Instinkt der Schuldzuweisung (Last uns der Oma eine reinhauen)

LASST UNS DOCH DIE OMA VERMÖBELN

Ich hielt gerade eine Vorlesung am Karolinska Institutet und erklärte, dass die großen pharmazeutischen Unternehmen sich nur wenig in der Malariaforschung engagieren und überhaupt nicht in der Erforschung der Schlafkrankheit oder anderer Krankheiten, von denen nur die Ärmsten betroffen sind.

Ein Student in der ersten Reihe schlug vor: »Wir sollten ihnen eine reinhauen.«

»Aha«, sagte ich. »Im Herbst gehe ich ja tatsächlich zu Novartis.« (Novartis ist ein global agierendes Pharmaunternehmen mit Sitz in der Schweiz, und ich wurde von ihm eingeladen, um dort einen Vortrag zu halten.) »Wenn Sie mir jetzt noch sagen, was ich damit erreiche und wen ich schlagen soll, könnte ich es ja versuchen. Wem soll ich eine Ohrfeige verpassen? Einfach irgendjemandem, der dort arbeitet?«

»Nein, nein, nein, dem Boss des Ladens«, meinte der junge Mann.

»Aha. Okay. Das ist Daniel Vasella.« So hieß der Boss damals. »Den kenne ich ja schon ein bisschen. Also wenn ich ihn im Herbst treffe, dann soll ich ihm eine reinhauen? Ist dann alles wieder gut? Wird er dann ein guter Boss werden, dem klar ist, dass er die Forschungsprioritäten des Unternehmens ändern sollte?«

Ein Student aus einer hinteren Reihe empfahl: »Nein, Sie müssen den Vorstandsmitgliedern eine verpassen.«

»Das trifft sich gut. Am Nachmittag werde ich nämlich wohl eine Rede vor dem Vorstand halten. Ich werde also vormittags ganz friedlich bleiben, wenn ich Daniel sehe, aber nachmittags bei den Vorständen werde ich durch die Reihen gehen und versuchen, so viele Treffer wie möglich zu landen. Aber ich weiß nicht, ob ich genügend Zeit habe, alle k. o. zu schlagen … Mir fehlt die Kampferfahrung, und die haben eine Security. Nach drei oder vier werden sie mich wahrscheinlich stoppen. Aber soll ich das denn wirklich tun? Denken Sie, das könnte den Vorstand dazu veranlassen, seine Forschungsstrategie zu ändern?«

»Nein«, sagte ein dritter Student. »Novartis ist eine Aktiengesellschaft. Es ist nicht der Chef oder der Vorstand, der entscheidet. Es sind die Aktionäre. Wenn der Vorstand seine Prioritäten ändert, wählen die Aktionäre einfach einen neuen Vorstand.«

»Das stimmt«, sagte ich. »Es sind die Aktionäre, die wollen, dass das Unternehmen sein Geld in die Erforschung der Krankheiten von reichen Menschen steckt. So können sie mit ihren Aktien eine gute Rendite erzielen.«

So gesehen kann man den Angestellten, dem Chef oder dem Vorstand ja eigentlich nichts vorwerfen.

»Die Frage ist jetzt …«, ich wandte mich an den ersten Studenten, der die Idee mit dem Schlagen hatte, »wer sind die Eigentümer der Aktien in diesen großen pharmazeutischen Unternehmen?«

»Das ist doch klar, die Reichen«, antwortete er achselzuckend.

»Nein. Das Interessante ist, dass Pharmazieaktien sehr stabil sind. Wenn die Börse Achterbahn fährt oder die Ölpreise steigen und fallen, sorgen die Aktien der Pharmaunternehmen für eine hübsche kontinuierliche Rendite. Viele Unternehmensaktien aus anderen Branchen folgen der wirtschaftlichen Entwicklung, und ihr Kurs hängt davon ab, ob die Leute im Kaufrausch sind oder lieber sparen, aber Krebspatienten brauchen ihre Medikamente immer. Bei wem sind also Aktien solch stabiler Firmen zu finden?«

Meine jungen Zuhörer schauten mich mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an.

»Bei Pensionskassen.«

Große Stille.

»Vielleicht muss ich jetzt also doch nicht zuschlagen, weil ich den Aktionären ja gar nicht begegnen werde. Ihr aber schon. Wenn ihr am Wochenende bei der Oma vorbeischaut, dann vermöbelt sie mal so richtig. Wenn ihr das Gefühl habt, ihr müsstet jemandem die Schuld geben und ihn dafür bestrafen, dann seid ihr bei den Senioren richtig und ihrem gierigen Bedarf nach stabilen Aktien.

Und wisst ihr noch, letzten Sommer, als ihr zu eurer Rucksacktour aufgebrochen seid, habt ihr da von eurer Oma nicht einen kleinen Reisezuschuss gekriegt? Okay. Vielleicht zahlt ihr das jetzt besser zurück, dann kann sie es auch Novartis zurückgeben und die darum bitten, mehr in die Gesundheit der Armen zu investieren. Oder habt ihr das Geld schon ausgegeben und solltet euch jetzt selbst eine reinhauen?«

DER INSTINKT DER SCHULDZUWEISUNG

Der Instinkt der Schuldzuweisung strebt danach, einen klaren und einfachen Grund dafür zu finden, warum etwas Schlimmes passiert ist. Erst kürzlich hat sich dieser Instinkt bei mir bemerkbar gemacht, als ich im Hotel duschte und das Warmwasser voll aufdrehte … und sich nichts tat. Doch ein paar Sekunden später war ich total verbrüht. In solchen Augenblicken steigt der Zorn hoch: auf den Klempner, dann auf den Hotelmanager, dann auf den Nachbarn, der womöglich das Kaltwasser aufgedreht hat. Aber niemandem konnte man die Schuld geben. Niemand hat mir mit Absicht oder aus Nachlässigkeit Schaden zugefügt, außer ich mir selbst vielleicht. Ich hätte ja nur etwas geduldiger sein und das Warmwasser schrittweise aufdrehen können.

Wenn irgendetwas schlecht läuft, scheint es für uns ganz selbstverständlich zu sein, die Schuld dafür bei schlechten Menschen mit schlimmen Absichten zu suchen. Wir glauben nur zu gerne, dass Dinge passieren, weil jemand das so wollte und über entsprechende Macht und Mittel verfügte. Sonst würden wir die Welt ja als unberechenbar, verwirrend und beängstigend empfinden.

Der Instinkt der Schuldzuweisung sorgt dafür, dass wir die Bedeutung von Einzelnen oder von bestimmten Gruppen überhöhen. Dieser Instinkt, der uns nach Schuldigen suchen lässt, untergräbt unsere Fähigkeit, ein wahres, faktenbasiertes Verständnis unserer Welt zu entwickeln. Wir verlieren dadurch unseren Fokus, weil wir ganz davon in Beschlag genommen sind, jemandem die Schuld zuzuweisen. Wir hören auf zu lernen, sobald wir uns für jemanden entschieden haben, dem wir eine verpassen wollen. Dadurch hören wir auf, nach alternativen Erklärungen zu suchen, und schwächen unsere Fähigkeit, ein Problem, worin auch immer es besteht, zu lösen oder dafür zu sorgen, dass es nicht wieder auftritt. Stattdessen beharren wir auf engstirnigen Schuldzuweisungen, die uns von der komplexeren Wahrheit ablenken und uns daran hindern, unsere Energie auf sinnvolle Ziele zu konzentrieren.

Beispielsweise lassen sich zukünftige Flugzeugabstürze nicht dadurch verhindern, dass man nach einem Flugzeugabsturz den müden Piloten zum Schuldigen erklärt. Wir müssen eher Fragen stellen wie: Warum war er müde? Wie kann man müden Piloten in Zukunft vorbeugen? Wenn wir aufhören nachzudenken, sobald wir mit dem müden Piloten den Schuldigen gefunden haben, werden wir nicht weiterkommen. Wenn wir die maßgeblichen Probleme der Welt verstehen wollen, müssen wir unseren Blick über ein schuldiges Individuum hinaus auf das System richten.

Derselbe Instinkt wird ausgelöst, wenn die Dinge gut laufen. Aber statt von »Schuld« spricht man dann von »Erfolg«. Wenn etwas klappt, sind wir sehr schnell dabei, es auf einen Einzelnen oder einen einfachen Grund zurückzuführen, wobei es auch hier natürlich komplizierter ist.

Wer die Welt wirklich verändern will, muss sie verstehen. Sich nur auf den Instinkt der Schuldzuweisung zu verlassen wird nicht weiterhelfen.

DAS SPIEL DER SCHULDZUWEISUNG

Beim Spiel der Schuldzuweisung treten nicht selten unsere Vorlieben zutage. Wir neigen dazu, nach bösen Jungs Ausschau zu halten, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen. Betrachten wir einmal ein paar Kandidaten eingehender, auf die wir vorzugsweise mit dem Finger zeigen: üble Unternehmen, lügende Journalisten und Ausländer.

UNTERNEHMEN

Obwohl ich eigentlich meist versuche, analytisch vorzugehen, falle ich doch immer wieder auf meine Instinkte herein. Vielleicht habe ich auch gerade zu viele Comics mit Dagobert Duck, dem reichen und raffgierigen Onkel von Donald Duck, gelesen. Früher waren meine Gedanken sicherlich genauso oberflächlich wie viele Jahre später die meiner Studenten in Bezug auf die Pharmaunternehmen. Jedenfalls wurde ich misstrauisch, als UNICEF mich bat, Nachforschungen über ein Vertragsangebot anzustellen, bei dem es um die Versorgung Angolas mit Malariatabletten ging. Die Zahlen kamen mir merkwürdig vor, und ich war überzeugt, einem Schwindel auf der Spur zu sein. Irgendein unredliches Unter­nehmen wollte UNICEF abzocken, und ich würde herausfinden, wie.

UNICEF lässt sich von pharmazeutischen Unternehmen konkurrierende Angebote unterbreiten, um sich über eine Zehn-­Jahres-Periode mit Medikamenten zu versorgen. Die Laufzeit und der Umfang der Verträge machen sie attraktiv, und deshalb sind die Firmen bereit, sehr gute Preise anzubieten. In diesem Fall jedoch hatte ein kleines Familienunternehmen namens Rivopharm, das seinen Sitz in Lugano in den Schweizer Alpen hat, ein unglaublich niedriges Angebot abgegeben: Tatsächlich lag der in Rechnung gestellte Preis pro Pille unter den Kosten des Rohmaterials.

Mein Job bestand darin, vor Ort herauszufinden, was da vor sich ging. Ich flog zuerst nach Zürich, dann mit einem kleinen Flieger weiter nach Lugano. Ich hatte erwartet, auf dem kleinen Flugplatz von einem schäbig gekleideten Vertreter abgeholt zu werden, wurde tatsächlich aber in einer Limousine sofort in das luxuriöseste Hotel gebracht, das ich je von innen gesehen habe. Ich rief Agneta zu Hause an und hauchte etwas von »seidener Bettwäsche«.

Am nächsten Morgen wurde ich zu der Fabrik gefahren, die ich inspizieren sollte. Ich schüttelte dem Direktor die Hand und kam ohne große Umschweife gleich zur Sache: »Sie kaufen die Rohstoffe in Budapest, machen daraus Pillen, packen die Pillen in Behälter und die Behälter in Schiffscontainer und lassen die nach Genua bringen. Wie können Sie all das bewerkstelligen zu einem Preis, der unter den Kosten des Rohmaterials liegt? Machen die Ungarn Ihnen einen Sonderpreis?«

»Wir zahlen den Ungarn denselben Preis wie alle anderen auch«, erwiderte er.

»Und Sie lassen mich in einer Limousine abholen. Womit verdienen Sie Ihr Geld?«

Er lächelte. »Das funktioniert so: Vor ein paar Jahren erkannten wir, dass die Robotertechnik diese Industrie verändern würde. Wir haben diese kleine Fabrik gebaut mit der von uns entwickelten schnellsten Pillenproduktionsmaschine der Welt. Auch alle anderen Prozesse sind hoch automatisiert. Die großen Pharma­fabriken arbeiten wie Handwerker im Vergleich mit uns. Wir bestellen in Budapest. Montagmorgen um sechs kommt der Wirkstoff Chloroquin hier mit dem Zug an. Bis Mittwochnachmittag ist der Jahresvorrat an Malariatabletten für Angola versandbereit abgepackt. Am Donnerstagmorgen treffen sie im Hafen von Genua ein. Der Einkäufer von UNICEF kontrolliert die Pillen und unterzeichnet den Empfang. Und noch am selben Tag geht das Geld auf dem Konto unserer Bank in Zürich ein.«

»Ach kommen Sie, Sie verkaufen sie für weniger, als Sie selbst dafür bezahlt haben.«

»Stimmt. Wir bekommen von den Ungarn 30 Tage Kredit, und UNICEF bezahlt uns bereits nach vier Tagen dieser Frist. Damit haben wir 26 Tage, an denen wir das Geld auf unserem Konto zinsbringend anlegen können.«

Wow. Mir verschlug es die Sprache. Auf so eine Option war ich noch nie gekommen.

In meinem Kopf herrschte die fixe Idee, dass bei UNICEF die guten Menschen sind und bei der Pharmaindustrie die schlechten über üblen Plänen brüten. Ich ahnte nicht im Entferntesten etwas von der innovativen Kraft kleinerer Firmen. Sie waren auch die Guten und zeigten ein fantastisches Talent für kostengünstigere Lösungen.

JOURNALISTEN

Bei Intellektuellen und Politikern ist es gerade modern, mit Fingern auf die Medien zu zeigen und ihnen vorzuwerfen, nicht die Wahrheit zu erzählen. Vielleicht hat es sogar den Anschein, dass auch ich das in den vorangegangenen Kapiteln getan habe.

Doch anstatt mit Fingern auf Journalisten zu zeigen, wäre es besser zu fragen: Warum zeigen die Medien ein solch verzerrtes Bild der Welt? Haben Journalisten wirklich die Absicht, uns ein schiefes Bild zu vermitteln? Oder könnte es dafür eine andere Erklärung geben?

(Ich möchte jetzt nicht in die Diskussion über vorsätzlich erzeugte Fake News einsteigen. Das ist etwas ganz anderes und hat mit Journalismus nichts zu tun. Und nebenbei bemerkt, ich glaube nicht, dass es Fake News sind, die die Hauptschuld an unserer verzerrten Weltsicht haben. Es ist ja nicht so, dass wir gerade erst damit angefangen hätten, die Welt misszuverstehen. Ich denke eher, dass wir das schon immer machen.)

Im Jahr 2013 stellten wir Ergebnisse aus dem Ignorance Project von Gapminder online. Die Erkenntnisse wurden sowohl bei BBC als auch bei CNN schnell zu Topthemen. Beide Kanäle posteten unsere Fragen auf ihren Websites, sodass sich die Leute selbst testen konnten, und bekamen Tausende von Kommentaren, die zu analysieren versuchten, warum zum Teufel die Leute Ergebnisse erzielten, die sogar unter der Zufallswahrscheinlichkeit lagen.

Besonders ein Kommentar erregte unsere Aufmerksamkeit: »Wetten, dass kein Vertreter der Medien den Test bestanden hat.«

Wir waren ganz begeistert von dieser Idee und beschlossen, einen solchen Test durchzuführen. Doch die Meinungsumfrage­institute meinten, es wäre nicht möglich, Zugang zu Gruppen von Journalisten zu bekommen. Deren Arbeitgeber hatten etwas dagegen, dass sie getestet würden. Das konnte ich durchaus nachvollziehen. Niemand mag es, wenn seine Autorität infrage gestellt wird, und für einen seriösen Nachrichtenproduzenten wäre es ja schon ziemlich peinlich, wenn herauskäme, dass die bei ihm beschäftigten Journalisten nicht mehr wissen als Schimpansen.

Wenn mir Leute sagen, dass dies und das unmöglich ist, dann fühle ich mich erst so richtig herausgefordert, das zu probieren. In meiner Agenda für dieses Jahr standen zwei Medienkonferenzen, und dazu nahm ich unsere Umfragegeräte mit. Ein 20-minütiger Vortrag ist zu kurz, um alle Fragen zu stellen, aber ein paar waren schon drin. Hier sind die Ergebnisse. In der Grafik rechts sind auch Resultate aufgeführt, die von einer Konferenz prominenter Dokumentarfilmproduzenten stammen, von Leuten, die bei der BBC, PBS, National Geographic, bei Discovery Channel usw. tätig sind.

Es hat den Anschein, dass diese Journalisten und Filmemacher auch nicht mehr wissen als die durchschnittliche Bevölkerung, und das ist weniger als die Schimpansen.

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Wenn dies für Journalisten und Dokumentarfilmer im Allgemeinen gilt – und ich wüsste nicht, warum andere Gruppen von Reportern ein höheres Wissensniveau haben sollten oder warum sie bei anderen Fragen besser abgeschnitten hätten –, dann sind sie nicht schuldig. Journalisten und Dokumentarfilmer lügen nicht, das heißt, sie führen uns nicht bewusst in die Irre, wenn sie dramatische Reportagen über eine zerrissene Welt produzieren oder über eine »zurückschlagende Natur« oder eine Bevölkerungskrise, über die in düsterem Ton und mit melancholischer Klavieruntermalung berichtet wird. Man darf ihnen nicht unbedingt üble Absichten unterstellen, und es bringt nichts, ihnen eine Schuld zuzuweisen. Denn die meisten Journalisten und Filme­macher, die uns über die Welt aufklären wollen, werden selbst in die Irre geführt. Man sollte Journalisten nicht dämonisieren, sie unterliegen denselben Megatrugschlüssen wie jeder andere auch.

Unsere Presse mag zwar frei und professionell und immer auf der Suche nach der Wahrheit sein, aber unabhängig ist nicht dasselbe wie repräsentativ: Selbst wenn eine Reportage komplett wahr ist, kann sie trotzdem ein verzerrtes Bild zeichnen durch die Auswahl der wahren Geschichten, die der Reporter trifft. Die Medien sind nicht neutral und können es nicht sein, und wir dürfen von ihnen auch nicht erwarten, dass sie es sind.

Die Umfrageergebnisse der Journalisten sind ziemlich katastrophal, wissenstechnisch eine richtige Bruchlandung. Den Journalisten hierfür die Schuld zuzuweisen ist genauso unzweck­mäßig, wie es das beim müden Piloten der Fall war. Stattdessen sollten wir zu verstehen versuchen, warum die Journalisten eine so verzerrte Weltsicht haben (Antwort: weil sie Menschen sind und weil Menschen eben dramatische Instinkte haben) und welche Systemfaktoren sie darin bestärken, verzerrte und überdramatisierte Nachrichten zu produzieren (unter anderem, weil sie im Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Konsumenten bestehen müssen und andernfalls ihren Job verlieren).

So gesehen, wäre es total unrealistisch und unfair, von den Medien zu verlangen, ihre Vorgehensweise zu ändern oder sich um eine bessere Wiedergabe der Realität zu bemühen. Eine fakten­basierte Weltsicht kann man von den Medien nicht erwarten. Das wäre genauso, wie wenn Sie glauben würden, Sie könnten eine Sammlung von Urlaubsschnappschüssen aus Berlin als GPS-­System benutzen, das Sie zuverlässig durch die Stadt navigiert.

FLÜCHTLINGE

Im Jahr 2015 ertranken 4000 Flüchtlinge beim Versuch, Europa in Schlauchbooten zu erreichen, im Mittelmeer. Bilder von Kinderleichen, die an die Strände von Urlaubsparadiesen gespült wurden, erregten Entsetzen und Mitleid. Was für eine Tragödie! Wir, die wir behaglich auf Stufe 4 in Europa oder sonst wo leben, fragen uns: Wie konnte so etwas geschehen? Wer ist schuld?

Schnell war uns klar, die Schurken sind die grausamen und habgierigen Schleuser, die verzweifelten Familien 1000 Euro pro Person für einen Platz in ihren aufblasbaren Todesfallen abknöpften. Mehr Gedanken machten wir uns nicht und ließen unser Gewissen von Bildern beruhigen, die europäische Rettungsschiffe zeigten, die Menschen aus der aufgewühlten See zogen.

Doch warum sind die Flüchtlinge nicht bequem im Flugzeug oder auf Fähren nach Europa gereist, sondern auf dem Landweg nach Libyen oder in die Türkei und dann unter Lebensgefahr in diesen schwabbeligen Gummibooten? Schließlich haben doch alle EU-Mitgliedsstaaten die Genfer Konvention unterzeichnet, und es war klar, dass Flüchtlinge aus dem kriegsgebeutelten Syrien deshalb auch dazu berechtigt sein würden, Asyl zu beantragen. Wenn ich Journalisten, Freunden oder Leuten, die sich um die Aufnahme von Asylsuchenden kümmerten, diese Frage stellte, bekam ich selbst von den Klügsten und Wohlwollendsten von ihnen äußerst merkwürdige Antworten.

Vielleicht konnten sie sich den Flug nicht leisten? Aber wir wissen, dass die Flüchtlinge 1000 Euro pro Platz in einem Schlauchboot bezahlten. Ich schaute im Internet nach und sah, dass es jede Menge Tickets für Flüge aus der Türkei nach Schweden oder aus Libyen nach London für weniger als 50 Euro gab.

Vielleicht schafften sie es nicht zum Flughafen? Stimmt auch nicht. Viele von ihnen waren bereits in der Türkei oder im Libanon und hätten kein Problem gehabt, zum Flughafen zu gelangen. Ein Flugticket hätten sie sich leisten können, und freie Plätze hätte es gegeben. Aber am Abfertigungsschalter wurden sie nicht durchgelassen. Warum? Wegen einer Richtlinie des Europäischen Rats aus dem Jahr 2001, die den Mitgliedsstaaten vorschreibt, was gegen illegale Einwanderung zu tun ist. In dieser Richtlinie steht, dass jede Flug- oder Fährgesellschaft, die eine Person ohne ordnungsgemäße Papiere nach Europa bringt, für alle Kosten zur Rückführung dieser Person in ihr Herkunftsland aufkommen muss. Selbstverständlich steht in dieser Richtlinie auch, dass sie nicht für Flüchtlinge gilt, die nach Europa kommen wollen und sich dazu auf ihr Asylrecht gemäß der Genfer Konvention berufen können, sondern nur für illegale Einwanderer. Aber dieser Anspruch ist bedeutungslos. Denn wie soll der Angestellte am Abfertigungsschalter einer Fluglinie innerhalb von 45 Sekunden herausfinden können, ob jemand ein Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention ist oder nicht? Das ist schlichtweg unmöglich, dafür braucht die Botschaft ja schon mindestens acht Monate. So hat die vernünftig klingende Richtlinie in der Praxis den Effekt, dass gewerbliche Fluglinien einfach niemanden ohne Visum an Bord lassen. Und ein Visum zu bekommen ist quasi unmöglich, weil die europäischen Botschaften in der Türkei und Libyen gar nicht die Ressourcen haben, um die Anträge zu bearbeiten. Syrischen Flüchtlingen, die theoretisch das Recht haben, gemäß der Genfer Konvention nach Europa zu kommen, ist es in der Praxis überhaupt nicht möglich, das Flugzeug zu nehmen, sodass ihnen nur noch der Weg über das Meer bleibt.

Warum müssen sie dann eigentlich auf solche schrecklichen Boote zurückgreifen? Auch dahinter steckt die EU-Politik, denn die Boote werden bei ihrer Ankunft konfisziert. So kann ein Boot auch nur für eine Reise benutzt werden. Selbst wenn sie wollten, könnten es sich die Schleuser nicht leisten, die Flüchtlinge ….

LERNEN SIE, DEN INSTINKT DER DRINGLICHKEIT ZU KONTROLLIEREN. SCHNÄPPCHENJÄGER, AUFGEPASST! 
NUR HEUTE!

Wenn ich gesagt bekomme, etwas müsse sofort geschehen, beginne ich zu zögern. Meistens steckt der Versuch dahinter, mich vom klaren Denken abzuhalten.

EINE ZWECKDIENLICHE DRINGLICHKEIT

FAKTENFRAGE 13

Weltklimaexperten nehmen an, über die nächsten 100 Jahre wird die durchschnittliche Temperatur …

  • ☐ A: zunehmen.
  • ☐ B: gleich bleiben.
  • ☐ C: abnehmen.

»Wir müssen Furcht erzeugen!« Das hat Al Gore zu mir gesagt, als wir uns zum ersten Mal darüber unterhielten, wie man den Klimawandel vermitteln sollte. Das war im Jahr 2009, und wir standen hinter den Kulissen einer TED-Konferenz in Los Angeles. Al Gore fragte mich, ob er die Blasendiagramme von Gapminder benutzen dürfe, um eine zukünftige Worst-Case-Auswirkung eines fortgesetzten Anstiegs der CO2-Emissionen aufzuzeigen.

Ich hatte schon damals größten Respekt vor Al Gores Verdiensten hinsichtlich der Darstellung des Klimawandels und was dagegen zu tun sei. Ich bin überzeugt, dass Sie die Faktenfrage zu Beginn dieses Abschnitts richtig beantwortet haben: Es ist die eine Frage, bei der unsere Zuhörerschaft immer über die Schimpansen triumphiert und eine überwältigende Mehrheit (von 94 Prozent in Finnland, Ungarn und Norwegen über 81 Prozent in Kanada und den Vereinigten Staaten bis zu 76Prozent in Japan) sehr gut darüber Bescheid weiß, was für ein dramatischer Klimawandel von Experten vorausgesagt wird. Dieses ausgeprägte Bewusstsein ist nicht zuletzt das Verdienst von Al Gore. Genauso verhält es sich mit dem gewaltigen Erfolg des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015. Für mich war und ist er ein Held. Ich stimmte mit ihm voll und ganz darin überein, dass der Klimawandel schnelles Handeln notwendig machen würde. Und ich war begeistert, mit ihm zusammenarbeiten zu können.

Aber ich konnte nicht billigen, was er verlangte.

Ich mag keine Angst. Die Angst vor Krieg, dazu die Panik angesichts einer Dringlichkeit ließen Bilder von einem russischen Piloten und Blut auf dem Boden vor meinem geistigen Auge auftauchen. Die Angst vor einer Pandemie, dazu die Panik angesichts von Dringlichkeit veranlassten mich, eine Straße zu sperren, ­weswegen all diese Mütter, Kinder und Fischer im Meer den Tod fanden. Angst und Dringlichkeiten führen zu dummen und drastischen Entscheidungen mit unvorhersehbaren Begleiterscheinungen. Der Klimawandel ist dafür zu wichtig. Er verlangt systematische Analyse, gut durchdachte Entscheidungen, abgestufte Aktionen und sorgfältige Bewertungen.

Auch Übertreibungen mag ich nicht. Sie unterminieren die Glaubwürdigkeit fundierter Daten. Das sind in diesem Fall Daten, die belegen, dass der Klimawandel real ist, dass er vor allem von Treibhausgasen verursacht wird, die aus menschlichen Aktivitäten wie dem Verbrennen fossiler Brennstoffe stammen, und dass es billiger wäre, jetzt zügig umfassende Maßnahmen zu ergreifen, als abzuwarten, bis ein kostspieliger und inakzeptabler Klimawandel eingetreten ist. Eine Übertreibung, ist sie erst einmal als solche erkannt, führt dazu, dass die Leute sich allesamt abwenden.

Ich bestand darauf, die Worst-Case-Linie nur dann zu zeigen, wenn auch die wahrscheinliche Linie und die Best-Case-Linie gezeigt werden. Nur das Worst-Case-Szenario herauszugreifen und, noch schlimmer, diese Linie über die wissenschaftlich begründeten Voraussagen hinaus weiterzuziehen würde weit außerhalb der Mission von Gapminder liegen, die darin besteht, die Menschen dabei zu unterstützen, grundlegende Fakten zu verstehen. Damit würde unsere Glaubwürdigkeit dazu herangezogen, einen Handlungsaufruf zu starten. Al Gore ließ nicht locker und fragte immer wieder nach den animierten angsterregenden Blasen jenseits der Vorhersagen der Experten, bis ich die Diskussion schließlich für beendet erklärte: »Mr. Vizepräsident, keine Zahlen, keine Blasen.«

Manche Aspekte der Zukunft sind leichter vorherzusagen als andere. Wettervorhersagen über mehr als eine Woche sind selten zuverlässig. Überraschend schwierig ist es auch, das Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosenzahlen eines Landes vorherzusagen. Das liegt an der Komplexität der involvierten Systeme. Wie viele Dinge benötigen Sie für Ihre Voraussage, und wie schnell ändern sie sich? Bis nächste Woche werden Milliarden von Temperatur-, Windgeschwindigkeits- und Feuchtigkeitsänderungen eingetreten sein. Bis nächsten Monat werden Milliarden von Dollar milliardenmal den Besitzer gewechselt haben.

Im Gegensatz dazu sind demografische Vorhersagen über Jahrzehnte in die Zukunft hinein erstaunlich genau, weil die beteiligten Systeme, also vor allem Geburten und Todesfälle, ziemlich einfach sind. Kinder werden geboren, wachsen auf, bekommen ebenfalls Kinder und sterben irgendwann. Jeder individuelle Zyklus dauert in etwa 70 Jahre.

Doch die Zukunft ist bis zu einem gewissen Grad immer unsicher. Und wenn wir über die Zukunft reden, sollte uns der Grad an konkreter Unsicherheit klar bewusst sein. Wir sollten nicht die dramatischsten Schätzungen herausgreifen und Worst-Case-­Szenarien präsentieren, als ob damit sicher zu rechnen wäre. Die Menschen merken das! Idealerweise sollten wir eine Durchschnittsvorhersage präsentieren sowie eine Reihe alternativer Möglichkeiten, die von den besten bis zu den schlechtesten reichen. Wenn wir bei Zahlen runden müssen, sollten wir zu unserem eigenen Nachteil runden. So schützen wir unseren guten Ruf und sorgen dafür, dass wir den Leuten nie Gründe dafür liefern, uns nicht mehr zuzuhören.

BESTEHEN SIE AUF DATEN

Al Gores Worte schwirrten nach dieser ersten Unterhaltung noch lange in meinem Kopf herum.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich bin zutiefst besorgt wegen des Klimawandels, denn ich bin überzeugt, dass er real ist, so real, wie es Ebola im Jahr 2014 war. Ich kann nachvollziehen, dass man versucht ist, seine Thesen dadurch zu untermauern, dass man die schlimmsten Prognosen heranzieht und die gewaltigen zahlenmäßigen Unsicherheiten leugnet. Doch diejenigen, denen der Klimawandel Sorgen macht, sollten auf­hören, die Menschen mit unwahrscheinlichen Szenarien zu ängstigen. Die meisten Leute wissen um das Problem und erkennen es als solches. Darauf zu insistieren hieße, offene Türen einzurennen. Es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen und nicht nur immer und immer wieder darüber zu reden. Wir sollten stattdessen diese Energie dafür benutzen, das Problem dadurch zu lösen, dass man Maßnahmen ergreift – Maßnahmen, die nicht von Angst und Dringlichkeiten getrieben sind, sondern auf Daten und nüchterner Analyse beruhen.

Was also ist die Lösung? Eigentlich ganz einfach. Jeder, der große Mengen Treibhausgase in die Luft bläst, muss damit so bald wie möglich aufhören. Und wir wissen auch, wer das ist: die Menschen auf Stufe 4, deren CO2-Emissionen auf den mit Abstand höchsten Niveaus sind. Hier müssen wir ansetzen. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass wir seriöse Daten für dieses gravierende Problem haben, damit sich unsere Fortschritte auch verfolgen lassen.

Als ich mich nach dem Gespräch mit Al Gore auf die Suche nach Daten machte, war ich doch erstaunt, wie schwer solche zu finden sind. Dank großartiger Satellitenbilder können wir die Veränderungen der arktischen Eiskappe täglich verfolgen. So kann es keinen Zweifel mehr geben, dass sie von Jahr zu Jahr mit einer besorgniserregenden Geschwindigkeit schrumpft. Damit verfügen wir über aussagekräftige Anhaltspunkte für Symptome der globalen Erwärmung. Doch überraschend wenig Daten konnte ich finden, mit denen sich die Ursache des Problems, also hauptsächlich die CO2-Emissionen, verfolgen ließe.

Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf wird in Ländern auf Stufe 4sorgfältig dokumentiert, und die offiziellen Zahlen werden in einem vierteljährlichen Rhythmus aktualisiert. Doch Daten hinsichtlich der CO2-Emissionen wurden nur ein Mal alle zwei Jahre veröffentlicht. Deshalb fing ich an, die schwedische Regierung zu Verbesserungen aufzufordern. Und im Jahr 2009 begann ich, mich mit Lobbyarbeit für eine vierteljährliche Veröffentlichung der Treibhausgasdaten einzusetzen. Wenn uns das Problem so wichtig ist, warum messen wir es dann nicht? Wie können wir behaupten, dass wir das Problem ernst nehmen, wenn wir nicht einmal unsere Fortschritte verfolgen?

Ich bin sehr stolz darauf, dass Schweden – als erstes und bisher einziges Land – seit 2014 die Daten zu den Treibhausgasen vierteljährlich herausgibt. Das ist Factfulness in Aktion. Südkoreanische Statistiker waren kürzlich in Stockholm zu Besuch, um sich zu informieren, wie sich das auch bei ihnen umsetzen ließe.

Der Klimawandel ist ein viel zu großes globales Risiko, als dass man ihn ignorieren oder leugnen dürfte. Und die große Mehrheit der Menschen, die auf Stufe 4 leben, wissen das auch. Aber das Thema ist auch viel zu wichtig, als dass man ihm mit grenzwertigen Worst-Case-Szenarien begegnen oder es Weltuntergangspropheten überlassen sollte.

Wenn Sie zum Handeln aufgefordert werden, kann die sinnvollste Handlung manchmal darin bestehen, die Datenlage zu verbessern.

EINE ZWECKDIENLICHE FURCHT

Beim Thema Klimawandel dominieren nach wie vor die schrillen Töne. Viele Aktivisten, die ihn für das einzige wichtige globale Problem halten, haben sich darauf versteift, alles aufs Klima zu schieben und in ihm die einzige Ursache für alle anderen globalen Probleme zu sehen.

Sie greifen schockierende tagesaktuelle Themen auf – wie den Krieg in Syrien, ISIS, Ebola, HIV, Haiattacken, es gibt fast nichts, was nicht dafür herhalten müsste –, um das Gefühl der Dringlichkeit für das langfristige Problem zu intensivieren. Manchmal basieren die Forderungen auf streng wissenschaftlichen Belegen, häufiger jedoch auf weit hergeholten und unbewiesenen Hypothesen. Ich kann die frustrierten Gefühle von Leuten, die sich darum bemühen, zukünftige Risiken in der Gegenwart konkret spürbar zu machen, durchaus nachempfinden, doch ihre Methoden kann ich nicht gutheißen.

Was ich für besonders bedenklich halte, ist der Versuch, mit der Erfindung des Begriffs »Klimaflüchtlinge« Aufmerksamkeit für das Thema zu erregen. Nach meinem Kenntnisstand ist die Verknüpfung von Klimawandel und Migration äußerst schwach. Wenn von Klimaflüchtlingen gesprochen wird, handelt es sich meistens um eine absichtliche Übertreibung, mit der die Angst vor Flüchtlingen in die Angst vor dem Klimawandel umgewandelt und eine beträchtlich breitere Basis öffentlicher Unterstützung für eine Absenkung des CO2-Ausstoßes erreicht werden soll.

Wenn ich Klimaaktivisten meine Bedenken schildere, bekomme ich häufig zu hören, dass das Erregen von Furcht und Dringlichkeit durch übertriebene und nicht belegte Annahmen gerechtfertigt sei, weil es keine andere Möglichkeit gebe, die Leute zum Handeln angesichts zukünftiger Risiken zu bewegen. Die Klima­aktivisten haben sich selbst davon überzeugt, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und ich muss zugeben, dass das auf kurze Sicht funktionieren könnte. Aber …

Wer zu oft »Wolf« ruft, setzt seine Glaubwürdigkeit und seinen Ruf als seriöser Klimaforscher aufs Spiel sowie den Ruf der ganzen Bewegung. Bei einem so gewaltigen Problem wie dem des Klimawandels darf das einfach nicht geschehen. Die Rolle des Klimawandels zu überzeichnen und ihn mit Kriegen und Konflikten, mit Armut und Migration in Zusammenhang zu bringen bedeutet auch, andere wichtige Ursachen dieser globalen Probleme zu ignorieren und unsere Fähigkeit, diesen zu begegnen, zu schwächen. Wir dürfen nicht in eine Situation geraten, in der wir einander nicht mehr zuhören. Ohne Vertrauen sind wir verloren.

Und in hitzköpfigen Behauptungen verheddern sich oft gerade die Aktivisten, die sie ins Feld geführt haben. Die Aktivisten rechtfertigen sie als clevere Strategie, um das Engagement der Menschen zu steigern, vergessen dann jedoch, dass es sich um Übertreibungen handelt und auf diese Weise realistische Lösungen aus dem Blick geraten. Wer sich seriös mit dem Klimawandel befassen will, muss immer zwei Dinge im Kopf behalten: Man muss sich immer weiter mit dem Problem befassen, darf aber nie zum Opfer der eigenen frustrierten und alarmierenden Botschaften werden. Man darf einerseits die Augen vor den Worst-Case-Szenarien nicht verschließen, muss aber andererseits auch um die Unsicherheit der Datenlage wissen. Und wer anderen Dampf machen will, muss trotzdem kühlen Kopf behalten, um kluge Entscheidungen treffen zu können und seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.

EBOLA

In Kapitel 3 habe ich geschildert, wie ich 2014 zu lange gebraucht habe, um die Gefahren des Ebola-Ausbruchs in Westafrika zu verstehen. Erst als ich erkannte, dass die Trendlinie sich exponentiell verdoppelnd verlief, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. So dramatisch und angsteinflößend die Situation auch war, ich war entschlossen, aus meinen Fehlern in der Vergangenheit zu lernen und mich nicht von Instinkten und Ängsten leiten zu lassen, sondern von den Daten.

Die Zahlen hinter der offiziellen »Verdachtsfälle«-Kurve der Weltgesundheitsorganisation und der US-amerikanischen Zen­tren für Krankheitskontrolle und Prävention (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) waren alles andere als abgesichert. Mit Verdachtsfällen sind die Fälle gemeint, die nicht bestätigt wurden. Dabei entstanden die verschiedensten Probleme. Beispielsweise wurden Leute, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt für mit Ebola infiziert hielt, die aber dann, wie sich später herausgestellt hat, an einer anderen Sache gestorben waren, weiter zu den Verdachtsfällen gezählt. Je mehr die Angst vor Ebola wuchs, umso mehr griff auch Argwohn um sich, und immer mehr Menschen wurden zu »Verdächtigen«. Als die regulären Gesundheitsdienste unter dem Gewicht der Ebola-Belastung einknickten und Ressourcen von der Behandlung anderer lebensbedrohlicher Krankheiten abgezogen werden mussten, starben immer mehr Leute aus Gründen, die nichts mit Ebola zu tun hatten. Auch viele dieser Todesfälle wurden zu den »Verdächtigen« gerechnet. Auf diese Weise lief die ansteigende Kurve der Verdachtsfälle immer mehr aus dem Ruder und hatte immer weniger Aussagekraft hinsichtlich des Trends der tatsächlichen bestätigten Fälle.

Wenn sich Fortschritte nicht verfolgen lassen, kann man auch nicht wissen, ob die ergriffenen Maßnahmen funktionieren. Als ich im Gesundheitsministerium von Liberia eintraf, erkundigte ich mich als Erstes danach, wie wir ein Bild von der Zahl der bestätigten Fälle bekommen könnten. Nach kurzer Zeit fiel mir auf, dass Blutproben an vier verschiedene Labore geschickt wurden und deren Aufzeichnungen, die aus langen und chaotischen Excel-Tabellen bestanden, nicht miteinander kombiniert wurden. Wir hatten Hunderte von Mitarbeitern aus dem Gesundheitswesen, die aus allen Teilen der Welt eintrafen, um sich nützlich zu machen. Es gab Software-Entwickler, die ständig mit neuen unnützen Ebola-Apps daherkamen. (Apps waren irgendwie ihr Hammer, für den Ebola als Nagel gerade recht kam.) Aber niemand verfolgte, ob eine Aktion griff oder nicht.

Ich erhielt die Erlaubnis, die vier Excel-Tabellen nach Stockholm zu schicken, wo Ola dann 24 Stunden damit zubrachte, sie von Hand zu bereinigen und zu kombinieren. Dann führte er dieselbe Prozedur noch einmal durch, damit sichergestellt wäre, dass es sich bei der merkwürdigen Sache, auf die er gestoßen war, nicht um einen Fehler handelte. Und tatsächlich, es war keiner. Wenn ein Problem sehr dringend zu sein scheint, dann sollte man nicht als Erstes »Wolf« rufen, sondern die Daten organisieren. Zur Überraschung aller zeigten die Daten, dass die Zahl der bestätigten Fälle bereits vor zwei Wochen ihren Höhepunkt erreicht hatte und jetzt im Sinken begriffen war. Die Zahl der Verdachtsfälle stieg aber weiter an. Tatsächlich hatten die Liberianer inzwischen ihr Verhalten erfolgreich geändert und auf jeden unnötigen Körperkontakt verzichtet. Es gab kein Händeschütteln mehr und keine Umarmungen. Dies und das strikte Einhalten der Hygienemaßnahmen, die in Geschäften, öffentlichen Gebäuden, Rettungsfahrzeugen, Kliniken, Begräbnisstätten und überall sonst angeordnet wurden, hatten bereits den erhofften Effekt. Die Strategie funktionierte, doch solange Ola mir die Kurve noch nicht zugesandt hatte, wusste das niemand. Das wurde gefeiert, und dann machten sich alle wieder an die Arbeit. Wir fühlten uns ermutigt, jetzt noch intensiver zu arbeiten, da wir wussten, dass das, was wir taten, wirklich funktionierte.

Ich schickte die fallende Kurve an die Weltgesundheitsorganisation, von der sie in ihrem nächsten Report veröffentlicht wurde. Doch die CDC bestanden auf der steigenden Kurve der »Verdachtsfälle«. Man glaubte, man müsse ein Gefühl der Dringlichkeit bei den Leuten aufrechterhalten, die für die Zuteilung von Ressourcen verantwortlich waren. Mir war schon klar, dass man sich von den besten Absichten leiten ließ, aber es bedeutete, dass Geld und andere Ressourcen in die falschen Kanäle flossen. Und was noch schlimmer war: Es bedrohte die langfristige Glaubwürdigkeit von epidemiologischen Daten. Das soll jetzt keine Schuldzuweisung sein. So, wie ein Weitspringer nicht seine eigenen Sprünge messen darf, sollte auch eine Organisation, deren Aufgabe darin besteht, Probleme zu lösen, nicht darüber entscheiden dürfen, welche Daten veröffentlicht werden sollen. Die Menschen, die sich vor Ort um Probleme kümmern und immer zusätzliche Mittel wünschen, sollten nicht auch die sein, die die Fortschritte messen. Das kann nämlich wirklich irreführende Zahlen hervorbringen.

Es waren Daten – und zwar die, die zeigten, dass die Verdachtsfälle sich alle drei Wochen verdoppelten –, die mir bewusst machten, wie schlimm die Ebola-Krise war. Und wieder waren es Daten – und diesmal die, die zeigten, dass die bestätigten Fälle jetzt im Fallen begriffen waren –, die mir vor Augen führten, dass die eingeleiteten Maßnahmen funktionierten. Daten waren der absolute Schlüssel. Und da sie auch in Zukunft der Schlüssel sein werden, wenn es irgendwo erneut zu einem Ausbruch kommt, ist es von zentraler Bedeutung, ihre Glaubwürdigkeit zu schützen und auch die Glaubwürdigkeit derer, die die Zahlen produzieren. Daten müssen dazu verwendet werden, die Wahrheit zu sagen, und nicht dazu, zum Handeln aufzufordern, ganz egal, wie nobel die Absichten sind.

DRINGEND! LESEN SIE DIES SOFORT!

Kaum etwas verzerrt die Weltsicht so sehr wie Dringlichkeit. Ich weiß, das habe ich von den anderen dramatischen Instinkten wohl auch schon behauptet, aber dieser tut es wirklich in besonderem Maße. Vielleicht könnte man auch sagen, in diesem hier
kommen alle anderen zusammen. Die über dramatisierte Weltsicht in den Köpfen der Menschen erzeugt ein permanentes Gefühl von Krise und Stress. Genauso führt das bedrängende »Jetzt oder nie«-Empfinden zu Stress oder auch zu Apathie. »Wir müssen etwas Besonderes tun. Ja nicht analysieren, Hauptsache, man tut etwas.« Oder: »Es ist alles so hoffnungslos. Wir können nichts tun. Am besten, wir geben auf.« Beide Male hören wir auf zu denken, lassen uns von unseren Instinkten leiten und treffen schlechte Entscheidungen.

DIE FÜNF GLOBALEN RISIKEN, DIE UNS BEUNRUHIGEN SOLLTEN

Ich streite keineswegs ab, dass es akute globale Risiken gibt, um die wir uns kümmern müssen. Ich bin kein Optimist, der die Welt durch die rosarote Brille sieht. Ich versuche nicht, zur Ruhe zu kommen, indem ich meine Augen vor Problemen verschließe. Die fünf Gefahren, die mich am meisten beunruhigen, sind die Risiken einer globalen Pandemie, eines Finanzkollapses, eines Weltkriegs, des Klimawandels und extremer Armut. Warum sind es gerade diese Probleme, die mir die größten Sorgen machen? Weil es die sind, deren Eintritt am wahrscheinlichsten ist: Die ersten drei haben sich schon einmal ereignet, und die beiden anderen sind zurzeit in vollem Gange. Und weil jedes das Potenzial hat, entweder direkt oder indirekt Massenelend dadurch zu verursachen, dass der zivilisatorische Fortschritt für viele Jahre oder Jahrzehnte unterbrochen wird. Wenn wir hier versagen, wird nichts mehr funktionieren. Es handelt sich hier um Megakiller, die wir unbedingt verhindern müssen, und wenn irgend möglich dadurch, dass wir kooperieren und schrittweise agieren.

(Es gibt noch einen sechsten Kandidaten für diese Liste. Es ist das unbekannte Risiko. Es ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas, an das wir noch gar nicht gedacht haben, Leid und Verwüstung verursachen könnte. Das ist ein ernüchternder Gedanke. Während es völlig sinnlos ist, sich über etwas Unbekanntes Sorgen zu machen, von dem wir nicht wissen, wie ihm beizukommen wäre, müssen wir trotzdem neuen Risiken gegenüber aufgeschlossen bleiben, damit wir ihnen begegnen können.)

GLOBALE PANDEMIE

Die Spanische Grippe, die sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs über die ganze Welt ausbreitete, tötete 50 Millionen Menschen und damit mehr, als dem Krieg zum Opfer fielen, zum Teil aber auch deswegen, weil die Bevölkerungen nach vier Kriegsjahren bereits sehr geschwächt waren. Dadurch stürzte die globale Lebenserwartung um zehn Jahre ab, von 33 auf 23, wie man an der Delle in der Kurve auf Seite 72 erkennen kann. Seriöse Experten für Infektionskrankheiten stimmen darin überein, dass ein neuer aggressiver Grippetyp die größte Bedrohung für die globale Gesundheit darstellt. Der Grund dafür ist der Übertragungsweg der Grippe. Denn sie fliegt in kleinen Tröpfchen durch die Luft. Eine infizierte Person in der U-Bahn kann alle Mitreisenden im Waggon anstecken, ohne dass man sich gegenseitig berührt oder dasselbe angefasst hätte. Eine durch die Luft übertragene Krankheit wie die Grippe, die sich sehr schnell ausbreiten kann, stellt für die Menschheit eine größere Bedrohung dar als Ebola oder HIV/Aids. Uns auf jede erdenkliche Weise vor einem Virus zu schützen, der hochgradig übertragbar ist und gegen den alle Abwehrkräfte machtlos sind, ist, gelinde gesagt, jede Mühe wert.

Die Welt ist besser gegen die Grippe gerüstet, als sie es in der Vergangenheit war. Doch die Menschen auf Stufe 1 leben noch in Gesellschaften, in denen es schwierig werden könnte, rasch gegen eine sich aggressiv ausbreitende Krankheit vorzugehen. Wir müssen dafür sorgen, eine medizinische Grundversorgung für jeden und überall sicherzustellen, damit ein Ausbruch schneller entdeckt würde. Und wir brauchen eine starke und solide Weltgesundheitsorganisation zur Koordinierung einer globalen Reak­tion.

FINANZKOLLAPS

In einer globalisierten Welt sind die Konsequenzen von Spekulationsblasen verheerend. Sie können zum Zusammenbruch von ganzen Volkswirtschaften führen und zahllose Menschen arbeitslos machen. Enttäuscht könnten die sich dann leicht radikalen Lösungen zuwenden. Ein wirklich großer Bankenkollaps könnte die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund reißen und damit schlimmere Folgen haben als die globale Finanzkrise von 2008, die von einer Immobilienpleite in den USA ausgelöst wurde.

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