Hein de Haas: Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.

Dossier: Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt

Mythos 1: Die Migration bricht alle Rekorde

Behauptung: Wir leben im Zeitalter einer beispiellosen Massenmigration. Medien und Politiker vermitteln das Bild einer stetig anschwellenden Völkerwanderung, größer als jemals zuvor. Ständig neue Rekordzahlen – etwa über 100 Millionen Vertriebe im Jahr 2022 laut UNHCR – scheinen zu belegen, dass immer mehr Menschen aus Armut, Krieg oder Klimawandel entwurzelt werden und in nie dagewesener Zahl über Grenzen strömen. Dieses Narrativ erzeugt den Eindruck, Migration sei außer Kontrolle geraten und stelle eine historische Ausnahmesituation dar.

Wirklichkeit: Hein de Haas zeigt anhand von Daten, dass die internationale Migration keineswegs außergewöhnlich hoch ist. Tatsächlich ist der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten erstaunlich konstant bei rund 3 Prozent geblieben. Zwar stieg die absolute Zahl der Migranten von ca. 93 Millionen (1960) auf 247 Millionen (2017), doch dies spiegelt vor allem das Wachstum der Weltbevölkerung wider. Historisch gab es sogar Phasen intensiverer Migration: Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten z.B. proportional weit mehr Europäer aus (etwa 12 % der europäischen Bevölkerung um 1900, allein 17 Mio. von den Britischen Inseln). De Haas folgert: „Die internationale Migration ist weder ungewöhnlich hoch noch nimmt sie zu. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahrzehnten ist die globale Migration bemerkenswert konstant geblieben“. Das verbreitete Bild einer Rekordmigration ist also ein Mythos, der durch selektive Wahrnehmung entsteht, während die stabilen langfristigen Trends oft übersehen werden.

Mythos 2: Unsere Grenzen sind nicht mehr sicher

Behauptung: Die westlichen Staaten sehen sich einem unaufhaltsamen Ansturm illegaler Zuwanderer gegenüber. Es heißt, die Grenzen ließen sich kaum mehr schützen, Schlepperbanden schleusen verzweifelte Migranten in Massen ein, und der Zustrom gerate außer Kontrolle. Politiker sprechen von „Invasion“ und „Ansturm“: So warnte der britische Premierminister Cameron vor „Menschenschwärmen“ im Mittelmeer, und 2015 zog der niederländische Premier Rutte Parallelen zum Untergang des Römischen Reichs, wenn Grenzen nicht geschützt würden. Solche drastischen Bilder schüren Ängste, dass die illegale Migration unaufhaltsam wächst und staatliche Ordnung sowie Sicherheit bedroht.

Wirklichkeit: Die allermeisten Migranten gelangen auf legalem Wege in die Zielländer – von einer überwältigenden Mehrheit der Zuwanderer, auch aus dem globalen Süden, wird die Grenze ganz regulär mit Pass und Visum passiert. Der Eindruck einer „Flut“ illegaler Migranten entsteht vor allem durch die mediale Fokussierung auf spektakuläre Fälle von Grenzübertritten. Laut de Haas gibt es keinen kontinuierlichen Anstieg der irregulären Migration; diese schwankt vielmehr in Zyklen, abhängig von Arbeitskräftenachfrage in den Zielstaaten (bei Arbeitsmigration) oder von Konflikten und Krisen (bei Flüchtlingsbewegungen). So wurden in den USA trotz Milliardeninvestitionen in Grenzschutz seit den 1990er Jahren jährlich etwa 1 Mio. Personen an der Grenze aufgegriffen – eine Zahl, die seit Jahrzehnten relativ stabil ist und nur etwa 23 % der legalen Zuwanderer entspricht. In Europa sind die Zahlen noch geringer. Die meisten Afrikaner etwa reisen mit gültigen Papieren aus – 90 % der afrikanischen Migranten verlassen ihren Kontinent legal. Insgesamt kommt die Forschung zum Ergebnis: „Die überwältigende Mehrheit der internationalen Migranten […] macht sich vollkommen legal auf den Weg.“. Illegale Migration wird überschätzt – sie ist eine Folge begrenzter legaler Wege und hoher Nachfrage nach Arbeitskräften, nicht Zeichen kollabierender Grenzen.

Mythos 3: Die Welt steht vor einer Flüchtlingskrise

Behauptung: Westliche Länder seien mit einer historisch einmaligen Flüchtlingswelle konfrontiert, die ihre Aufnahmekapazitäten sprenge. Die Zahl der Geflüchteten habe einen Rekord erreicht und steige rasant weiter an, so die gängige Annahme. Vielfach wird unterstellt, ein wachsender Teil der Asylsuchenden seien in Wahrheit „Wirtschaftsflüchtlinge“ (Scheinasylanten), welche die Asylsysteme missbrauchen. Diese Narrative zeichnen ein Bild, wonach Europa und Nordamerika von immer größer werdenden Flüchtlingsströmen überlaufen zu werden drohen, sollten nicht drastische Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Wirklichkeit: Die Daten widersprechen allen drei Annahmen. Erstens hat die Zahl der Flüchtlinge kein beispielloses Rekordniveau erreicht. Gemessen an der Weltbevölkerung bewegt sich der Anteil von Geflüchteten seit den 1950er Jahren konstant lediglich zwischen 0,1 % und 0,35 %. Aktuell (Ende 2021) lag er mit rund 26,7 Mio. Flüchtlingen weltweit bei etwa 0,33 % – ein ähnlicher Wert wie zu Beginn der 1990er Jahre. Zweitens gibt es keinen langfristigen Aufwärtstrend: Die Zahl der Flüchtlinge steigt und fällt je nach Konfliktlage. So gab es um 1992 ca. 16 Mio. Flüchtlinge (Kriege in Jugoslawien, Somalia, Ruanda u.a.), Anfang der 2000er sank die Zahl auf 9 Mio., und erst durch neue Kriege (Afghanistan, Irak, Syrien, Ukraine) stieg sie zuletzt wieder. Aber relativ zur Weltbevölkerung bedeutet dies keine historische Ausnahme. Drittens bleibt die große Mehrheit der Flüchtenden in der Nähe ihrer Heimat. Rund 80 % aller Flüchtlinge halten sich in Nachbarländern auf, über 85 % in Entwicklungsländern – ein Anteil, der seit Jahrzehnten konstant ist. Die vielbeschworene „Flüchtlingskrise“ spielt sich also vor allem in den Herkunftsregionen ab, während westliche Staaten vergleichsweise wenige Flüchtlinge aufnehmen. Auch die Befürchtung, überwiegend „Scheinasylanten“ kämen in reiche Länder, ist unbegründet. Insgesamt lautet das Fazit des Buches: Die Vorstellung einer untragbaren Massenflucht in den Westen entbehrt der faktischen Grundlage – Flüchtlingszahlen sind relativ niedrig und steigen keineswegs rasant an.

Mythos 4: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger denn je

Behauptung: Nie zuvor gab es in westlichen Ländern eine so große ethnische und kulturelle Vielfalt wie heute. Aufgrund der Einwanderung aus aller Welt, so die verbreitete Meinung, hätten sich unsere Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten auf eine historisch einzigartige Weise pluralisiert. Viele Menschen empfinden die gegenwärtige Diversität als ungewöhnlich hoch. Dies nährt teils Befürchtungen vor Überforderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – wie etwa von Ex-Premierministerin Theresa May geäußert („bei zu viel, zu schneller Zuwanderung ist Integration unmöglich“) –, während andere die Vielfalt als Bereicherung feiern. Trotz kontroverser Bewertungen scheint ein Konsens zu bestehen, dass wir in ungewöhnlich diversen Zeiten leben.

Wirklichkeit: Ein Blick in die Geschichte relativiert diese Annahme deutlich. Westliche Gesellschaften waren in der Vergangenheit teils ebenso vielfältig – wir neigen nur dazu, die frühere Homogenität zu überschätzen. De Haas zeigt zunächst, dass der Migrantenanteil seit dem Zweiten Weltkrieg global konstant blieb (ca. 3 %). In den USA etwa waren 1910 rund 14,7 % der Bevölkerung im Ausland geboren – ein Anteil vergleichbar mit heute. Auch viele europäische Länder (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Belgien u.a.) hatten bereits im 19. und 20. Jahrhundert bedeutende Einwanderungsphasen, die heute oft vergessen sind. Die „globale Umkehr der Migration“ im 20. Jahrhundert führte lediglich dazu, dass nun mehr Menschen aus ehemaligen Kolonien nach Europa wandern, statt umgekehrt. Was wir heute als neu empfundene Vielfalt erleben, ist also zum Teil eine eurozentrische Verzerrung, die „Nicht-Westliche“ als fremder wahrnimmt. Zudem galten Gruppen, die inzwischen längst Teil der Mehrheitskultur sind (etwa katholische Iren in Großbritannien oder Polen in Deutschland), früher selbst als „unintegrierbare Fremde“. Insgesamt zieht der Autor das Fazit: Unsere Vergangenheit kannte mehr Vielfalt, als wir annehmen. Die heutige Diversität ist keineswegs beispiellos – viele Gesellschaften waren schon früher multiethnisch geprägt. Der Unterschied liegt eher darin, welche Gruppen als „fremd“ wahrgenommen werden, nicht wie viele.

Mythos 5: Migration lässt sich mit Entwicklungshilfe eindämmen

Behauptung: Höhere Investitionen in die Entwicklung armer Herkunftsländer würden die Emigration von dort verringern. Dieser Mythos unterstellt einen linearen Zusammenhang: Wenn Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit abnehmen, hätten weniger Menschen Motivation, auszuwandern. Folglich, so die Überlegung, könnte Entwicklungshilfe Migration an der Wurzel bekämpfen. Politiker knüpfen daran Hoffnung, durch Wirtschaftsförderung und Stabilisierungshilfe die Migrationsströme aus Afrika, Asien oder Lateinamerika deutlich zu senken.

Wirklichkeit: Paradoxerweise zeigen Studien, dass anfangs eher das Gegenteil der Fall ist – wenn arme Länder etwas reicher werden, steigt die Emigration zunächst an. De Haas erklärt diesen sogenannten Migrationsschub: In sehr armen Gesellschaften fehlen vielen Menschen die finanziellen Mittel, Netzwerke oder Kenntnisse, um auszuwandern. Erst wenn ein gewisses Maß an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung erreicht wird, können größere Bevölkerungsanteile die Migration überhaupt realisieren. Wachstum schafft Bildung und vergrößert Horizonte; es bilden sich Mittelschichten, die höhere Ansprüche und genügend Ressourcen haben, um ins Ausland zu gehen. So ist Migration oft ein Zeichen von Entwicklung, nicht von Scheitern: „Die Migration nimmt zu, wenn arme Länder reicher werden“. Empirisch wandern die meisten Migranten nicht aus den ärmsten Ländern aus, sondern aus Ländern mit mittlerem Einkommen. Beispiele: Viele Auswanderer stammen aus Schwellenländern wie Mexiko, der Türkei oder den Philippinen – nicht aus den absolut ärmsten Staaten der Welt. Entwicklungshilfe führt typischerweise erst ab einem höheren Wohlstandsniveau zu einer eventuellen Beruhigung der Emigration. Das Buch folgert daher, dass Entwicklung allein kein „Gegenmittel“ gegen Migration ist – im Gegenteil, erfolgreiche Entwicklung kann kurzfristig Mobilität eher erhöhen, bis sich in sehr langfristiger Perspektive einmal ein Wendepunkt einstellt. Der Mythos, man könne Migration durch Bekämpfung ihrer Ursachen (Armut, Arbeitslosigkeit) schnell eindämmen, greift also zu kurz.

Mythos 6: Migration ist die verzweifelte Flucht aus dem Elend

Behauptung: Migranten – insbesondere aus armen Ländern – würden vor allem aus purer Not und Verzweiflung ihre Heimat verlassen. Das gängige Bild zeigt verzweifelte Menschen, getrieben von Armut, Hunger, Gewalt oder Umweltkatastrophen, die keine Wahl haben als zu fliehen. Migration erscheint so als letzter Ausweg aus einem Leben in Elend; wer ginge schon freiwillig enorme Risiken ein, wenn nicht pure Verzweiflung dahinterstünde? Dieses Narrativ wird oft in aufrüttelnden Medienberichten und Abschreckungskampagnen transportiert, die potenziellen Migranten sagen: „Bleibt lieber zu Hause, hier gibt es nichts für euch“.

Wirklichkeit: Die Realität der meisten Migranten sieht anders aus. Migration ist in der Regel eine bewusste Investition in eine bessere Zukunft, keine kopflose Verzweiflungstat. De Haas betont, dass es oft die mutigsten und ressourcenstärkeren Personen sind, die migrieren – nicht die allerärmsten oder hilflosesten. Studien zeigen: Die Ärmsten der Gesellschaft haben meist gar nicht die Mittel, um weite Distanzen zu migrieren. Migration erfordert Geld, Informationen, Netzwerke und Planung – ein Aufwand, der für die wirklich Elenden kaum stemmbar ist. Die meisten internationalen Migranten stammen daher weder aus den ärmsten Ländern noch aus den untersten sozialen Schichten. Statt blind vor Not zu fliehen, wägen Migranten Kosten und Nutzen ab. Sie nehmen Risiken und Entbehrungen in Kauf, weil Gehen oft bessere Zukunftschancen bietet als Bleiben – selbst in schlecht bezahlten oder prekären Jobs im Ausland verdienen viele mehr als daheim und können ihre Familien unterstützen. Abschreckungskampagnen, die nur Horrorszenarien von Ausbeutung und Scheitern schildern, verfehlen ihr Ziel, denn potentielle Migranten durchschauen diese Übertreibungen. Der Autor warnt zudem vor einem westlichen Elendsklischee: Die Vorstellung, Herkunftsländer seien nur trostlose „Dritte Welt“, aus der Menschen von Hunger und Klima zwangsvertrieben werden, verzerrt die Wirklichkeit. Natürlich gibt es tragische Fälle, aber diese sind nicht repräsentativ. Insgesamt gilt: Migration ist häufig eine vernünftige Entscheidung aus Hoffnung auf sozialen Aufstieg, nicht bloß ein panisches Davonlaufen. „Selbst illegale Migranten im Westen können deutlich mehr verdienen als zuhause. Aus ihrer Sicht ist die Migration eine vernünftige Entscheidung“. Der Mythos vom reinen Opfer der Umstände greift daher zu kurz und verstellt den Blick auf die Eigeninitiative und die rationalen Motive vieler Migranten.

Mythos 7: Wir brauchen keine ausländischen Arbeitskräfte

Behauptung: In wohlhabenden Staaten wird oft behauptet, Zuwanderung von Arbeitskräften – insbesondere geringqualifizierten – sei überflüssig oder sogar schädlich. Man argumentiert, einheimische Arbeitnehmer könnten die vorhandenen Jobs ausfüllen, und es gäbe “zu viele“ willige Migranten für zu wenige Stellen. Dahinter steht die Vorstellung, dass Migration primär durch das enorme Einkommensgefälle zwischen armen und reichen Ländern getrieben sei. Da es weltweit unzählige arbeitswillige Arme gebe, müsse man die Zuwanderung streng begrenzen, um Einheimische zu schützen. Entwicklungsökonomisch klingt es logisch: Erst die Verringerung globaler Ungleichheit werde den Migrationsdruck senken, solange aber so viele Menschen aus armen Ländern kommen wollten und keine Arbeit für sie da sei, müssten Grenzen dicht bleiben.

Wirklichkeit: Diese Sicht verkennt den eigentlichen Treiber der Migration: Nicht die Armut, sondern die Nachfrage nach Arbeitskräften in den Zielländern ist der wahre Motor. Hein de Haas stellt klar: „So schlüssig das klingen mag – so funktioniert Migration nicht. Ein Einkommensgefälle erzeugt nicht automatisch Migration.“ Menschen wandern nicht einfach blind dem Lohngefälle hinterher; tatsächliche Migrationsmuster sind wesentlich komplexer. Auffällig ist beispielsweise, dass aus den ärmsten Ländern relativ wenige Menschen auswandern – eben weil extreme Armut Migration erschwert (Kosten, fehlende Netzwerke). Gleichzeitig gibt es rege Migration zwischen reichen Ländern (etwa zwischen EU-Staaten, oder Kanada und USA) trotz geringem Einkommensunterschied. Entscheidend ist vielmehr, wo Arbeitskräfte gebraucht werden: „Weder die Ungleichheit noch die Armut sind der wahre Motor der internationalen Migration, sondern die Nachfrage nach Arbeitskräften.“. Unternehmen rekrutieren aktiv Migranten, wenn im Inland bestimmte Arbeitskräfte fehlen. In vielen westlichen Ländern meiden einheimische Arbeitskräfte z.B. körperlich anstrengende oder niedrig entlohnte Jobs (Ernte, Bau, Pflege, Reinigung). Dieser Arbeitskräftemangel sorgt dafür, dass Migranten jene freien Stellen füllen, die sonst unbesetzt blieben. Historisch gesehen ist Zuwanderung meist eine Reaktion auf wirtschaftlichen Bedarf, nicht die Ursache von Arbeitslosigkeit. Selbst während kontroverser Debatten bleibt die Realität bestehen: Ohne ausländische Fachkräfte und Arbeitskräfte könnten viele Branchen nicht funktionieren (man denke an Pflegekräfte, IT-Fachleute, aber auch Erntehelfer). Der Mythos, man „brauche“ keine ausländischen Arbeitskräfte, ignoriert die demografische und wirtschaftliche Lage vieler Industrieländer, in denen ganze Sektoren auf Zuwanderung angewiesen sind.

Mythos 8: Ausländer nehmen uns die Arbeit weg und drücken die Löhne

Behauptung: Dieses oft gehörte Argument besagt, Zuwanderer – vor allem geringqualifizierte – seien verantwortlich für Arbeitslosigkeit und Lohndruck unter Einheimischen. In Zeiten stagnierender Löhne und unsicherer Jobs ist es verlockend, die Schuld bei der „Masseneinwanderung“ zu suchen. Populistische Stimmen behaupten, ein Zustrom billiger ausländischer Arbeitskräfte würde die Konkurrenz um Jobs verschärfen, einheimische Arbeitnehmer verdrängen und das Lohnniveau nach unten ziehen. Dieses Narrativ hat sich von linken Gewerkschaftskreisen (historisch) zu rechten Parteien verlagert: Heute warnen vor allem rechte Populisten vor angeblichen Job-Konkurrenten aus dem Ausland.

Wirklichkeit: Umfangreiche Untersuchungen zeigen, dass Migration weder Hauptursache für Arbeitslosigkeit noch für Lohndruck ist. Vielmehr füllen Zuwanderer meist Lücken, anstatt einheimischen Beschäftigten die Stellen „wegzunehmen“. Im Buch wird betont: „Zuwanderer stehlen keine Arbeitsplätze, sondern füllen freie Stellen.“. Tatsächlich steigt die Zuwanderung in Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs und niedriger Arbeitslosigkeit – nicht umgekehrt. Wenn die Wirtschaft brummt, werden zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht, was mehr Migranten anzieht; in Rezessionen lässt der Zustrom nach. Dieser umgekehrte Zusammenhang widerlegt die einfache Annahme, Migration verursache Arbeitslosigkeit. Zudem reagieren Löhne und Beschäftigung auf viele Faktoren (Technologie, Gewerkschaften, Globalisierung) – der Effekt der Migration ist statistisch gering und lokal begrenzt. In einigen Fällen haben Ökonomen „Natürliche Experimente“ untersucht (z.B. der plötzliche Zustrom kubanischer Flüchtlinge 1980 in Miami, bekannt als Mariel-Boatlift). Diese Studien fanden meist keine starken negativen Effekte auf Löhne oder Jobs einheimischer Geringqualifizierter. Im Gegenteil: Zuwanderung kann die Wirtschaft insgesamt beleben, neue Nachfrage und sogar neue Arbeitsplätze schaffen. De Haas erläutert, dass Migranten häufig Jobs übernehmen, für die es ohnehin zu wenige einheimische Bewerber gibt (z.B. in Landwirtschaft, Bau, Pflege). So wird der Arbeitskräftemangel gelindert, was der Volkswirtschaft nützt. Die Idee, Migranten seien hauptverantwortlich für Lohndumping, hält einer differenzierten Analyse ebenfalls nicht stand: Niedrige Löhne resultieren vor allem aus schwacher Tarifmacht, Deregulierung und globalem Wettbewerb – nicht primär aus Zuwanderung. Kurz: Es gibt keinen Beleg, dass Zuwanderung der Hauptgrund für Arbeitslosigkeit oder Lohnstagnation ist. Vielmehr reagiert Migration auf wirtschaftliche Bedingungen, statt sie einseitig zu bestimmen.

Mythos 9: Zuwanderung ist eine Gefahr für den Sozialstaat

Behauptung: Kritiker führen an, dass Einwanderer überproportional Sozialsysteme belasten würden – etwa durch Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Nutzung von Gesundheits- und Bildungsleistungen – ohne entsprechend beizutragen. Dieses Narrativ vom „Sozialtourismus“ oder „Wohlfahrtsmigranten“ unterstellt, Migranten kämen primär, um von großzügigen Sozialleistungen zu profitieren, und gefährdeten dadurch die Finanzierbarkeit des Sozialstaats für Einheimische. Gerade geringqualifizierte Zuwanderer und Flüchtlinge stehen im Verdacht, Netto-Empfänger zu sein und die Kassen zu strapazieren, was bei vielen Bürgern Ängste schürt, ihr Lebensstandard könne durch „fremde Lasten“ sinken.

Wirklichkeit: Empirisch erweist sich die Sorge als überwiegend unbegründet. Fast alle Studien zeigen, dass Migranten in Summe nicht die Hauptverursacher von Sozialkosten sind. Hochqualifizierte Zuwanderer zahlen tendenziell mehr Steuern und Beiträge als sie an Leistungen beziehen, aber selbst viele geringqualifizierte Migranten sind jung und erwerbstätig, tragen also zum Sozialsystem bei (z.B. in Form von Konsumsteuern, Rentenbeiträgen etc.). De Haas zitiert Untersuchungen, wonach sich Ängste vor Sozialmissbrauch durch Migranten als „unbegründet oder übertrieben“ herausgestellt haben. Insbesondere das oft beschworene Phänomen, großzügige Wohlfahrtsstaaten zögen gezielt Migranten an (“Welfare Magnet”-These), wurde empirisch kaum bestätigt – Unterschiede in den Sozialleistungen erklären die Wahl des Ziellandes allenfalls minimal. Zudem sind Asylsuchende während des Verfahrens rechtlich gar keine „Sozialschmarotzer“, sondern sie haben einen Schutzanspruch. Insgesamt halten Migranten im Schnitt ungefähr das, was demografisch zu erwarten ist: Hochqualifizierte leisten netto mehr, Geringqualifizierte etwas weniger – aber das gilt ebenso für die einheimische Bevölkerung (auch dort tragen Besserverdiener mehr, Einkommensschwache weniger bei). Wichtig ist: Viele Arbeitsmigranten stützen sogar den Sozialstaat aktiv, indem sie in Renten- und Krankenkassen einzahlen, oft aber geringere Ansprüche haben (z.B. gehen junge Migranten seltener zum Arzt als ältere Einheimische). Vor allem aber sind Migranten häufig in Arbeitsplätzen tätig (Pflege, Bau, Gastronomie etc.), die für das Funktionieren des Sozialstaats essenziell sind. Die demografische Alterung verstärkt diesen Effekt – ohne Zuwanderung würde die Zahl der Erwerbstätigen sinken, was den Sozialstaat tatsächlich unter Druck brächte. Fazit: „Die Sorge, dass die Zuwanderung den Sozialstaat gefährdet, ist unbegründet.“ Im Gegenteil, eine geregelte Zuwanderung ist eher unverzichtbar für den Erhalt des Sozialstaats, etwa um genügend Beitragszahler und Fachkräfte zu haben.

Mythos 10: Die Integration ist gescheitert

Behauptung: Insbesondere nach größeren Zuwanderungswellen kommt oft die Klage, die Eingliederung der Migranten in die Gesellschaft habe grundsätzlich nicht funktioniert. Man verweist auf bildungsferne Migrantenkinder, hohe Arbeitslosigkeit oder Sprachdefizite in bestimmten Communities, ethnische Enklaven und anhaltende kulturelle Unterschiede – all dies wird als Beleg gewertet, dass Integration misslingt. Prominente Politiker wie Angela Merkel erklärten gar „Multikulti ist gescheitert“. Im Fokus dieser Debatte stehen häufig muslimische Migranten oder andere Gruppen, denen eine mangelnde Anpassung und Abschottung vorgeworfen wird. Dieses Narrativ verfestigte sich zum „Glaubenssatz“, wonach insbesondere in Europa eine dauerhafte Parallelgesellschaft entstehe, da neue Migranten sich angeblich nicht integrieren wollen oder können.

Wirklichkeit: Die langfristigen Daten zeichnen ein weit positiveres Bild: „Auf lange Sicht ist die Integration der Zuwanderer gelungen.“ In nahezu allen klassischen Einwanderungsländern zeigt sich, dass Migranten und vor allem ihre Nachkommen mit der Zeit immer bessere Indikatoren erreichen – sei es beim Spracherwerb, im Bildungsniveau, auf dem Arbeitsmarkt oder in sozialen Beziehungen. Studien aus den USA und Europa belegen, dass sich heutige Migrantengruppen ähnlich integrieren wie frühere Wellen (z.B. integrieren sich lateinamerikanische Migranten in den USA langfristig in vergleichbarer Weise wie einst europäische Einwanderer). Zwar gibt es anfänglich Integrationsprobleme und Diskriminierung – insbesondere die erste Generation kämpft oft mit Sprache, Jobhürden und sozialer Ausgrenzung. Doch bereits in der zweiten Generation nähern sich Bildungsabschlüsse, Sprachkompetenzen und Erwerbsquoten stark dem Durchschnitt an. Ein Indikator: Der Anteil binationaler Ehen nimmt stetig zu, Migranten übernehmen vermehrt die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft. In Westeuropa kann man im Rückblick feststellen, dass Integration langfristig eine Erfolgsgeschichte ist – trotz mancher Ghettobildung oder Anfangsschwierigkeiten. Wo Probleme persistieren (etwa höhere Arbeitslosigkeit mancher Gruppen), liegen oft andere Ursachen zugrunde: z.B. Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder sozialer Hintergrund. Wichtig ist auch, dass Integrationspolitik zwar eine Rolle spielt, aber oft überschätzt wird: Viele Integrationsprozesse laufen „weitgehend unabhängig von den Gedanken, die sich Politiker machen“. Historisch integrierten sich Einwanderer häufig auch ohne spezielle Programme (nach dem Laissez-faire-Prinzip), indem sie im Alltag Fuß fassten. De Haas betont: Auch heutige Migranten zeigen über Generationen hinweg beträchtliche Aufwärtsmobilität und kulturelle Anpassung – „die Integration langfristig (ist) eine Erfolgsgeschichte.“ Der pauschale Befund eines Scheiterns ist demnach unhaltbar. Vielmehr werden Integrationsdefizite oft überdramatisiert, während die stillen Erfolge im Hintergrund ablaufen.

Mythos 11: Massenmigration schafft Parallelgesellschaften

Behauptung: Der Begriff Parallelgesellschaften beschreibt die Vorstellung, dass große Migrantencommunities abgeschottete Lebenswelten innerhalb des Aufnahmelandes bilden – mit eigenen Regeln, wenig Kontakt zur Mehrheitsbevölkerung und dauerhafter Segregation. Insbesondere eine „Massenzuwanderung“ wird verantwortlich gemacht, ethnische Ghettos und isolierte Gemeinschaften entstehen zu lassen. Kritiker behaupten, gerade bei bestimmten Gruppen (z.B. muslimischen Einwanderern) sei Integration deshalb kaum möglich; Migranten würden unter sich bleiben und eine getrennte Gesellschaft im Land bilden. Beispiele wie die Banlieues in Frankreich oder Stadtteile in Deutschland mit hohem Migrantenanteil werden oft als Beleg herangezogen, dass Parallelwelten entstanden sind, in denen andere Sprachen dominieren und staatliche Autorität weniger greift.

Wirklichkeit: Abgesehen von einzelnen Ausnahmen ist diese Befürchtung überzogen. Zwar gibt es städtische Viertel mit hoher Konzentration bestimmter Migrantengruppen, doch diese sind meist Übergangsphänomene und keineswegs hermetisch abgeschlossene Fremdkörper. De Haas erläutert, dass ethnische Gemeinden in der ersten Generation häufig als soziales Netzwerk und Starthilfe dienen – die meisten Migranten lösen sich jedoch mit der Zeit aus der Enklave. Die zweite und dritte Generation zieht oft in andere Stadtteile, spricht die Landessprache als Muttersprache und hat vielfältige Kontakte außerhalb der Herkunftsgruppe. Entscheidende Faktoren für Integration sind Bildung und Arbeit: Wenn diese Zugänge offenstehen, durchbrechen Migranten die Isolation. Problematisch waren eher Politikansätze, die Migranten in separaten Siedlungen konzentrierten (etwa Gastarbeiter-Wohnheime früher) – doch solche Konzepte hat man weitgehend aufgegeben. Zudem liegt es im Interesse der meisten Einwanderer, gesellschaftlich anzukommen, statt dauerhaft isoliert zu bleiben. Empirie: Die meisten europäischen Großstädte kennen keine komplett abgeschlossenen Parallelgesellschaften; Migrantenviertel wie Berlin-Neukölln oder Paris’ Vorstädte weisen sehr wohl Austausch mit der übrigen Stadt auf (Arbeitnehmer pendeln, Kinder gehen in öffentliche Schulen etc.). Oft wird übersehen, dass auch manche einheimische Gruppen freiwillig segregiert leben (z.B. wohlhabende Wohnbezirke). Insgesamt stellt de Haas fest: Von Ausnahmen abgesehen ist die dauerhafte Selbstisolierung von Migrantengruppen selten. Echte Parallelgesellschaften – im Sinne von autonomen, abgeschotteten Strukturen – entstehen höchstens, wo Integration systematisch verhindert wurde (z.B. durch rigorose Ausgrenzung). In offenen Gesellschaften hingegen funktioniert das Zusammenwachsen auf Dauer erstaunlich gut. Langzeitstudien zeigen, dass Wohnsegregation oft mit der Generation abnimmt und soziale Mobilität Integration fördert. Der Mythos, Massenmigration führe zwangsläufig zu Parallelgesellschaften, verkennt die Dynamik der Einwanderergesellschaft: In der Regel verläuft die Entwicklung hin zu sozialer Durchmischung, nicht fort von ihr.

Mythos 12: Zuwanderung bringt mehr Verbrechen

Behauptung: Einwanderer würden überproportional zu Kriminalität beitragen, so ein weit verbreitetes Vorurteil. In politischen Debatten wird suggeriert, steigende Migration gehe Hand in Hand mit steigenden Verbrechensraten – von Kleinkriminalität bis zu schweren Delikten und Terrorismus. Migranten (v.a. junge Männer) werden pauschal mit Gewalt, Drogenhandel oder sexuellen Übergriffen in Verbindung gebracht. Diese Angst wird von populistischen Medien oft geschürt: Man berichtet prominent über Einzelfälle mit Tätern „ausländischer Herkunft“, was den Eindruck erweckt, Zuwanderung = mehr Unsicherheit. In Umfragen äußert ein Teil der Bevölkerung die Sorge, dass Einwanderung ihre Stadt oder ihr Land weniger sicher mache.

Wirklichkeit: Kriminologische Studien und Statistiken zeichnen ein differenziertes Bild, das den Mythos einer generellen Verbrechenssteigerung durch Migranten nicht stützt. Zunächst ist zu beachten, dass Migrantenpopulationen oft jünger und männlicher sind als der Durchschnitt – zwei Faktoren, die statistisch mit höherer Kriminalitätsrate einhergehen, egal ob einheimisch oder zugewandert. Korrigiert man jedoch für Alter und soziale Lage, verschwinden viele Unterschiede in den Kriminalitätsraten zwischen Migranten und Einheimischen. De Haas betont, dass Zuwanderung Gewaltverbrechen nicht erhöht, sondern in einigen Fällen sogar reduziert. So haben etwa deutsche Städte in den vergangenen Jahrzehnten trotz Zuwanderung sinkende oder stabile Gewaltdeliktraten verzeichnet. Manche Untersuchungen deuten darauf hin, dass ethnisch gemischte Viertel keine höheren Verbrechensraten haben als vergleichbare homogene Viertel, wenn soziale Faktoren berücksichtigt sind. Zudem gibt es Hinweise, dass Migranten insgesamt seltener straffällig werden als vergleichbare einheimische Kontrollgruppen, möglicherweise aus Angst vor Abschiebung oder weil sie motiviert sind, ein unauffälliges Leben zu führen. Besonders der pauschale Zusammenhang von Migration und Terrorismus ist unhaltbar: Die meisten Terrorakte in westlichen Ländern wurden nicht von kürzlich Eingewanderten begangen, sondern von Personen der zweiten/dritten Generation oder Einheimischen. Schließlich weist de Haas darauf hin, dass Debatten über „kriminelle Ausländer“ oft Sündenböcke konstruieren, während grundlegende Ursachen von Kriminalität (Armut, Ausgrenzung, Jugendarbeitslosigkeit) vernachlässigt werden. Insgesamt ist die pauschale Gleichsetzung von mehr Zuwanderung mit mehr Kriminalität empirisch nicht haltbar. Vielmehr hängt Kriminalität von komplexen sozioökonomischen Faktoren ab. Zuwanderung reduziert Gewaltverbrechen eher, als dass sie sie erhöht, resümiert der Autor, und Migranten sind häufig selbst Opfer von Verbrechen oder Diskriminierung. Der Mythos dient oft nur dazu, Ängste zu schüren, hat aber keine sachliche Grundlage.

Mythos 13: Migration führt zu Talentschwund

Behauptung: Die Auswanderung vieler Menschen – gerade qualifizierter Fachkräfte – aus Entwicklungs- und Schwellenländern verursacht dort einen „Brain Drain“, der die Herkunftsländer ihrer besten Talente beraubt. Der Mythos unterstellt, Migration sei ein Nullsummenspiel, bei dem das Aufnahmeland die Vorteile (gebildete Zuwanderer) erhält, während das Herkunftsland geschwächt wird (Verlust von Ärzten, Ingenieuren etc.). Insbesondere arme Länder Afrikas oder Asiens würden durch die Emigration gut Ausgebildeter in den Westen dauerhaft ihrer Entwicklungschancen beraubt. Migration erscheint so als gewaltiger Talentsog, der die Kluft zwischen Arm und Reich verstärkt.

Wirklichkeit: Hein de Haas relativiert dieses einseitige Bild. Zwar gibt es Bereiche, in denen Brain Drain real ist (z.B. Abwanderung von Gesundheitspersonal aus kleinen Ländern), doch insgesamt ist die Wirkung von Migration auf Herkunftsländer ausgewogener als gedacht. Erstens kommen viele Migranten irgendwann zurück („Brain Circulation“) oder investieren in ihre Heimat. Rückkehrer bringen Know-how, Kontakte und oft Ersparnisse mit, die zur Entwicklung beitragen. Zweitens schicken Auswanderer Überweisungen (Remittances) in Milliardenhöhe in ihre Herkunftsländer, was dort Konsum und Investitionen ermöglicht. Drittens schaffen Diaspora-Netzwerke Handel, Wissenstransfer und können Innovation fördern. So zeigt sich, dass „Fachkräfte wandern nicht in Massen ab“ – nur ein Bruchteil der Hochqualifizierten eines Landes wandert überhaupt aus, und viele bleiben ihrer Heimat verbunden. Beispielsweise haben große Länder wie Indien oder Nigeria trotz Emigration weiterhin wachsende Pools an Talenten, auch weil Ausbildungssysteme expandieren. Manche kleine Staaten (etwa Karibikinseln) leiden tatsächlich unter Abwanderung von Spezialisten, doch hier kann gezielte Politik gegensteuern (Rückkehranreize, Diasporaförderung). Insgesamt betont das Buch die komplexen Rückwirkungen der Migration: Emigration kann kurzfristig eine Lücke reißen, aber langfristig profitieren viele Herkunftsländer von ihren diasporischen Communities (durch Investitionen, Wissen, demokratische Impulse). Daten: Länder wie China und Indien, die früher Brain-Drain-Ängste hatten, erleben inzwischen, dass Rückkehrer aus dem Ausland dort Unternehmen gründen und Technologie mitbringen. Auch sinkt die Abwanderung oft, sobald im Herkunftsland Chancen wachsen – Talente kehren zurück. Der Mythos eines einseitigen Talentschwunds greift also zu kurz: Migration führt eher zu Talentzirkulation und globaler Vernetzung, statt Herkunftsländer systematisch zu entleeren.

Mythos 14: Zuwanderung ist das Allheilmittel für die Wirtschaft

Behauptung: In positiv gefärbten Erzählungen wird Migration bisweilen als universeller Wachstumsmotor dargestellt, der alle ökonomischen Probleme lösen könne. Demnach bräuchten schrumpfende Volkswirtschaften nur genügend Einwanderung, um wieder zu florieren. Zuwanderer werden als unternehmerisch, innovativ und arbeitseifrig beschrieben, die Wirtschaftswunder auslösen könnten. Dieser Mythos überhöht Migration zum Allheilmittel für Konjunktur- und Strukturprobleme: Sei es der Mangel an Fachkräften, die Finanzierung der Renten oder die Ankurbelung von Innovation – all das könne durch großzügige Zuwanderung quasi automatisch behoben werden.

Wirklichkeit: So wertvoll Migration für eine Volkswirtschaft sein kann, ist sie doch kein Wunderheilmittel, das grundlegende ökonomische Herausforderungen von selbst beseitigt. Zuwanderung kann das Angebot an Arbeitskräften erhöhen und bestimmte Engpässe schließen, aber sie garantiert z.B. kein höheres Produktivitätswachstum oder die Lösung struktureller Probleme wie regionale Ungleichgewichte. De Haas argumentiert, dass Migration im Zusammenspiel mit anderen Politiken positive Effekte entfalten muss – etwa gekoppelt an Bildung, Innovation und Arbeitsmarktpolitik. Ein Zustrom von Arbeitskräften allein schafft noch kein Wachstum, wenn die Wirtschaft nicht die Kapazität hat, diese sinnvoll zu beschäftigen. Zudem können sehr schnelle und große Zuwanderungswellen auch Anpassungsschwierigkeiten mit sich bringen (Infrastruktur, Wohnungsmarkt, soziale Integration), die gemanagt werden müssen. Empirisch gibt es Beispiele, wo Migration zur wirtschaftlichen Belebung beitrug (etwa die USA, Kanada oder Deutschland im „Wirtschaftswunder“-Zeitalter mit Gastarbeitern). Aber diese Effekte traten in einem Kontext von Boom-Phasen auf, wo zusätzliche Arbeitskraft benötigt wurde. In Rezessionen oder bei hoher Arbeitslosigkeit ist der Nutzen unmittelbarer Zuwanderung begrenzt. Das Buch stellt klar: Migration alleine kann keine verfehlte Wirtschafts- oder Sozialpolitik ersetzen. Sie ist ein Faktor unter vielen. So kann Zuwanderung zwar helfen, Innovationskräfte zu stärken (viele Startups haben Migranten als Gründer) und globale Vernetzung zu fördern, doch ohne Investitionen in Bildung und Technologie verpufft dieser Vorteil. Migration ist also weder ein Allheilmittel noch per se schädlich – sie kann Wachstum fördern, wenn Rahmenbedingungen stimmen, aber ein generelles Patentrezept für wirtschaftliche Probleme ist sie nicht. In der öffentlichen Debatte dient der Mythos oft dazu, Migration entweder übertrieben positiv (Heilsbringer) oder übertrieben negativ (Sündenbock) darzustellen. Die Realität liegt in der Mitte: Zuwanderung kann einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft leisten, ersetzt jedoch keine sinnvolle Wirtschaftsstrategie.

Mythos 15: Zuwanderung ist die Lösung für die alternde Gesellschaft

Behauptung: Angesichts der demografischen Alterung in vielen Industrieländern wird Migration häufig als Königsweg präsentiert, um schrumpfende Bevölkerungen und Rentenprobleme zu lösen. Die Idee: Junge Migranten füllen die Lücken, arbeiten und zahlen in die Sozialsysteme ein, sodass Alterslast und Fachkräftemangel gemildert werden. Mit ausreichend Einwanderung ließe sich das Rentensystem stabilisieren und der Bevölkerungsrückgang aufhalten. Diese Sichtweise setzt große Hoffnungen darauf, dass fortlaufende Zuwanderung quasi automatisch die demografische Schieflage korrigiert.

Wirklichkeit: Zuwanderung kann demografisch helfen, aber sie kann den Alterungsprozess nicht vollständig aufhalten. Selbst relativ hohe Einwanderungsraten können den Trend einer steigenden Lebenserwartung und niedrigen Geburtenraten nur dämpfen, nicht umkehren. Modellrechnungen zeigen, dass unrealistisch große Migrantenzahlen nötig wären, um etwa das Rentner-Arbeitnehmer-Verhältnis dauerhaft konstant zu halten. De Haas führt aus, dass Migration allein die Alterung nicht „löst“: Die meisten Migranten werden selber älter, und sie bringen oft Familien nach – langfristig altern also auch Einwanderergesellschaften. Wichtig ist jedoch: Migration verzögert die Alterung und verschafft Zeit, Strukturreformen anzugehen (z.B. Renteneintrittsalter erhöhen, höhere Erwerbsquote von Frauen). Kurzfristig entlasten junge Zuwanderer Arbeitsmarkt und Sozialsystem durchaus, insbesondere wenn sie integriert und beschäftigt sind. Aber sie sind kein Ersatz für eine nachhaltige Familien- und Bevölkerungspolitik. Der Autor betont zudem, dass es qualitativ ankommt: Entscheidend ist, welche Fähigkeiten und Integrationsperspektiven die Zugewanderten haben. Einige Länder (Kanada, Australien) nutzen Punktesysteme, um gezielt junge Fachkräfte anzuwerben, was gut funktioniert, aber auch dort wird die Bevölkerung insgesamt älter. Fazit: Zuwanderung ist kein Allheilmittel gegen Alterung, kann aber Teil eines Maßnahmenbündels sein. Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung vieler Länder schneller schrumpfen und überaltern – in diesem Sinne ist Migration unentbehrlich, um den Sozialstaat funktionsfähig zu halten. Doch die Herausforderung des demografischen Wandels erfordert zusätzlich Anpassungen: höhere Produktivität, lebenslanges Lernen, vielleicht auch veränderte Arbeitsmodelle. Migration liefert einen Baustein zur Lösung, aber eben nicht die vollständige Lösung.

Mythos 16: Die Grenzen werden dichtgemacht

Behauptung: In der politischen Rhetorik hört man oft Versprechen, nun endlich die Grenzen zu schließen und die Zuwanderung rigoros zu begrenzen. Der Mythos unterstellt, es finde ein entschlossener Politikwandel hin zu maximaler Restriktion statt – man spricht von Festung Europa, Zero-Migration-Politik oder einem Ende der Willkommenskultur. Maßnahmen wie Grenzzäune, push-backs und strikte Asylgesetze werden als Zeichen gesehen, dass westliche Länder ihre Türen dicht gemacht haben oder bald machen werden. Dieser Eindruck wird verstärkt durch medienwirksame Aktionen (z.B. die Trump’sche Mauer an der mexikanischen Grenze oder Australiens Offshoring von Asylbewerbern). Viele glauben daher, wir lebten in einer Ära der abschottenden Migrationspolitik.

Wirklichkeit: Überraschenderweise zeigt die Forschung, dass die Einwanderungspolitik insgesamt heute liberaler ist als früher, trotz punktuell schärferer Kontrollen. Zwar wurden Grenzregime und Abschiebungen technisch und administrativ verschärft, doch parallel haben viele Staaten ihre Visum-, Aufenthalts- und Integrationsgesetze gelockert. So wurden etwa in Europa ab den 1950ern immer mehr Rechtswege für Familiennachzug, Arbeits- und Studentenmigration geschaffen, Antidiskriminierungsgesetze erlassen und Migrantenrechte gestärkt. De Haas formuliert: „Die Zuwanderungspolitik ist generell liberaler geworden. Grenzkontrollen und Abschiebungen wurden zwar strenger gehandhabt, doch das Gesamtpaket […] ist generell liberaler geworden.“. Außerdem wird deutlich, dass konservative und progressive Regierungen gleichermaßen Migration öffnen, wenn ökonomisch nötig. Beispielsweise haben sowohl Mitte-rechts- als auch Mitte-links-Regierungen in Deutschland Fachkräfteeinwanderungsgesetze verabschiedet. Langfristige Analysen in 21 westlichen Ländern ergaben kaum systematische Unterschiede in der Migrationspolitik zwischen linken und rechten Regierungen – ideologische Rhetorik über Abschottung spiegelt sich nur begrenzt in der tatsächlichen Politik. Viel stärker beeinflussen wirtschaftliche Zyklen die Offenheit: In Boomzeiten drängen Unternehmen auf mehr Zuwanderung, in Krisen nehmen Rufe nach Begrenzung zu. Unterm Strich erweist sich die „Festung“-Metapher als irreführend: Trotz lautstarker Ankündigungen werden Grenzen nie vollkommen dicht – Migration findet Wege, und Staaten gestehen faktisch zu, was ökonomisch vorteilhaft ist. Die Vorstellung, es fände eine komplette Abriegelung statt, ist daher ein Mythos. Die Politik hat zwar restriktive Symbolmaßnahmen verstärkt, aber die Realität bleibt eine fortgesetzte, regulierte Zuwanderung.

Mythos 17: Linke sind für, Rechte gegen Migration

Behauptung: In der öffentlichen Wahrnehmung gilt oft eine einfache Zuordnung: Links (progressive, liberale Parteien) stehen für eine migrantenfreundliche Politik, Rechts (konservative, nationalistische Parteien) für migrationsfeindliche Positionen. Dieses Schema suggeriert einen tiefen ideologischen Graben – die Linken wollen offene Grenzen und Multikulturalismus, die Rechten wollen Abschottung und ethnische Homogenität. Beispiele werden bemüht: Grüne und Sozialdemokraten betonen häufig Humanität und Vielfalt, während rechte Parteien wie AfD, FPÖ oder republikanische Hardliner Migration strikt begrenzen wollen. Daraus entstand der Mythos, Migration sei ein klar polarisierendes Links-gegen-Rechts-Thema.

Wirklichkeit: Die Realität ist wesentlich komplexer. Historisch waren viele linke Arbeiterparteien zeitweise gegen Zuwanderung (aus Sorge vor Lohndumping), während wirtschaftsliberale Rechte Einwanderung befürworteten (wegen Bedarf der Wirtschaft). Heute sind die Fronten zwar rhetorisch anders, doch empirische Vergleiche zeigen: „Rechte und Linke verfolgen keine entgegengesetzte Politik, […] die ideologische Ausrichtung hat kaum Einfluss auf die praktische Zuwanderungspolitik.“. Studien, die Migrationsgesetze in westlichen Staaten mit der Parteifarbe der Regierung korrelieren, fanden minimale Unterschiede. In vielen Fällen haben linke Regierungen ebenfalls strenge Maßnahmen umgesetzt (z.B. die sozialdemokratische dänische Regierung mit Grenzplänen nach Ruanda) und rechte Regierungen Migration liberalisiert (z.B. Spaniens konservative Regierung mit Regularisierung illegaler Migranten 2005). Oft nähern sich Parteien der Mitte an den vermeintlichen Mehrheitswillen an und betreiben pragmatische Migrationspolitik, unabhängig von Ideologie. De Haas war selbst überrascht, „dass es im Grunde keinerlei Unterschiede gibt“ zwischen links und rechts in der Summe der Maßnahmen. Zwar unterscheiden sich Rhetorik und einzelne Politikfelder leicht (Linke sind etwas offener bei Asyl und Einbürgerung, Rechte etwas restriktiver), doch im Kern wird Migrationspolitik von ökonomischen und geopolitischen Faktoren bestimmt, weniger von Ideologie. So öffnen sowohl konservative als auch sozialdemokratische Regierungen die Grenzen, wenn Arbeitskräfte fehlen, und verschärfen sie, wenn Arbeitslosigkeit steigt. Fazit: „Es gibt keinen Graben zwischen links und rechts“ in der Migrationspolitik – beide Lager handeln in der Praxis ähnlicher als die lauten Debatten vermuten lassen. Die politische Wirklichkeit entzieht sich der simplen Lagerlogik dieses Mythos.

Mythos 18: Die Öffentlichkeit hat genug von der Zuwanderung

Behauptung: Regierende verweisen häufig darauf, dass die Bevölkerung migrationsmüde sei und ein strikteres Vorgehen wünsche – man habe „den Wählern zugehört“. In vielen Ländern glauben Politiker, es gebe eine überwältigende öffentliche Ablehnung weiterer Zuwanderung. Dieser Mythos nimmt an, dass Fremdenfeindlichkeit und Einwanderungsskepsis ständig zunehmen und die Mehrheit „die Nase voll“ habe. Medien sprechen von einem Umschwung der Stimmung gegen Migration, befeuert durch Ereignisse wie 2015 (Flüchtlingszuzug) oder Kriminalfälle. Daher meinen manche, drastische Restriktionen seien nötig, um dem Volkswillen zu entsprechen.

Wirklichkeit: Umfangreiche Meinungsumfragen zeigen ein deutlich nuancierteres Bild. Die öffentliche Meinung ist nicht pauschal gegen Zuwanderung, sondern oft erstaunlich stabil und teils sogar positiver geworden. In den USA etwa stieg laut Gallup der Anteil der Bürger, die mehr Zuwanderung befürworten, von jahrzehntelang ~7 % in den 1960/70ern auf 34 % im Jahr 2020. Gleichzeitig sank der Anteil derjenigen, die weniger Migration wollen, von 65 % (1993) auf 28 % (2020). Ähnlich in Großbritannien: Zwischen 2011 und 2018 sank laut Ipsos der Anteil der Briten, die die Folgen der Zuwanderung negativ sehen, von 64 % auf 28 %, während positive Einschätzungen von 19 % auf 48 % stiegen. Dieser Wandel fand trotz heftiger politischer Debatten (Brexit) statt und deutet darauf hin, dass öffentliches Bewusstsein differenziert reagiert. Generell gilt: Menschen unterscheiden zwischen gewünschter Migration (Fachkräfte, Flüchtlinge in Not) und unerwünschter (illegale Migration). Pauschale Ablehnung ist selten. De Haas fasst zusammen: „Die öffentliche Meinung wendet sich nicht pauschal gegen die Migration.“. Vielmehr hängt sie vom Kontext ab – etwa wirtschaftliche Lage, mediale Narrative und politisches Framing. In Boomzeiten oder bei gelungener Integration sinken Vorbehalte, während in Krisenzeiten Sorgen zunehmen. Langfristig jedoch sind die Grundhaltungen erstaunlich robust. In vielen Ländern (z.B. Kanada, auch Deutschland in letzten Jahren) stehen Mehrheiten aufgeschlossen zur Zuwanderung gegenüber, solange sie geordnet verläuft. Wichtig ist, dass Politik nicht Meinungsmache mit Meinung verwechselt: Oft dominieren in Medien und Politik die lautesten Rufe („Überdruss“), während die stille Mehrheit differenziert denkt. Summa summarum hat die Öffentlichkeit keineswegs „genug“ im Sinne eines kompletten Ablehnens – sie will vernünftige Steuerung. Der Mythos einer generell migrationsfeindlichen Stimmung ist durch Umfragedaten widerlegt. „Die Öffentlichkeit steht Zuwanderung aufgeschlossener gegenüber“ als häufig behauptet.

Mythos 19: Menschenschmuggel ist der Grund für illegale Migration

Behauptung: Politiker erklären oft, Schlepperbanden seien die Ursache des Problems irregulärer Migration. Die Logik: Ohne skrupellose Menschenschmuggler, die Migranten über Grenzen lotsen, gäbe es kaum illegale Einreisen. Deshalb wird ein „Krieg gegen Schlepper“ geführt – intensiver Grenzschutz, Zerschlagung von Schleuserringen – in der Annahme, damit die illegale Migration abstellen zu können. Der Mythos personifiziert komplexe Migrationsdynamiken in kriminellen Drahtziehern: Würde man diese bekämpfen und harte Grenzen ziehen, so die Annahme, käme die irreguläre Zuwanderung zum Erliegen.

Wirklichkeit: De Haas entlarvt dies als Ursachenverdrehung: „Menschenschmuggel ist eine Antwort auf die Grenzkontrollen, nicht die Ursache der illegalen Migration.“. Mit anderen Worten: Strengere Grenzabschottung erschafft erst den Markt für Schlepper. Wenn reguläre Wege fehlen, weichen Migranten notgedrungen auf illegale Routen und die Dienste von Schleusern aus. Seit den 1990er Jahren haben westliche Staaten Visa-Pflichten verschärft und legale Zugänge verknappt (selbst bei hoher Arbeitskräftenachfrage). Das Missverhältnis zwischen dem Bedarf an Migranten und geschlossenen Grenzen führte dazu, dass „ständig mehr Migranten ohne Papiere über die Grenze gehen“. Menschenschmuggler füllen hier eine Nachfrage: Sie bieten eine Dienstleistung an – gefährlich und teuer zwar –, die Migranten freiwillig in Anspruch nehmen, um dorthin zu gelangen, wo sie gebraucht werden oder Schutz suchen. Die Politik hat trotz Jahrzehnten „Schlepperbekämpfung“ keine wirkliche Reduktion erreicht. Im Gegenteil, je rigoroser die Grenzsicherung, desto professioneller werden die Schmuggelnetzwerke und desto höhere Risiken müssen Migranten eingehen (weil einfache Routen versperrt sind). Der Mythos vom allmächtigen Schlepper lenkt davon ab, dass die Migranten aus eigenem Antrieb handeln. Schlepper ermöglichen nur, was rigide Gesetze verhindern: die Befriedigung einer Nachfrage (sei es nach Arbeit oder Sicherheit). Solange große Wohlstandsunterschiede bestehen und zugleich legale Migration begrenzt wird, werden Menschenschmuggler Kunden haben. Die internationale Erfahrung zeigt: Durchbrechung von Schmugglerstrukturen gelingt vor allem, wenn legale Alternativen geschaffen werden (z.B. Arbeitsvisa-Kontingente). Andernfalls entstehen immer neue Routen. Schlussfolgerung: Nicht die Schlepper verursachen Migration – sie sind ein Symptom restriktiver Politik. „Menschenschmuggel ist nur eine Reaktion auf die Verschärfung der Grenzkontrollen, nicht die Ursache der illegalen Zuwanderung.“. Der Kampf gegen Schleuser greift daher zu kurz, solange die zugrunde liegenden Migrationsanreize bestehen bleiben.

Mythos 20: Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei

Behauptung: Dramatische Berichte über Menschenhandel – insbesondere Zwangsprostitution und Ausbeutung – sprechen oft von „moderner Sklaverei“. Der Mythos malt ein Bild, in dem arme Frauen, Männer und sogar Kinder von kriminellen Banden entführt, verkauft und wie Sklaven gehalten werden. Internationale Organisationen schätzen die Zahl der „modernen Sklaven“ auf über 40 Millionen und nennen Menschenhandel eines der lukrativsten Verbrechen weltweit. Hollywood-Filme wie „96 Hours“ (Taken) prägen die Vorstellung: unschuldige Opfer werden gekidnappt, betäubt und an fremde Herren verkauft. Daher fordert man einen erbitterten Kampf gegen diese neue Sklaverei.

Wirklichkeit: Die Gleichsetzung von Menschenhandel mit historischer Sklaverei ist irreführend und unethisch. Menschenhandel umfasst schwere Ausbeutung schutzloser Personen, aber es handelt sich nicht um das Eigentumsverhältnis klassischer Sklaverei. De Haas klärt zunächst einen begrifflichen Unterschied: Menschenschmuggel ist freiwillige Hilfe zur illegalen Einreise (gegen Bezahlung), während Menschenhandel Ausbeutung von Personen (sexuell oder arbeitstechnisch) bedeutet, oft sogar im Rahmen legaler Migration (z.B. mit Visum eingereist und dann ausgebeutet). Die Vorstellung, Menschen würden heute wie Ware gekauft und verkauft, greift zu kurz: „Die ganze Vorstellung, dass es beim Menschenhandel buchstäblich um den Kauf und Verkauf von Menschen als Privateigentum geht, ist ein Mythos.“. Es gibt keine belegten Fälle, in denen Leute im 21. Jahrhundert wie im 18. Jahrhundert als Sklaven versteigert würden. Stattdessen sind reale Menschenhandelsfälle meist gekennzeichnet durch betrügerische Anwerbung, Zwang oder Erpressung von ohnehin verwundbaren Personen (z.B. Minderjährige aus dysfunktionalen Familien, die von Zuhältern abhängig gemacht werden). Viele Opfer kennen ihre Peiniger sogar (Stichwort Loverboy-Masche) und geraten schrittweise in Abhängigkeit. Natürlich ist diese Ausbeutung gravierend, aber sie unterscheidet sich von Sklaverei im historischen Sinne, wo Menschen rechtlich als Eigentum gehalten wurden. Durch den inflationären Gebrauch des Begriffs „moderne Sklaverei“ besteht laut de Haas die Gefahr, sowohl die Realität des heutigen Menschenhandels zu verzerren als auch das Leid der historischen Sklaven zu bagatellisieren. Denn wer heutige Missstände gleichsetzt mit dem transatlantischen Sklavenhandel (Millionen Menschen brutal verschleppt und generationenlang versklavt), relativiert unfreiwillig die einzigartige Grausamkeit letzterer. De Haas nennt den Vergleich deshalb „unangemessen und unethisch“. Zusammengefasst: Menschenhandel == Sklaverei. Es handelt sich um Ausbeutung, die konsequent bekämpft werden muss, aber man sollte die Phänomene sachlich unterscheiden. Der Mythos vom 1:1-Vergleich ist falsch; es braucht präzise Begriffe, um Opfern effektiv zu helfen, ohne historische Analogien zu verzerren.

Mythos 21: Zuwanderung lässt sich durch Beschränkungen verringern

Behauptung: Diese Annahme besagt, dass strenge Migrationskontrollen und gesetzliche Beschränkungen die Zuwanderungszahlen zuverlässig senken. Sprich: „Härtere Gesetze = weniger Migration.“ Viele Regierungen glauben, sie könnten durch restriktivere Visa-Vergabe, Kontingente oder Asylrechtsverschärfungen die Einwanderung quasi steuern und nach Belieben reduzieren. Hinter dem Mythos steht das Bild von Staaten als „Türwächtern“, die mit politischen Entscheidungen den Zustrom hoch oder runter drehen können. So wird z.B. argumentiert, eine Begrenzung der Familiennachzüge oder befristete Arbeitsvisa statt Daueraufenthalt würden Migration drosseln.

Wirklichkeit: Die Wirkmacht reiner Beschränkungspolitik ist begrenzt. Studien zeigen, dass Migrationsströme in erheblichem Maße von ökonomischen, demografischen und sozialen Faktoren geprägt sind – Politik kann sie kanalisieren, aber nicht vollständig unterbinden. Hein de Haas stellt fest, dass viele westliche Länder trotz restriktiver Rhetorik langfristig ähnliche Zuwanderungsniveaus aufweisen, weil Bedürfnisse der Gesellschaft (Arbeitskräfte, demografischer Ausgleich) und globale Netzwerke Migration antreiben. Interessanterweise hat sich die Gesamtzuwanderung in vielen Staaten über Jahrzehnte auf einem ähnlichen Level eingependelt, selbst wenn Regierungen wechselten und Gesetze änderten. Die Forschung von de Haas ergab: „Die Zuwanderungspolitik ist generell liberaler geworden“ – staatliche Beschränkungen stoßen an Grenzen, denn Unternehmen und Familien finden Wege, Migration dennoch zu ermöglichen. Zum Beispiel führen strikte Arbeitsvisa-Beschränkungen oft zu mehr illegaler Migration oder Nutzung von Asylschienen, anstatt Menschen komplett abzuhalten. Ebenso bewirkte das australische Punkte-System keine Abnahme der Migration, sondern veränderte nur ihre Zusammensetzung (mehr qualifizierte statt unqualifizierte Migranten). De Haas verweist darauf, dass Konservative und Liberale gleichermaßen Öffnungen vorantrieben, wenn der Druck stieg. Wenn Beschränkungen zu wirtschaftlichen Engpässen führen, werden sie gelockert. Zudem können harte Beschränkungen unerwünschte Nebeneffekte haben: z.B. führen kurze Aufenthaltsgenehmigungen dazu, dass Migranten dauerhaft bleiben, weil sie nicht regelmäßig pendeln können (das sogenannte „Ausländerparadox“: wer schwer rein- und rauskommt, lässt sich eher nieder). Insgesamt zeigt sich: Ein komplexes Phänomen wie Migration entzieht sich simpler Steuerung. Beschränkungen allein verringern die Gesamtmigration oft nicht nachhaltig – sie verlagert sich nur auf andere Kanäle. Beispiel: Trotz hochrestriktiver Politik der USA leben ~11 Mio. undokumentierte Migranten dort (Zahl seit 20 Jahren konstant). Europa hat trotz Dublin-System weiterhin irreguläre Einreisen, nur mit höherem humanitären Preis. Fazit des Buchs: Vollmundige Versprechen, Migration durch Härte zu senken, erfüllen sich selten. Langfristig gleichen sich Bedürfnisse und Realitäten an – letztlich hat die Weltwirtschaft Zuwanderung immer wieder eingefordert. Politische Rhetorik kann Migration nicht einfach „abschalten“. Daher sind intelligente Steuerung und legale Wege zielführender als reine Restriktion. Der Mythos, man könne Zuwanderung allein durch Verbote deutlich verringern, hält der Realität nicht stand.

Mythos 22: Der Klimawandel entfesselt eine Völkerwanderung

Behauptung: Oft wird gewarnt, die Klimakrise werde in naher Zukunft gigantische Flüchtlingsströme auslösen – eine Art neue „Völkerwanderung“. Szenarien malen Millionen Klimaflüchtlinge aus überfluteten Küsten und vertrockneten Regionen, die nach Europa und Nordamerika drängen. Schlagworte wie „Klimaflüchtling“ oder Prognosen à la „200 Millionen Klimamigranten bis 2050“ geistern durch Medien und Politik. Daraus entsteht die Vorstellung, der Klimawandel sei der ultimative „Push-Faktor“, der ganze Gesellschaften zur Migration zwinge. Einige meinen, nur rigoroser Klimaschutz könne eine solche Massenflucht verhindern – anderenfalls würden wir von Klimamigranten „überschwemmt“.

Wirklichkeit: Klimaveränderungen werden Migration beeinflussen, aber keineswegs eine unkontrollierbare globale Völkerwanderung auslösen. „Der Klimawandel ist real, die Massenflucht ist es nicht“, bringt es Hein de Haas auf den Punkt. Zwar führen Extremwetter und Meeresspiegelanstieg zu Vertreibungen – jedoch meist binnen oder in Nachbarregionen, nicht automatisch interkontinental. Menschen versuchen, soweit möglich in ihrer vertrauten Umgebung zu bleiben oder nahe der Heimat Zuflucht zu finden. So bleiben z.B. die meisten Opfer von Naturkatastrophen innerhalb des eigenen Landes. Auch allmähliche Umweltveränderungen (Dürre, Erosion) führen häufiger zu geplanten Anpassungen vor Ort oder temporärer Arbeitsmigration als zu dauerhafter Massenauswanderung. Wichtig ist: Migration hat stets mehrere Ursachen. Klimastress trifft Gesellschaften unterschiedlich – wo funktionierende Staaten und Anpassungsstrategien existieren, müssen Menschen nicht fliehen. Wo jedoch Armut und Konflikte hinzukommen, kann Umweltwandel als zusätzlicher Faktor Migration mitanschieben. Doch selbst dann ist das Ausmaß begrenzt: Beispielsweise führten vermehrte Hurrikans in Mittelamerika zu etwas mehr Migration Richtung USA, aber keine Massenflucht. In Afrika zwingen Dürren manche Menschen zur Wanderschaft, doch oft innerhalb der Region. Die Horrorzahlen (z.B. „50 Mio. Klimaflüchtlinge“) sind methodisch fragwürdig und hoch spekulativ. Der Autor betont, dass Katastrophen-Berichterstattung verzerrt: Man hört von „Fluten von Klimaflüchtlingen“, aber nicht von all den Fällen, wo Anpassung gelingt oder Migration ausbleibt. Zudem sind die ärmsten Menschen – ironischerweise am stärksten vom Klima betroffen – oft am unbeweglichsten, weil ihnen Ressourcen zur Flucht fehlen. Paradoxer Effekt: Klimaschäden können Menschen so verarmen lassen, dass sie nicht migrieren können. In Summe prognostizieren Klimaforscher vielfältige Szenarien, aber keine evidenzbasierte Grundlage für einen singulären, riesigen Migrantenstrom gen Norden. Migration wird eines von vielen Anpassungsmitteln sein – kein unbeherrschbarer Exodus. Der Mythos der „klimabedingten Völkerwanderung“ dient teils als Schreckgespenst in politischen Debatten, hat aber laut de Haas „keine faktische Grundlage“. Klimawandel ist real und gravierend, doch dessen Bewältigung liegt in Emissionsreduktion und lokaler Anpassung – nicht in Panik vor massenhafter Migration.


Quellen: Hein de Haas: Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Fischer Verlag, 2023. Zitate und Fakten wurden dem Buch entnommen (Seitenzahlen im Text).