsvergleich: Die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) testet 15-Jährige in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften.

• Langfristige Entwicklung: Deutschland lag bei den ersten PISA-Tests (2000) unter den Erwartungen (PISA-Schock). Seither haben sich die Ergebnisse im OECD-Vergleich tendenziell verbessert oder stabilisiert – von einem generellen „Verdummen“ ist da keine Rede.

• Spannweite der Ergebnisse: Zwar zeigt sich, dass in Deutschland weiterhin eine relativ starke Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg besteht. Das ändert aber nichts daran, dass die durchschnittlichen Kompetenzen in Mathe und Lesen zuletzt eher stabil geblieben oder sogar leicht gestiegen sind.

2.2 MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik)

• Studentenzahlen: Die Zahl der Studierenden in MINT-Fächern an deutschen Hochschulen ist in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Zwar gibt es Schwankungen in einzelnen Fächern, aber ein genereller Abwärtstrend in Sachen naturwissenschaftlicher Kompetenzen ist nicht erkennbar.

• Fachkräftebedarf: Die Wirtschaft klagt oft über Fachkräftemangel im MINT-Bereich, aber das ist eher Ausdruck einer sehr hohen Nachfrage nach gut ausgebildeten Kräften als eines angeblichen „Dummheitsanstiegs“.

2.3 IQ-Entwicklung und Flynn-Effekt

• Flynn-Effekt: Über große Zeiträume (20. Jahrhundert) beobachtete man einen Anstieg der durchschnittlichen IQ-Werte, zum Teil dank besserer Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung.

• Aktuelle Diskussion: Neuere Studien deuten darauf hin, dass dieser Effekt in manchen hochentwickelten Ländern stagniert oder sich leicht umkehrt (z. B. Norwegen, Großbritannien). Die Ursachen sind komplex und umfassen möglicherweise veränderte Lebensbedingungen, weniger stark wachsenden Bildungszugang o. Ä. Allerdings handelt es sich – wenn überhaupt – um moderate Trends; ein massenhaftes „Dümmerwerden“ ist nicht wissenschaftlich belegt.

2.4 Bildungsniveau und Schulabschlüsse

• Allgemeines Niveau: Der Anteil der Bevölkerung mit (Fach-)Hochschulreife oder akademischem Abschluss ist in den letzten Jahrzehnten in Deutschland merklich gestiegen.

• Lebenslanges Lernen: Immer mehr Menschen nehmen an Weiterbildungsmaßnahmen teil – etwa durch berufsbegleitende Studiengänge, Volkshochschulkurse oder Online-Angebote.

3. Was steckt hinter der Wahrnehmung, „alle werden dümmer“?

• Medienwandel: Mit YouTube, TikTok & Co. entsteht ein neues Informationsverhalten; kurze Clips, schnelle Unterhaltung, tendenziell weniger Tiefgang. Das kann den subjektiven Eindruck erwecken, es ginge nur noch um Oberflächlichkeit.

• Selektive Wahrnehmung: Man bemerkt vielleicht eher die lauten, teils inhaltlich flachen Kommentare und schließt daraus generalisierend, „alle“ seien auf dem absteigenden Ast.

• Bildung vs. Allgemeinbildung: Während spezielle Fähigkeiten (z. B. im Tech-Bereich) wachsen, klagen manche über nachlassende „klassische“ Allgemeinbildung (Geschichte, Literatur usw.). Das kann zu einer sehr subjektiven Einschätzung führen.

4. Warum diese Narrative? Psychologische und manipulative Effekte

1. Verunsicherung schüren: Wer die Botschaft verbreitet, dass „alle immer dümmer werden“, kann ein Klima der Unsicherheit erzeugen. Menschen, die sich bedroht oder abgehängt fühlen, sind empfänglicher für bestimmte Heilsversprechen („Die anderen machen alles falsch, nur wir haben die Wahrheit!“).

2. Mobilisierung und Aufmerksamkeit: Polarisierende Meinungen ziehen immer mehr Klicks und werden in Algorithmen bevorzugt.

3. Gruppendynamik: Eine beständige Wiederholung eines Narrativs in Kommentarspalten führt oft zu einem selbstverstärkenden Effekt („Alle sagen, wir werden dümmer, also stimmt es wohl“).

4. Misstrauen gegen Institutionen: Ob Bildungseinrichtungen, Politik oder Wissenschaft – wer behauptet, dass diese Institutionen das Volk „verblöden“ lassen, zielt oft darauf, das Vertrauen in deren Kompetenz zu erschüttern.

5. Fazit

• Kein Beleg für generelles „Dümmerwerden“: Weder PISA noch IQ-Studien oder die Entwicklung in MINT-Fächern deuten auf einen dramatischen Intelligenzverfall hin.

• Teils bessere Leistungen als früher: Die PISA-Ergebnisse Deutschlands haben sich seit 2000 eher stabilisiert oder sogar verbessert. Auch die Zahl der Hochschulabsolventen und MINT-Studierenden wächst.

• Mediale Dramatisierung: Aussagen über ein „Massen-Verdummen“ sind meist stark überzeichnet, dienen einer bestimmten Agenda oder einfach nur zur Provokation für mehr Klicks.

• Tipp: Kritisch bleiben, Zahlen und Statistiken beachten und sich nicht durch apokalyptische Botschaften in die Irre führen lassen.

Insgesamt zeigt ein Blick auf die Daten, dass viele Faktoren wie Bildung, Gesundheit und Lebensstandard sich in den letzten Jahrzehnten (teils deutlich) verbessert haben. Zwar ist das Bildungssystem nicht perfekt und es gibt sehr wohl Bereiche, in denen nachgesteuert werden muss (z. B. Bildungsgerechtigkeit, Digitalisierung, Lehrermangel), aber ein flächendeckendes „Dümmerwerden“ ist schlicht nicht belegt.