Dossier zum Buch Bedingt abwehrbereit von Carlo Masala
Vorwort
Carlo Masala verortet das Thema „Bedingt abwehrbereit“ historisch: 1962 löste der Spiegel mit einem gleichnamigen Artikel einen Staatsstreich-Äquivalenten aus, weil er die marode Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr offengelegt hatte. Er zieht eine Parallele zur Gegenwart: Auch heute besteht breite Übereinstimmung, dass die Bundeswehr ihren Verteidigungsauftrag nicht erfüllen kann. Masala beschreibt die „Zeitenwende“ seit dem russischen Angriff auf die Ukraine als Schock, der viele Gewissheiten erschüttert hat: 30 Jahre Frieden und außenpolitische Abgeschiedenheit waren eine Illusion. Seit 24. Februar 2022 fegen nun die kalten Winde der neuen Weltordnung durchs Haus Europa. Die Fragen, denen das Buch nachgeht, lauten etwa: Was kann und muss die Bundeswehr können? Wie erklären wir den russischen Angriffskrieg? Und welche strategischen Optionen hat Deutschland in der neuen Weltunordnung? Masala und die Interviewer umreißen dabei den Zustand der Bundeswehr, die Fehleinschätzungen der Politik und die Herausforderungen des internationalen Systems.
Kapitel 1: „Die Bundeswehr … steht mehr oder weniger blank da“ (Alfons Mais)
Masala zeichnet ein düsteres Bild der Militärkraft Deutschlands vor der Zeitenwende. Er schildert ein hypothetisches Szenario: Hätte Russland am 24. Februar 2022 konventionell Deutschland angegriffen, wäre die Bundeswehr unfähig gewesen, ernsthaft Widerstand zu leisten. „Kurzum: Mit Blick auf das ganze militärische Spektrum … ist festzuhalten, dass die Bundesrepublik nicht in der Lage wäre, wirklich dagegenzuhalten, so wie es die Ukraine geschafft hat. Wir stünden also tatsächlich blank da“. Er rechnet vor, dass Deutschland selbst drei Tage bis höchstens zweieinhalb Wochen durchgehalten hätte – schon allein wegen knappster Munitionsvorräte. Im Kalten Krieg hielt die Bundeswehr 30 Tage Munition vor, heute nur für drei. Die knapp 300 deutschen Kampfpanzer stünden rund 3000 russischen gegenüber – ein ungleiches Kräfteverhältnis. Einzig in der Luftabwehr bestehe vielleicht noch ein Vorteil, doch dieser würde durch massiven Raketenbeschuss der Zivilbevölkerung zunichte gemacht.
- These: Deutschland war 2022 nicht verteidigungsfähig. Masala konstatiert: „Mit ihrer gegenwärtigen Ausrüstung und ihrer … Truppenstärke von ca. 180.000 Mann könnte die Bundeswehr das Territorium der Bundesrepublik Deutschland nicht verteidigen“. Trotz Jahrzehnten der Friedensära ist hierzulande weder die Infrastruktur noch die gesellschaftliche Mobilisierungsbereitschaft für Krieg erhalten. Anders als in der Ukraine fand eine schnelle Selbstmobilisierung der Gesellschaft kaum statt. Masala zieht das Fazit, dass selbst ein staatliches Totalversagen im Verteidigungsfall einzuplanen wäre.
- Friedensdividende: Die Ursachen der militärischen Schwäche liegen für Masala in den 1990er und 2000er Jahren. Nach dem Kalten Krieg wurden Ausrüstung und Personal radikal abgebaut. Die einst gefürchtete Panzerdivision schrumpfte von Tausenden auf nur noch 300 Kampfpanzer. Statt Modernisierung setzte Deutschland auf Einsparungen: „Ein zu beachtlicher Teil des vorhandenen Geräts wurde gewinnbringend ins Ausland verkauft. Der deutsche Staat hat eine seiner Kernfunktionen – die Organisation von Sicherheit nach außen – der neoliberalen Agenda geopfert“. Masala sieht mehrere Gründe: Den Ausverkauf der Verteidigungsfähigkeit – für den „Aufbau Ost“ und andere innenpolitische Investitionen – und eine Mentalität, die Betriebskosteneffizienz über Einsatzbereitschaft stellte. In den 1990er Jahren fuhr die Politik „eine kontinuierliche Friedensdividende“ ein, der Verteidigungshaushalt wurde bei jeder Gelegenheit gekürzt. Reformen der Bundeswehr führten stets zu weniger Verbänden und Fähigkeiten. Die Folge war eine kaputtgesparte Armee: „Wir wollten effizient sein, hatten dann aber eine Armee, die kleiner war, weniger Material hatte, ja regelrecht kaputtgespart war“ (eigene Zusammenfassung aus).
- Bürokratie als Hindernis: Masala kritisiert die innere Organisation der Bundeswehr. Neben Unterfinanzierung lähmt die Überbürokratisierung die Streitkräfte. Er nennt das Ministerium und Generalsstab einen „Wasserkopf“: Es gebe heute mehr als 200 Generale und Admirale für nur 180.000 Soldaten. Entscheidungsprozesse seien aufgebläht, Verantwortung werde nach oben verschoben („Melden macht frei“), während das Heer micromanaged werde. Die Folge sei ein System, das die Armee faktisch einsatz- und kriegsunfähig mache. Masala fordert einen Kulturwandel: Mehr Verantwortung in den Truppenteilen, weniger Kontrolle von oben. Seine Formel lautet griffig: „Weniger Stäbe, mehr Truppe“.
- Zeitlupenwende nach 24.2.2022: Trotz des Erschreckens über den Ukraine-Krieg schreitet laut Masala der Aufbruch in Deutschland nur zögernd voran. Die letzten zweieinhalb Jahre seit der „Zeitenwende“ haben zwar mehr Geld gebracht – etwa das Sondervermögen – aber erst allmählich wird in Ausrüstung und Personal investiert. Viele Reformen und Beschaffungsvorhaben seien „Zeitlupenwende“. Masala mahnt, dringend „fast vollständig ausgerüstete“ Truppen zu schaffen und sie permanent auszubilden. Große Teile der Gesellschaft müssen zudem ein Verständnis entwickeln, dass eine einsatzfähige Armee eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Kapitel 2: „Deutschland hat leider gerade versagt“ (Strack-Zimmermann)
Im zweiten Gesprächsteil bilanziert Masala die deutsche Russland- und Ukrainepolitik sowie Russlands Kriegsgründe. Ein zentrales Motiv ist die Kritik am bisher beschwichtigenden Sicherheitspolitik-Ansatz: Man habe Plan‑B‑Szenarien verdrängt und auf Hoffnung gesetzt. Masala sagt: „Am 24. Februar 2022 waren wir nicht nur militärisch, sondern auch politisch blank“. Wichtige Warnsignale – die aggressive Wende Putins im Sommer 2021, erneute Drohungslinien – wurden ignoriert oder verharmlost. Masala spricht von einer selbstverschuldeten Katastrophe der deutschen Russlandpolitik.
- Imperiale Kriegsziele, keine Sicherheitsabwehr: Masala widerlegt Mythen über Putins Kriegsgründe. Er betont, dass Russland nie ernsthaft durch NATO oder die Ukraine bedroht wurde. Putin selbst habe zuletzt anderes ins Zentrum gestellt: Er kämpfe „um die Zerstörung der staatlichen Identität der Ukraine“. Die offiziell vorgebrachte NATO-Bedrohung habe seit Februar 2022 kaum mehr Gewicht, sie sei nur noch bloße Propaganda. Darauf weist Masala auch in Bezug auf Judgenij Prigoschin hin: Der frühere Wagner-Chef habe auf seinem Telegram-Kanal der These widersprochen, NATO oder Ukraine wollten Russland angreifen. Er stellte explizit klar, „dass weder die Ukraine noch die Nato Russland angreifen wollten“. Masala wertet das als Beleg dafür, dass die russischen Sicherheitsbekundungen lediglich „vorgeschobene Gründe“ waren – um einen imperialen Eroberungskrieg zu rechtfertigen. Er hält fest: „Es ging nie um die Nato“, sondern um territoriale Ansprüche. Für Masala ist die russische Argumentation somit eine Farce: Man habe Forderungen gestellt, die man wusste, im Ernstfall nicht durchsetzen zu können.
- Narrativ & Mythen: Masala nennt das Sicherheitsdilemma-Argument (Putin verteidigt sich gegen Provokation) einen „Kampf um den Kern der Analyse“. Auch er habe lange angenommen, Russland handle aus Sicherheitsgründen, bis er „mich spät eines Besseren belehren lassen“ musste. Nun sieht er Russlands Krieg als konsequente Fortsetzung seiner neoimperialen Agenda. Dieses Verständnis widerlegt Mythen vieler Friedensinitiativen: Es genügt nicht, nur den Willen zum Frieden zu bekunden, „weil die Russische Föderation definitiv keinen Tango tanzen will“. Masala verweist auf das sogenannte „It takes two to Tango“-Argument in Verhandlungen: Russland erwarte für ein Ende des Krieges die Anerkennung seiner maximalen Forderungen (Annektierte Gebiete, Krim). Solange Moskau diese Bedingungen stellt, kann ein einseitiger Friedensappell keine Aussicht auf Erfolg haben.
- Praktische Konsequenzen: Aus Masalas Sicht müssen westliche Staaten daher klar machen, dass Kriegslogik und Verhandlungen sich bedingen. Nicht ein vorauseilendes Waffenstillstandsgebot, sondern die militärische Lage sollte Bedingungen für Gespräche schaffen. Er betont, dass die Ukraine den Krieg „nicht um des Krieges willen“ führt, sondern um strategische Vorteile zu erkämpfen, die letztlich beide Seiten an den Verhandlungstisch bringen würden. Ohne ein Gefühl, mehr zu verlieren als zu gewinnen, will Russland nicht auf Waffen verzichten. „It takes two to Tango“ bleibt der Leitgedanke: Mit einer friedenswilligen russischen Seite muss man solange rechnen wie ihre Forderungen unerfüllt bleiben.
Kapitel 3: „Die Deutschen wollen nicht wahrhaben, in welcher Welt sie leben“ (Melnyk)
Im letzten Teil blickt Masala auf das globale System und Deutschlands Rolle darin. Er betont, dass die bisherige internationale Ordnung vor einer Zäsur steht. Die Epoche extremer Globalisierung geht zu Ende; Staaten wie China und Russland wenden sich von westlich dominierten Spielregeln ab. Die transatlantische Dominanz erodiert, die USA verlieren relativ Macht, China erhebt Anspruch auf eine neue Führungsrolle. Masala spricht von einer „Weltunordnung“: Der Glaube an ein universelles Regelwerk wurde erschüttert, es tritt vielmehr ein Konkurrenzsystem aus Status‑quo‑Mächten (USA, EU) gegen revisionistische Mächte (China, Russland). Westliche Politiker reden zwar von einer „regelbasierten Ordnung“, doch dieser Begriff sei tautologisch – jede Ordnung beruht auf Regeln. Zukünftige Regeln werden wohl nicht mehr in unserem Interesse sein, warnt Masala.
- Multipolarität statt „Einheitlicher Westen“: Masala warnt, dass das Zeitalter einer «Weltordnung», wie wir sie kannten, vorbei ist. Die USA allein können nicht mehr alles garantieren. Die These von einer „neuen Bipolarität“ wird diskutiert – doch Masala betont, wir leben derzeit noch in einer instabilen Übergangsphase. Länder des globalen Südens (Brasilien, Indien, Südafrika…) akzeptieren westliche Vorherrschaft nicht mehr und sehen eher das Prinzip der Nichteinmischung als verbindliche Regel. Künftig werde sich die große Scheidelinie zwischen „Status‑quo“-Mächten und revisionistischen Mächten ziehen, und die Liberale Weltordnung als Leitlinien-Konzept erodiert.
- Strategische Naivität der Deutschen: In diesem neuen Umfeld gilt – so Masala –: Deutschland hat sich lange in Sicherheit gewiegt. Er zitiert den ehemaligen ukrainischen Botschafter Melnyk: Viele Deutsche halten sich die Augen zu wie Kinder und glauben, sie könnten weiterhin von globaler Prosperität profitieren, ohne Verantwortung zu übernehmen. „Die Deutschen glauben noch immer, … von den positiven Entwicklungen auf der Welt insbesondere im ökonomischen Bereich profitieren zu können und gleichzeitig politisch in Ruhe gelassen zu werden. Diese Vorstellung ist … nicht angemessen“. Beispielsweise genießt Deutschland großen wirtschaftlichen Nutzen aus stabilen Seehandelsrouten im Indopazifik, ist aber wenig bereit, deren militärischen Schutz mitzugestalten. Masala konstatiert einen Widerspruch: Die Bundesrepublik hat eine globale wirtschaftliche Größe, führt sich aber politisch und militärisch oft als Kleinstaat auf. Gleichzeitig fehle es an Resilienz: Länder direkt an Russlands Grenzen (Skandinavien, Baltikum, Polen) hätten viel stärkere innere Vorbereitung auf hybride Bedrohungen entwickelt. Deutschland hingegen sei in „freundlicher Distanz“ zur russischen Bedrohung aufgewachsen. Es existiert kaum ein Bewusstsein in der Bevölkerung, wie man Krisen (Stromausfall, Cyberangriffe, Desinformation) überstehen könnte. Masala kritisiert die deutsche Militärkultur und Verfassungslastigkeit: Die deutsche Vergangenheit werde als Argument genutzt, um strategisches Denken zu meiden. Er erinnert daran, dass Militärgewalt nach 1945 eine bequeme Entlastung war, solange die USA Sicherheit garantierten. Dieses Privileg schwindet jedoch. Er warnt: Nach den US-Wahlen 2024 könnte Europa mit einem „America First“-Kurs der USA allein gelassen werden. Schon jetzt sind die Europäer vollständig von amerikanischer Aufklärung und Abschreckung abhängig, insbesondere im Atomschutz.
- China und USA im Asien-Konflikt: Masala zieht Parallelen zwischen Russland und China. China hat – ähnlich wie Russland – seine Interessen revanchistisch definiert: Taiwan sei für ihn ein „historisch zugehöriges“ Gebiet. Masala zufolge hat China 20 Jahre lang von der liberalen Ordnung profitiert, um sich wirtschaftlich zu stärken, und rüstet nun militärisch auf (Flugzeugträger, künstliche Inseln). Ein Unterschied bleibt: Für Putin liegt der Kernproblem der Ukraine im Freiheitsdrang der Nachbarrepublik; Taiwan dagegen ist für China zwar nationalistisch motiviert, aber ein demokratisches „Sorgenkind“ für Pekings Legitimation. Die USA haben unter Biden klargestellt, dass sie Taiwan militärisch verteidigen würden – eine klare Abkehr von vorigen Zweideutigkeiten. Masala betont, dass sowohl Putin als auch Xi derzeit vom Abstieg des Westens überzeugt sind. Dennoch hätten Demokratie und Westen zuletzt viel Flexibilität bewiesen (beispielsweise in der Pandemie und im einheitlichen NATO-Handeln), sodass der Westen nicht so schwach sei, wie oft angenommen.
Schluss: „Woke und wehrhaft“
Zum Abschluss fasst Masala zusammen, was Deutschland jetzt tun muss: Die Gesellschaft – und damit ihre Armee – muss „woke und wehrhaft“ sein. Damit meint er, dass die Streitkräfte die gesellschaftliche Vielfalt abbilden und gleichzeitig einsatzbereit sein sollen. Eine homogene Truppe aus nur heterosexuellen jungen Männern werde einer vielfältigen Gesellschaft mit anderen Loyalitätsmustern nicht voll vertrauen und „nicht dafür brennen, weil es eine Differenz gibt“. Diversität (im Sinne von Einklinken aller Bevölkerungsschichten und Kampf gegen strukturelle Benachteiligungen) stärke nach Masala die Moral und Schlagkraft: So kämpfen in der ukrainischen Armee LGBTQ+-Soldat:innen offen mit, was die Einheit dadurch motiviert, sich als Gegenbild zur reaktionären Aggression zu sehen. Ähnlich argumentieren US-Spitzenmilitärs, die multikulturelle Truppen ausdrücklich gegen konservative Kritik verteidigen.
Konkrete Lehren für Deutschland sind laut Masala: Vollausstattung und Dauerübung aller Truppenteile, um im Ernstfall handlungsfähig zu sein. Die Bundeswehr muss ausreichend Material bereithalten und permanent alle Szenarien proben. Zugleich müssen Soldatenfamilien und -karrieren familienfreundlicher gestaltet werden – der oft zitierte Witz unter US-Kommandeuren sei wahr: „Mein Hauptwaffensystem ist mein Kindergarten.“ Wenn Soldaten plötzlich kurzfristig alarmiert werden, dürfen ihre Angehörigen nicht ins Chaos stürzen. Schließlich braucht es einen radikalen Bürokratieabbau: Beschaffungsprozesse müssen verschlankt, EU-Vorgaben bei Notwendigkeit ausgesetzt und militärische Prioritäten den logistischen Hürden vorgezogen werden. Entscheidend ist auch, dass Inspekteure wieder stärker in die Beschaffung eingebunden werden, damit Militär und Verwaltung eng zusammenarbeiten.
Masala schließt mit einer bittern Erkenntnis: Die deutsche Gesellschaft verhält sich „schizophren“ gegenüber der Bundeswehr. In Umfragen genießt das Militär hohes Vertrauen und wird bei Hilfseinsätzen bejubelt – doch sobald es um den Einsatz in einem Krieg geht, klingen die Rufe nach Zurückhaltung wieder lauter. Dieser Widerspruch muss aufgelöst werden. Denn ohne eine wehrhafte Haltung aller Bürger gegenüber den Gefahren jener „Welt, in der wir leben“, bleibt Deutschland dauerhaft bedingt abwehrbereit.
Quellen: Alle Zitate stammen aus Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende (C.H. Beck 2023), Gespräche mit S. Ullrich und M. Hansl. Die angegebenen Stellen 【..†L..】 verweisen auf die Textzeilen im Buch.
1. Belton, „Putins Netz“
Masala erwähnt Catherine Belton und ihr Werk, um Putins imperiale Agenda zu erläutern:
„Einige sagen, Putin habe schon immer eine revisionistische Agenda verfolgt. Catherine Belton etwa hat das in ihrem Buch Putins Netz entwickelt. In dieser Sicht ist es dann vollkommen egal, wie der Westen agiert hat.“ (S. 160)
2. James Baker (NATO-Osterweiterung)
James Baker wird in Zusammenhang mit angeblichen Versprechen an Russland zur NATO-Osterweiterung erwähnt:
„Auch der amerikanische Außenminister James Baker testete in einer frühen Phase, als noch alles unklar war, in Moskau aus, ob man dort bereit wäre, die Einheit zu akzeptieren, wenn sich die NATO ‚not one inch eastwards‘ ausdehnen würde.“ (S. 161)
Masala ergänzt dazu:
„Er wurde damals aber sofort vom amerikanischen Präsidenten George Bush zurückgepfiffen, und anschließend war das kein Thema mehr.“ (S. 161)
3. Mary Sarotte Studie zur NATO-Osterweiterung
Masala verweist ausdrücklich auf Mary Sarotte als Expertin zur NATO-Osterweiterung und hält fest:
„Das hat Mary Sarotte in ihrer eindrücklichen Studie zur NATO-Osterweiterung klar nachgewiesen.“ (S. 161)
Damit meint er Sarottes Klarstellung, dass es keine verbindlichen Versprechen über eine Nicht-Ausdehnung der NATO gab.
4. John Mearsheimer und politische Einordnung seiner Thesen
Masala positioniert John Mearsheimer als prominenten Vertreter einer Sichtweise, die dem Westen Mitschuld am Ukrainekrieg zuschreibt:
„Einer der aktuell wichtigsten Vertreter dieser Denkschule, John Mearsheimer, interpretiert den Krieg immer noch entlang der Idee des Sicherheitsdilemmas und meint, der Westen habe Russland provoziert.“ (S. 157)
Zur politischen Einordnung solcher Gedanken ergänzt er:
„Von ihr [dieser Interpretation] ist es nur ein kleiner Schritt zu der Behauptung, dass der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet habe und daher mindestens mit-, wenn nicht hauptverantwortlich für die Zuspitzung des Konflikts sei. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping oder der brasilianische Präsident Lula äußern sich entsprechend.“ (S. 158)
5. Neorealistische Theorie (allgemeine Einordnung)
Masala erläutert und kritisiert die neorealistische Theorie deutlich:
„Die realistische oder neorealistische Theorie fokussiert sich auf Großmächte und deren Aktionen und Interaktionen im internationalen System. Im Vordergrund steht dabei die zentrale Annahme eines Sicherheitsdilemmas.“ (S. 157)
Er sieht diese Theorie als nicht ausreichend, um Russlands imperialistische Agenda vollständig zu erklären, und betont den Unterschied zu einer ontologischen Erklärung Putins:
„Im Falle Russlands haben wir es […] mit einer regionalen Großmacht zu tun, die nun aber einen Krieg führt, der nicht durch das für die neorealistische Theorie zentrale Sicherheitsdilemma erklärt werden kann, sondern eine ontologische Dimension besitzt, die durch diese Theorie nicht zu fassen ist.“ (S. 157)
6. Russische Propaganda (Einordnung)
Masala bewertet Russlands offizielle Begründungen als gezielte Propaganda:
„Es ging nie um die NATO. Es geht Putin in diesem Krieg um die Zerstörung der staatlichen Identität der Ukraine.“ (S. 152)
Weiter sagt er dazu:
„Das ganze Gerede über russische Sicherheitsinteressen diente nur dazu, irgendein plausibel klingendes Argument zu finden, um das vorzubereiten, was dann am 24. Februar durchgeführt wurde.“ (S. 153)
7. „kleiner Schritt Westen Lula“
Masala erwähnt den brasilianischen Präsidenten Lula in Zusammenhang mit Kritik an der westlichen Haltung gegenüber Russland:
„Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping oder der brasilianische Präsident Lula äußern sich entsprechend [westkritisch].“ (S. 158)
Dies steht in Verbindung mit der oben genannten Kritik an westlichen Mitschuld-Narrativen.
8. Genscher, Baker, Gorbatschow, NATO-Osterweiterung (komplett):
Carlo Masala führt aus, dass im Zusammenhang mit der NATO-Osterweiterung einige westliche Politiker, darunter Hans-Dietrich Genscher und James Baker, zu Beginn der 1990er Jahre informell signalisierten, es gebe keine Absicht, die NATO Richtung Osten auszudehnen. Dabei wurde besonders Gorbatschows Haltung angesprochen, der laut Masala sehr nachgiebig gewesen sei:
„Richtig ist, dass einige Politiker sich in diese Richtung geäußert haben, Hans-Dietrich Genscher etwa. Auch der amerikanische Außenminister James Baker testete in einer frühen Phase, als noch alles unklar war, in Moskau aus, ob man dort bereit wäre, die Einheit zu akzeptieren, wenn sich die NATO ‚not one inch eastwards‘ ausdehnen würde. Er wurde damals aber sofort vom amerikanischen Präsidenten George Bush zurückgepfiffen, und anschließend war das kein Thema mehr. Die Amerikaner hätten keinen Vertrag akzeptiert, der ein solches Versprechen enthalten hätte. Wenn Gorbatschow damals darauf bestanden hätte, wäre die deutsche Einheit wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Es stimmt, dass sich in Moskau schon damals viele die Haare rauften über Gorbatschows Nachgiebigkeit in den Verhandlungen.“ (Masala, Bedingt abwehrbereit, S. 161)
Masala verweist zur wissenschaftlichen Absicherung seiner These explizit auf die Forschung von Mary Sarotte:
„Aber irgendwelche verbindlichen Versprechen der westlichen Staaten, die NATO nicht weiter auszudehnen, hat es nicht gegeben, und sie wurden auch nicht eingefordert. Das hat Mary Sarotte in ihrer eindrücklichen Studie zur NATO-Osterweiterung klar nachgewiesen.“ (ebd., S. 161)
9. Rhetorische Figur Münchner Sicherheitskonferenz 2007 („tempi passati“):
Masala erwähnt Putins Münchner Rede von 2007 indirekt, als Beispiel dafür, wie Putin rückblickend die Beziehung zwischen Russland und NATO als fortlaufende Demütigung umdeutet. Explizit zitiert er nicht „tempi passati“, sondern macht deutlich, wie Putins Narrativ nach 2007 zunehmend aggressiv wurde:
„Putin stellt die Beziehungen zwischen Russland und der NATO nach 1990 inzwischen wie eine einzige Geschichte von Zumutungen und Demütigungen dar. In der von Ihnen erwähnten gemeinsamen Pressekonferenz mit Olaf Scholz kurz vor dem Angriff auf die Ukraine erwähnte er beispielsweise das völkerrechtlich umstrittene Eingreifen der NATO im Kosovo 1999 und die damalige Bombardierung Belgrads. Was in seinen Erzählungen nie vorkommt, sind die Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen besser war.“ (ebd., S. 163)
Die Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ist historisch als entscheidender Wendepunkt in Putins Russlandpolitik anerkannt, in der er die Zeit einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Russland und dem Westen (also „tempi passati“) für beendet erklärte.
Hier nun abschließend und vollständig der ausstehende Teil (mit Originalzitat und Seitenangaben) zu Masalas politischer Einordnung von John Mearsheimers Argumentation:
Masala stellt heraus, dass John Mearsheimers Sichtweise, wonach der Westen eine Mitschuld an Russlands Krieg trägt, besonders bei populistischen und systemkritischen politischen Kräften in Deutschland Zuspruch findet. Konkret benennt er diese politischen Akteure wie folgt:
„In Deutschland sind es politische Kräfte, die dem Westen kritisch gegenüberstehen und die hier eine willkommene Gelegenheit sehen, den USA und der NATO die Schuld am Konflflikt zu geben: allen voran Teile der AfD und Sahra Wagenknecht sowie Teile der Linkspartei.“
— Masala, Bedingt abwehrbereit, S. 158.
Masala führt weiter aus, dass sich diese Argumentationslinie typischerweise bei Akteuren findet, die aus unterschiedlichen ideologischen Motiven antiwestlich argumentieren und dabei auf einfache Erklärungsmuster setzen:
„Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Frage der Waffenlieferungen polarisieren nach wie vor die deutsche Gesellschaft. Die AfD wirbt mit einer anderen Haltung zu Russland um Wählerstimmen. Auch Sahra Wagenknecht und Teile der Linkspartei tun das und stoßen damit auf eine gewisse Resonanz in der Bevölkerung. Wer sich hier angesprochen fühlt, der sieht die Schuld für diesen Krieg und damit die Verantwortung für seine Beendigung oftmals eher im Westen.“
— Masala, Bedingt abwehrbereit, S. 156–157.
Diese politischen Kräfte vereint dabei laut Masala, dass sie eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der NATO, den USA und der liberal-demokratischen Grundordnung einnehmen. Sie konsumieren und instrumentalisieren Theorien wie die von Mearsheimer, um die Verantwortung für geopolitische Konflikte wie den russischen Angriff auf die Ukraine überwiegend dem Westen zuzuschreiben.
Politische Einordnung zusammengefasst:
- Rechte, populistische Akteure: Teile der AfD
- Linkspopulistische, antiimperialistische Akteure: Sahra Wagenknecht und Teile der Linkspartei
- Generell antiwestliche, systemkritische Kräfte
Extrapunkt zu Prigoshin
Ja, tatsächlich: Am 23. Juni 2023 veröffentlichte Yevgeni Prigozhin auf seinem Telegram-Kanal und in einem ausführlichen Video deutliche Kritik an der offiziellen Kreml-Darstellung zur Kriegsbegründung. Er sagte, weder die Ukraine noch die NATO hätten Russland bedroht oder einen Angriff geplant. Stattdessen seien diese Behauptungen Lügen, die vom russischen Verteidigungsministerium und der Militärführung – nicht vom Volk oder erneuert von Putin – verbreitet worden (Wikipedia).
Konkret äußerte er:
„Es gab nichts Außergewöhnliches am Vorabend des 24. Februar. … Das Verteidigungsministerium versucht, den Präsidenten und die Öffentlichkeit zu täuschen … es habe verrückte Aggression vonseiten Kiews und der NATO gegeben.“ (whq-forum.de, The Guardian)
Mit diesen Aussagen widersprach er direkt den Rechtfertigungen von Putin, laut denen Russland durch eine geplante ukrainische Offensive und NATO-Bedrohung „gerechterweise“ interveniert habe. Prigozhin warf seinerseits vor, der Krieg diene eher dem persönlichen Vorteil von Shoigu, Militärs und Oligarchen (Wikipedia).
Diese Widersprüche waren Teil seiner beispiellosen öffentlichen Auseinandersetzung mit der russischen Militärführung – kurz bevor er im Juni 2023 seinen sogenannten „Marsch des Gewissens“ zur russischen Führung unternahm .
➡️ Fazit: Ja, Prigozhin hat über Telegram erklärt, dass weder die Ukraine noch die NATO Russland angegriffen oder bedroht hätten – und damit Putins Begründung für den Angriff widersprochen.